Ein enorm produktiver Kritiker seiner Zeit

Sibylle Schönborn, Simone Zupfer und Fabian Wilhelmi publizieren Band 2 und 3 der „Kritischen Edition“ von Max Herrmann-Neißes Kritiken und Essays

Von Werner JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Jung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach der Veröffentlichung des 1. Bandes (besprochen in literaturkritik.de 03/2022) im letzten Jahr sind nun rasch hintereinander zwei weitere Bände Kritiken und Essays von Max Herrmann-Neiße erschienen. Damit ist diese überaus verdienstvolle Ausgabe abgeschlossen, 837 Texte liegen in drei stattlichen Bänden vor. Während Band 2 insgesamt 254 Beiträge aus den Jahren 1920-1924 umfasst, enthält Band 3, der die Jahre 1925-1939 abdeckt, 340 überlieferte Texte – wie in Band 1 schon bedeutet das: sowohl nachgewiesene als auch nicht nachgewiesene gedruckte Texte sowie Typoskripte aus dem Nachlass.

Man kann sich durchaus festlesen in diesen Texten, aber auch in flanierender Einstellung diese Bände bloß durchstreifen und begegnet dabei einem Schriftsteller, der sich selbst immer gerne als Lyriker gesehen hat, zugleich aber ein enorm produktiver Kritiker seiner und in seiner Zeit gewesen ist. Im Anschluss und unter häufigen Bezügen auf das verehrte Vorbild Alfred Kerr, dem er in einer Reihe von Artikeln gedankt hat, deckt Max Herrmann-Neiße ein weites Feld in seinen Rezensionen und – je nach Publikationsort – auch größeren Essays ab. Allem anderen voran beschäftigt er sich mit aktueller deutschsprachiger Gegenwartsliteratur, wobei er sämtliche Gattungen und Formen berücksichtigt; daneben interessiert ihn auch die internationale Literatur in Übersetzungen. Hinzu kommen noch zahllose Artikel, die sich mit dem (traditionellen) Theater, vor allem aber auch mit dem ihm seit Breslauer Studienzeiten vertrauten Kabarett beschäftigen. Vereinzelte Texte zur bildenden Kunst (hier insbesondere zu expressionistischen Malern und Zeichnern) finden sich; schließlich wird die Ausgabe abgerundet durch einige ins Grundsätzliche ausgreifende Beiträge zur Politik wie auch zur politischen (linken) Theorie sowie durch kleinere Texte, die als Antworten auf Umfragen entstanden sind und die man gewiss zum Teil als autobiographische Prosa ansprechen kann.

Angesichts der Masse an Artikeln muss man sich Max Herrmann-Neiße – der das Kritikgeschäft lediglich als Brotarbeit bezeichnet hat, dabei aber ein überaus geschickter Netzwerker gewesen ist – als Vielleser und -schreiber vorstellen. Zugleich ist er ein Kritiker, der es sehr ernst meint und nicht den Presseorganen mit ihren entsprechenden Publika hinterherschreibt. Ästhetische Kriterien sowohl bei der Beurteilung von Texten als auch beim Theater oder im Kabarett sind für Herrmann-Neiße ebenso wichtig wie die grundsätzliche (ethische und politische) Haltung des Künstlers dahinter, die er in seinen Kritiken jeweils bemüht ist herauszuschälen. Wie ein Leitmotiv zieht sich seit frühen Besprechungen bis zu letzten Arbeiten aus dem Exil (unter quälenden Umständen) die Ablehnung von Seichtigkeit und polierter Oberfläche oder kommoder Liebedienerei an den Zeitgeist. Als Beispiel lässt sich hier etwa eine Rezension über Otto Flakes Erzählband aus dem Jahre 1923 heranziehen. Max Herrmann-Neiße kommen diese Erzählungen „zwittrig“ vor, „ihrer Form und ihrem Inhalt nach.“ Die Form habe „bald etwas Journalistisch-Anekdotisches, bald die Geste tieferer Bedeutung“ an sich, „ist bald durchschnittliche Unterhaltung, bald wirkliche geistige Straffung. Niemals aber fühlte ich mich ehrlich überwältigt, mit dem Herzen oder Hirn mitgerissen, immer blieb es distanzierte Literatur, […].“ Und Arnolt Bronnen, demgegenüber Herrmann-Neiße stets kritisch, ja skeptisch bis ablehnend gegenüber stand, wirft er einmal – nach dem Erscheinen von dessen Lustspiel Die Exzesse 1923 – ein „renommistisches Auftrumpfen mit unverblümten Ausdrücken [vor], mit phallischer Raserei, was aber alles etwas peinlich an Nacktkultur, Wandervogelgetue mit Reinheits-Schmus und Schollenbiederkeit grenzt, eine Primitivität und Ungeniertheit, die sich nach Applaus umschauen, burschikos wirken.“ Was Herrmann-Neiße andererseits überaus schätzt, sind solche AutorInnen, die – sei’s in Prosa, Lyrik, Dramatik oder auf der Bühne – eine „Kunst ohne Verstellung“ hervorbringen, wie er über seinen alten Kindheits- und Jugendfreund Franz Jung urteilt. Überhaupt dienen ihm die Werke des Freundes, die er in zum Teil enthusiastischen Besprechungen oder umfangreichen Essays empfiehlt, dazu, auf einen neuen proletarischen Schriftstellertypus hinzuweisen. Vorweggenommen habe diesen Typus im 19. Jahrhundert bereits Émile Zola, insbesondere mit dem 20-bändigen Romanzyklus Les Rougon-Macquart, worin Zola eine Familiengeschichte aus dem II. Kaiserreich porträtiert. Herrmann-Neiße, der 1925 für Franz Pfemferts Buchreihe Der Rote Hahn einen Großessay unter dem Titel „Dichter für das revolutionäre Proletariat: Émile Zola“ geschrieben hat, widmet sich drei Romanen aus dem Zyklus, um daran nicht zuletzt die besondere Bedeutung des Naturalisten für die „aktuelle Gegenwart“ in Deutschland wie Westeuropa aufzuzeigen, weil sie nämlich, seiner Meinung nach, die

drei Voraussetzungen des Übels festhämmern: die verräterische, gewissenlose Praktik der nach Einfluß, Reichtum, Macht um jeden Preis (den andere zu zahlen haben) Gierenden; den würde- und bedenkenlosen Tanz ums goldene Kalb, um die augenblickliche Genußmöglichkeit, den die zur Herrschaft Gelangten aufzuführen pflegen; den kirchlichen Köder, die Verquickung von Geschlechtlichem mit anmaßend Moralischem, wodurch die Autoritätsgläubigen vollends in Schrecken gehalten werden.

Andere Autoren, die für Herrmann-Neiße ganz ähnliche Bedeutung haben und denen er mit weiteren (freilich nicht realisierten) Bändchen Aufmerksamkeit verschaffen möchte, sind Octave Mirbeau, Charles-Louis Philippe, Anatole France, Andersen Nexø, Gorki, Sinclair und Carl Sternheim, wobei er dann noch das zeichnerische und malerische Werk von u.a. Daumier, Masereel, Grosz und Dix hinzufügt.

Um in zeitgenössischer Diktion zu bleiben, ließe sich durchaus von einem Begriff wie ‚Parteilichkeit‘ sprechen, allerdings nicht in jenem eingeschränkt-marxistischen Sinne von Partei, also Parteiliteratur (Lenin), sondern in jenem erweiterten Parteiverständnis, das ‚Partei ergreifen‘ – mithin Engagement – für den Humanismus, ethisches und politisches Empfinden und die Einsicht in die Notwendigkeit grundsätzlicher politischer Veränderungen meint. Alles Dinge, die sich für Herrmann-Neiße nach den Erfahrungen des 1. Weltkrieges und der schwierigen, unübersichtlichen Gemengelage während der Weimarer Republik mit Notwendigkeit aufdrängen. Aber er stellt den Aspekt des Politischen keineswegs über alles, sondern – Künstler, der er ist – richtet sein Augenmerk immer auch auf die ästhetische Gestaltung und – mit Blick auf die Literatur – die zugrundeliegende Poetik. Mit sicherem Gespür erkennt er etwa literarische ‚Newcomer‘ wie Joseph Roth („Dichtungen von Niveau und selbständigem Reiz“), dessen Büchern er attestiert, „auf festem Boden“ zu stehen, „heutig, mit der Wirklichkeit vertraut“ zu sein, Irmgard Keun (Gilgi) mit ihrem Humor oder auch – schon früher – Hermynia zur Mühlen, in deren Märchentravestie (Was Peterchens Freunde erzählen) Herrmann-Neiße „eine proletarische Kunst im guten Sinne des Wortes“ am Werk sieht. Herrmann-Neiße scheut andererseits auch nicht die Auseinandersetzung bzw. zettelt diese sogar an. So im Fall von Hans Grimm, vor dessen perfider völkischer Ideologie aus Volk ohne Raum er als „gekonnter Barbarei“ warnt. Oder auch mit Blick auf Gottfried Benn, dessen innovativer Ästhetik er mehrfach Respekt zollt:

Es gibt Gottfried Benn. Den absonderlichen Ausnahmefall eines Dichters, der nur dann sich äußert, wenn er wirklich Etwas zu sagen hat. Der mitten in der Gegenwart steht, so dicht an den Fragen des Alltags, daß er bald mit einer Postbeamtenclique Krach bekommt, bald bei den eigenen Fachkollegen aneckt, und doch auch in den ewigen Raum des elementar Mytischen reicht.

Nach Benns Kniefall vor dem Faschismus wendet sich Herrmann-Neiße indigniert vom zuvor Bewunderten ab und stellt in einem Brief seinen eigenen Irrtum fest: „Der Benn ist für mich eine einzige schmerzliche Scham und Widerlichkeit!“

Aus der Lektüre von Herrmann-Neißes Kritiken und Essays, das fassen Fabian Wilhelmi und Sibylle Schönborn in ihrem Nachwort in Band 3 noch einmal bündig zusammen, erkennen die heutige Leserin und der heutige Leser in der literarischen und insgesamt kulturellen Situation des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts eine merkwürdige Melange, eine „Gleichzeitigkeit von Gegensätzen und Widersprüchen“, als „Pendelbewegung zwischen Traditionalismus und Moderne, politisch engagierter Literatur und Ästhetizismus, tagespolitischen Literaten oder Dichtern qua Schöpferindividualität, Großstadtliteratur und Regional- bzw. Heimatdichtung, elitärer Kunst und Unterhaltungskultur.“ Und gleichsam als Fazit ihrer exzellenten editorischen Arbeiten halten die HerausgeberInnen schließlich fest:

Die Bedeutung seines publizistischen Schaffens, wie es mit dieser Edition in seinem vollständigen Umfang und seiner zeitlichen Entwicklung nachvollziehbar wird, zeigt sich daran, dass Herrmann nicht nur über den gesamten Zeitraum von 1909 bis 1939 die vielen unterschiedlichen nebeneinander existierenden und konkurrierenden ästhetischen Programme und künstlerischen Strömungen sowohl als Protagonist aktiv mittvollzieht als auch als professioneller Beobachter reflektiert und kritisch kommentiert, sondern dass er die behaupteten Gegensätze aushaltend grundsätzlich eine Position der Ambivalenz behauptet. Diese bewegt sich zwischen dem harmonischen Ausgleich von Gegensätzen und einer höchst individuellen Mischung von scheinbar diametral Entgegengesetztem, von Unterhaltungskunst und Ästhetizismus, Dichter und Gebrauchsschriftsteller, engagierter Kunst und ästhetischem Kunstwerk in einer Pendelbewegung, die zugleich für seine eigene literarische Produktion wie seine Praxis der Kritik als einzige Konstante prägend bleibt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Max Herrmann-Neiße: Kritiken und Essays. Band 2: 1921-1924.
Herausgegeben von Sibylle Schönborn und Simone Zupfer unter Mitwirkung von Beata Giblak, Madlen Kazmierczak und Fabian Wilhelmi.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2021.
810 Seiten, 178 EUR.
ISBN-13: 9783849817640

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Max Herrmann-Neiße: Kritiken und Essays. Band 3: 1925-1939.
Hg. von Sibylle Schönborn und Fabian Wilhelmi unter Mitwirkung von Hendrik Cramer, Beata Giblak, Verena Rheinberg und Simone Zupfer.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2022.
1100 Seiten, 178,00 EUR.
ISBN-13: 9783849818135

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