Fachleute für menschliche Leiden

Anmerkungen zu einem Thema ohne Grenzen: Der Arzt und die Literatur oder Die Rebellion gegen die Vergänglichkeit (1986)

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Die Medizin ist unter den menschlichen Torheiten eine der ärgsten. Zwar können die Ärzte die Krankheiten unterscheiden und benennen, „doch was das Heilen betrifft, davon haben sie keine Ahnung“. Deshalb sterben die meisten Menschen nicht an ihren Leiden, sondern an den Medikamenten.

Derartiges ist in einer der großen Komödien der Weltliteratur zu lesen, in Molières „Eingebildetem Kranken“, uraufgeführt 1673. Heute freilich fällt es etwas schwer, sich über das berühmte Stück zu amüsieren. Denn wir sind natürlich viel klüger geworden – und so wissen wir auch, dass jener Argan, der seiner Umwelt und sich selber das Leben zur Hölle macht, weil er sich fortwährend einbildet, krank zu sein, tatsächlich schwer krank ist und von schrecklicher Todesangst gequält wird. Er leidet an chronischer Hypochondrie, er ist wohl ein Neurotiker.

Aber der geniale Franzose hat die Mediziner mit dieser Komödie nicht nur verspottet; er hat sie auch auf ungeheuerliche Weise herausgefordert. Er wagte es, seinen bedauernswerten Helden erklären zu lassen: „Der Molière ist doch ein unverschämter Kerl … Wenn ich Arzt wäre – ich würde mich schon rächen, und wenn er krank würde, dann ließe ich ihn ohne Hilfe sterben.“ Und er selber sprach diese Worte, denn er spielte den Argan – der Hypochonder gehörte zu seinen Lieblingsrollen.

Allerdings war er in dieser Rolle nur viermal zu sehen. In der vierten Aufführung wurde aus dem Spiel unversehens Ernst: Molière, der einen angeblich gesunden Menschen darzustellen hatte, war in Wirklichkeit todkrank. Im dritten Akt brach er zusammen und starb kurz darauf – im Kostüm des „eingebildeten Kranken“. Noch der Tod des Komödienschreibers und leidenschaftlichen Komödianten mutet wie ein theatralischer Effekt an, wie ein glänzender Gag, nur eben ein makabrer.

Von Ärzten ist in der Literatur seit eh und je die Rede. Es gibt sie im Alten Testament und, noch häufiger, im Neuen. Viele Priester füngierten als Heilkundige, Jesus hat sich gelegentlich als Arzt verstanden und sogar so bezeichnet. Ärzte kommen bei Homer vor, bei Sophokles und bei Aristophanes. Von Ärzten hören wir im Nibelungenlied und erst recht in den großen Epen des Wolfram von Eschenbach und des Gottfried von Straßburg.

Auch war es damals, als Molière seine Lustspiele schrieb, längst üblich, über die Mediziner und solche, die als Mediziner gelten wollten, herzuziehen und sie dem Gelächter des Publikums auszusetzen. Er folgte einer schon alten Tradition des Theaters und der Literatur und übernahm ohne Reue nicht wenige zu Klischees erstarrte Vorstellungen. In unzähligen Schwänken, Farcen und Fastnachtsspielen sowie in allerlei Epigrammen und Lehrgedichten wurden die Ärzte, kaum dass die Gutenberg-Presse erfunden war, als Nichtskönner und, schlimmer noch, als geldgierige Betrüger attackiert und verhöhnt.

Die originellsten deutschen Satiriker des 15. und des 16. Jahrhunderts, Thomas Murner etwa und sein noch bedeutenderer Vorgänger, Sebastian Brant, der Autor des „Narrenschiffes“, hielten die Ärzte in der Regel für Scharlatane und sogar für Mörder. Und so blieb es lange Zeit: Beinahe immer war der Medikus ein aufgeblasener Wichtigtuer, der seine Unfähigkeit und seine Verantwortungslosigkeit mit würdevollem Habitus und mit vielen, meist lateinischen oder griechischen Vokabeln zu verschleiern suchte.

Warum ist dieses Bild so böse und düster, warum wurde der Arzt als Geck ausgegeben, als eine niederträchtige oder zumindest lächerliche Figur diskreditiert? Gogol hat seiner Komödie „Der Revisor“ ein altes russisches Sprichwort als Motto vorangestellt: „Beschimpfe nicht den Spiegel, wenn dein Gesicht schief ist.“ So suche man auch in diesem Fall die Schuld nicht bei der Literatur, vielmehr beim erbärmlichen Zustand der damaligen Heilkunde. Alle haben unter ihr gelitten, alle waren früher oder später auf jene angewiesen, die vorgaben, den Kranken helfen zu können. Erst mit der Entwicklung der Medizin im späten 18. Jahrhundert veränderte sich auch das Bild des Arztes in der Literatur – doch nicht gleich und nicht unbedingt zu seinen Gunsten.

Im frühen 19. Jahrhundert finden wir im Roman und wenig später auch im Drama eine neue Figur: Der geschwätzige Kurpfuscher, der den Patienten nur ausbeuten will, und der eitle Pseudowissenschaftler, der ihn ebenfalls nicht heilen kann, werden nun von dem mehr oder weniger gebildeten, doch stets ehrgeizigen Mediziner abgelöst, in dem das alte Unglück auf andere Weise Urständ feiert. Denn auch ihm ist an der Genesung des Kranken nur wenig gelegen: Dieser ist für ihn bloß das Objekt einer so dubiosen wie skurrilen Forschung.

Der Held des Romans „Doktor Katzenbergers Badereise“ von Jean Paul bezieht alles im Leben auf sein Spezialgebiet, die Anatomie. Immer und überall sucht er Missgeburten und spart weder Geld noch Zeit, um Monstrositäten aufzutreiben; sie sollen seiner Wissenschaft dienen. Fragt sich nur, ob diese Wissenschaft noch dem Menschen nützt oder vielleicht nur Selbstzweck ist. Jean Paul sah schon 1809 die verheerenden Folgen einer zwar passionierten, doch gar zu radikalen Arbeitsteilung, eines so gefährlichen wie inhumanen Spezialistentums. Zumindest ist Doktor Katzenberger, so will es mir scheinen, der erste medizinische Fachidiot der deutschen Literatur.

Kein Zweifel, dieser Arzt ist eine abstoßende Figur. Gleichwohl hat der Anatom Johann Friedrich Meckel aus Halle 1815 sein Werk über Mißgeburten Jean Paul gewidmet und ihm ausdrücklich für die Gestalt des Doktor Katzenberger gedankt. Hat er sie missverstanden? Ich glaube es nicht. Der Mann aus Halle mag richtig bemerkt haben, dass die bewusste Entstellung, die Karikatur, ein wichtiger und keineswegs destruktiver Faktor der Literatur ist. Dass sich also hinter Jean Pauls scharfer Kritik, hinter seinem grimmigen Spott nichts anderes verbirgt als das Positive – nämlich der Wunsch nach einer anderen Wissenschaft, die Hoffnung auf eine, wenn ich so sagen darf, humane Humanmedizin. Dieser Doktor Katzenberger hatte in der deutschen Literatur der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zahlreiche Nachfolger; den vielleicht berühmtesten zeichnete knapp und prägnant ein Autor, der sich 1836 in Zürich als Privatdozent für vergleichende Anatomie habilitiert hatte: Doktor Georg Büchner. Der im Mittelpunkt seines „Woyzeck“ stehende Soldat und Barbier wird von einem fanatischen Mediziner, der auf der Suche nach „interessanten Fällen“ ist und der sich um „unsterblichste Experimente“ bemüht, nicht behandelt, sondern misshandelt. Solche Ärzte mussten damals eine regelrechte Plage sein. 1823 meinte Ludwig Born: „Es sterben viel weniger Menschen an der Schwindsucht, Wassersucht und Trommelsucht … als an der Systemsucht der Ärzte. Das ist gewiß die traurigste aller Todesarten, wenn man an einer Krankheit stirbt, die ein anderer hat!“

Der skrupellose, der unmenschliche, der schließlich verbrecherische Arzt, der sich im 19. Jahrhundert von der Systemsucht treiben lässt und der sich in unserem Jahrhundert den grausamsten Anordnungen der totalitären Staaten bereitwillig fügt, wird nun zum Topos der Literatur, zumal, wie könnte es anders sein, der deutschen. Aber es wäre falsch, wollte man sagen, es habe sich damit wieder einmal ein negatives Bild des Mediziners eingebürgert.

Beinahe gleichzeitig taucht nämlich in Romanen und Erzählungen ein Arzttyp auf, der als Gegenfigur zu Jean Pauls Katzenberger und dem Doktor aus dem „Woyzeck“ verstanden werden kann. In seiner Novelle „Die Sängerin“, 1827 erschienen, lässt der heute zu Unrecht fast vergessene Wilhelm Hauff einen Medizinalrat sagen, ein Arzt habe mehr zu tun, als nur den Puls zu fühlen, Wunden zu verbinden und Mixturen zu verschreiben. Vielmehr sei es seine Aufgabe, auch „den inneren Puls der Seele“ zu hören und sich der Wunden anzunehmen, die niemand sehen könne.

Von nun an bewähren sich die Ärzte immer häufiger als gütige Freunde der Patienten, als deren Vertraute und intime Berater. Das Pendel schlägt also nach der entgegengesetzten Seite aus: Jene, über die man sich früher mokiert hatte, werden nun ohne Pardon verherrlicht – auch von den besten Schriftstellern der Epoche. Der Held der Erzählung „Die Mappe meines Urgroßvaters“ von Adalbert Stifter ist ein edler Arzt, der sich ganz und gar seinem Beruf widmet: „Ich hatte jetzt niemanden mehr als meine Kranken, und es schien mir in dem Augenblick, als warteten sie alle auf mich.“ Und der Schweizer Epiker Jeremias Gotthelf, der im Auftrag der Berner Regierung einen Roman gegen die Gefahren der Kurpfuscherei (und zwar einen hochbeachtlichen) geschrieben hatte, stellte den Arzt in einer Doppelfunktion vor: Er sollte beides auf einmal sein – ein zuverlässiger Naturwissenschaftler und ein feinfühliger Seelsorger.

Bald zeigte es sich, dass der realistische Roman des 19. Jahrhunderts ohne die Figur des Arztes gar nicht mehr auskommen konnte. Ob bei Balzac oder Zola, bei Dickens oder Thackeray, Tolstoi oder Dostojewski – überall treten Mediziner auf, und nahezu immer wird ihnen, auch wenn es Nebenpersonen sind, doch eine wichtige Rolle zugedacht. Das gilt in vielleicht noch höherem Maße für das Drama des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, also für die Bühnenwerke Hauptmanns und Schnitzlers, Ibsens, Strindbergs und Tschechows.

Woher rührt diese auffallende, diese deutlich zunehmende Vorliebe der Schriftsteller? Und warum erscheint der Arzt, von seltenen Ausnahmen abgesehen – eine solche ist Flauberts biederer und einfältiger Charles Bovary – jetzt in einem eher günstigen Licht und wird auch da, wo er wenig sympathisch ist, in der Regel respektvoll behandelt?

Zunächst einmal: In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entfaltete sich die Medizin besonders schnell, ihr Ansehen und ihre Geltung wuchsen von Jahr zu Jahr. Damit hängt es zusammen, dass sich für den Romancier wie den Dramatiker der Arzt als eine ideale, eine beinahe unersetzbare Gestalt erwies: Was sie ihren Zeitgenossen zu sagen hatten, ließen sie ihn aussprechen. Warum? Weil er die Humanität und den Fortschritt verkörpert? Weil er ganz unmittelbar das Gebot der Nächstenliebe verwirklicht und sich infolgedessen wie kaum ein anderer auch gegen dieses Gebot vergehen und versündigen kann? Nicht nur.

Den Schriftsteller reizte vor allem die Synthese, die gerade der Mediziner auf so augenscheinliche Weise personifiziert, nämlich die Einheit von Moral und Vernunft, von moderner Naturwissenschaft und schlichter Menschlichkeit. Hinzu kam ein Umstand ganz anderer Art. Der Arzt genießt eine hohe gesellschaftliche Anerkennung und ist, ähnlich wie der Geistliche, eine Vertrauensperson, mit dem Unterschied freilich, dass er sich nicht auf Metaphysisches stützt, sondern auf rationale, auf überprüfbare Einsichten. Es entsprach also dem Geist der Zeit, wenn sich im ausgehenden 19. Jahrhundert immer mehr Menschen nicht mehr auf den Geistlichen verlassen mochten, sondern auf den Arzt. Dies aber ermöglichte gerade ihm tiefe Einblicke in die Gesellschaft, auch und gerade in deren intimste Bereiche.

Ebendeshalb konnten die Schriftsteller den praktizierenden Medizinern hervorragende Menschenkenntnisse zuschreiben: sie beförderten sie zu Individuen, die ihre Mitbürger oft in moralischer und intellektueller Hinsicht übertreffen und sie auch noch durchschauen, die deren Lebenslüge erkennen und benennen. Mit anderen Worten: In der Literatur dieser Epoche ist der Arzt fähig und berufen, die Gesellschaft zu kritisieren und zu entlarven. In Ibsens Drama „Ein Volksfeind“ deckt ein Bade-Arzt auf, dass Industrieabwässer die Wasserleitung der ganzen Stadt verseuchen, und kämpft vergeblich gegen diesen Missstand – das Stück wurde übrigens 1882 verfasst. Überdies lassen sich am Beispiel von Ärzten, von deren Entscheidungen oft genug Leben und Tod von Patienten abhängen, ethische Konflikte in dramatischer Zuspitzung demonstrieren. In Bernard Shaws Komödie „Der Arzt am Scheideweg“ diskutieren mehrere Mediziner über die Frage, welchen Patienten der Direktor der Lungenklinik, in der neue Methoden erfolgreich angewendet werden und in der nur noch ein Bett frei ist, aufnehmen soll – einen redlichen, aber sehr mittelmäßigen Armendoktor oder einen genialen, wenn auch moralisch verkommenen Maler. In Arthur Schnitzlers „Professor Bernhardi“ verweigert der Direktor einer Privatklinik einem katholischen Priester den Zutritt zu einer sterbenden jungen Frau, die sich, im Zustand der Euphorie, für genesen hält: Der Arzt will ihr die Todesangst ersparen.

Soll man dem Todkranken, dem Sterbenden die Wahrheit sagen und ihn also seiner letzten Illusionen berauben? Die Literaturgeschichte kennt da einen Fall, der zu denken gibt. Der siebzigjährige Theodor Storm erzählt in seiner Novelle „Ein Bekenntnis“ die Geschichte eines Arztes, der seine geliebte Frau vergiftet, um sie von den Qualen eines vermeintlich unheilbaren Krebsleidens zu erlösen. Nur ein halbes Jahr später wird bei Storm Magenkrebs diagnostiziert. Er will wissen, wie es um ihn bestellt ist, man sagt es ihm, er bricht zusammen und ist nicht mehr arbeitsfähig, eine begonnene Novelle bleibt liegen. Man beschließt, ihn zu belügen: Drei Ärzte versichern, es habe sich um eine Fehldiagnose gehandelt, von Krebs sei keine Rede – Storm glaubt es und schafft es noch, an seiner Novelle weiterzuarbeiten und sie kurz vor seinem Tod zu vollenden. So haben wir diesen Medizinern, die zur bewussten Irreführung bereit waren, den „Schimmelreiter“ zu verdanken.

Bisweilen kann ein kluger Arzt einem Schriftsteller ohne Medikamente und ohne Betrug helfen. Fontane, der in seinen Romanen Ärzte mehrfach glänzend porträtiert hatte, war im Alter von 72 Jahren in eine schwere Krise geraten – nicht zuletzt deshalb, weil er überzeugt war, ihm stehe, da sein Vater in diesem Alter gestorben war, der Tod unmittelbar bevor. Ein Psychiater diagnostizierte „hochgradige Gehirnanämie“ und empfahl dringend die Unterbringung des Kranken in einer Nervenheilanstalt.

Aber der Hausarzt der Familie, Sanitätsrat Wilhelm Delhaes, wusste eine andere Therapie. Er verzichtete beinahe ganz auf Medikamente und riet Fontane, eine größere Arbeit, in der er steckengeblieben war, nicht mehr fortzusetzen und sich stattdessen einer leichteren schriftstellerischen Aufgabe zu widmen. Ob er nicht seine Lebenserinnerungen aufzeichnen wolle? „Fangen Sie gleich morgen mit der Kindheit an.“ Der Patient folgte dem überraschenden Rat: So entstand das Buch „Meine Kinderjahre“.

Später nahm er sich wieder jenes Werks an, das ihm vorher unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet hatte und das möglicherweise die eigentliche Ursache der ganzen Krise war: Er schrieb es nun ohne Unterbrechung zu Ende. Wir haben allen Anlass, des weisen Berliner Arztes Wilhelm Delhaes dankbar zu gedenken; denn ohne ihn hätten wir wohl kaum einen der schönsten Romane, die je in deutscher Sprache geschrieben worden sind: „Effi Briest“.

Dem Sanitätsrat Delhaes mag der kluge Arzt in diesem Roman nachgebildet sein – der Geheimrat Rummschüttel, der sich von der jungen Effi Innstetten, geborene Briest, nicht irreführen lässt und sofort lächelnd erkennt, dass sie gar nicht richtig krank ist, sondern lediglich eine Krankheit vortäuscht. Er empfiehlt denn auch eine Therapie ohne Risiko: „Ruhe und Wärme.“ Rummschüttel in „Effi Briest“ und Sponholz im „Stechlin“ repräsentieren noch den in der Literatur des 19. Jahrhunderts so beliebten Typ des Hausarztes, der Erfahrung mit Humor verbindet und sich meist noch als ein souveräner Plauderer bewährt. Aber im „Stechlin“ hat Fontane auch schon den Gegentyp eingeführt: den modernen Mediziner, der sachlich und tüchtig ist, doch nicht mehr soviel Zeit und soviel Herz für seine Patienten hat wie seine etwas betulichen Vorgänger.

Und im zwanzigsten Jahrhundert, genauer: in der Epoche nach dem Ersten Weltkrieg? Sind die Schriftsteller nach wie vor an Ärzten als Figuren von Dramen, Romanen oder Erzählungen interessiert? Nein, das trifft nicht ganz zu; dies mag im ersten Augenblick verwundern, hat indes triftige Gründe.

Neu ist es nicht, doch muss man es immer wieder sagen: Zu den entscheidenden Faktoren der modernen Literatur gehört die Negation. Anders ausgedrückt: Die Ziele, die den Dichtern vorschwebten, konnten sie nur noch auf Umwegen erreichen. Sie verschwiegen Gefühle. Um Gefühle zu provozieren. Sie erfanden den Anti-Helden und das Understatement. Um dem Heroischen und dem Pathos gerecht zu werden. Sie wandten sich dem Surrealen zu. Um der Realität willen. Sie verfremdeten das Leben. Um es zu vergegenwärtigen. Sie zeigten das Absurde. Um die Vernunft herauszufordern. Sie ließen den Wahnsinn ausbrechen. Um den Sinn kenntlich zu machen.

So übt denn auch alles Pathologische auf die Literatur unseres Jahrhunderts eine außerordentliche Anziehungskraft aus. Gerade das Krankhafte soll das Wesen des Menschen verdeutlichen, gerade das Anomale soll uns die Fragwürdigkeit dessen zeigen, was wir für normal zu halten gewohnt sind. Neurosen und auch Psychosen werden immer häufiger zu Gegenständen literarischer Darstellung, Sanatorien und Spitäler dienen als Schauplätze – von Thomas Manns „Zauberberg“ bis zu Max Frischs „Stiller“. Die Szene Thomas Bernhards bevölkern Wahnsinnige und Neurastheniker, er ist ein hartnäckiger Sänger des Verfalls und der Auflösung, seine Romane und Erzählungen sind allesamt Krankheitsgeschichten.

Dennoch und trotz des unzweifelhaften Faktums, dass der Medizin in unserer Epoche, zumindest in den zivilisierten Ländern, immer mehr Bedeutung im Leben des Individuums zukommt, ist die Person des Arztes für die Schriftsteller bei weitem nicht mehr so attraktiv wie im vergangenen Jahrhundert. In Goethes „Natürlicher Tochter“ heißt es:

So wendet voll Vertrauen zum Arzte sich
Der tief Erkrankte, fleht um Linderung,
Fleht um Erhaltung schwer bedrohter Tage.
Als Gott erscheint ihm der erfahrne Mann.

Spiegelt sich in diesen schon 1803 geschriebenen Versen bloß die Verehrung, die in manchen primitiven Völkern dem Medizinmann entgegengebracht wurde? Oder hat Goethe bereits den Nimbus geahnt, den der Arzt, zumal der erfolgreiche, erheblich später genießen durfte, jenen Nimbus, der bald den Charakter eines leichtsinnigen, wenn nicht anstößigen Mythos gewann?

Die modernen Schriftsteller hatten und haben damit nichts zu tun. Es kommt ihnen nicht in den Sinn, den Arzt mit irrationalen Attributen auszustatten, ihnen erscheint „der erfahrne Mann“ nicht als Gott. Er wird oft ironisiert, doch nur noch selten karikiert, er wird in der Regel weder glorifiziert noch persifliert, sondern eher nüchtern betrachtet als ein naturwissenschaftlich ausgebildeter Spezialist, also kaum anders als der Chemiker oder Physiker, der Ingenieur oder Mathematiker. Den Mythos von den „Göttern in Weiß“ haben die Trivialromane verschuldet und natürlich auch und vor allem der Film. Und die einst immer wieder kritisierte Moral der Ärzte? Bernard Shaw, der sie ein Leben lang verspottete, hielt es dennoch für angebracht, kühl und sachlich zu konstatieren: „Was die Ehre und das Gewissen der Ärzte betrifft, so haben sie davon so viel wie jede andere Menschengruppe, nicht mehr und nicht weniger.“

Aber wir sollten nicht vergessen, dass sich die Mediziner um die deutsche Literatur der letzten hundert Jahre wie kein anderer Berufsstand verdient gemacht haben. „Ich kenne keine bessere Schulung für den Schriftsteller“, behauptete Somerset Maugham, „als einige Jahre den Beruf eines Arztes auszuüben.“ Tatsächlich ist es der Literatur in hohem Maße zugute gekommen, wenn sich schriftstellerisches Talent und medizinische Erkenntnis miteinander vereinten. Und wann immer die Medizin klug genug war, sich um den Zusammenhang von physischen und psychischen Leiden zu kümmern, konnte sie ausgiebig von der Literatur profitieren.

Arthur Schnitzler war rund zehn Jahre als Arzt tätig, bevor er sich ganz und gar der Literatur widmete. Aber – meinte er – „wer je Mediziner war, kann nie aufhören, es zu sein“. Für ihn selber gilt dies mit Sicherheit: Ein großer Teil seines schriftstellerischen Werks steht unter dem unmittelbaren Einfluss seiner medizinischen Einsichten und Erfahrungen. Die frühesten Veröffentlichungen Schnitzlers sind wissenschaftliche Arbeiten, wie die 1889 gedruckte Abhandlung „Über funktionelle Aphonie und deren Behandlung durch Hypnose und Suggestion“. Seine fünf Jahre später publizierte erste größere Prosaarbeit, die Novelle „Sterben“, ist nahezu eine klinische Studie der Persönlichkeitsveränderungen im Bild zweier Menschen – eines an der Tuberkulose unheilbar erkrankten Mannes und seiner Geliebten – sowie der durch diese Krankheit ausgelösten und wachsenden Entfremdung zwischen den beiden.

In seiner 1900 erschienenen Novelle „Leutnant Gustl“, dem ersten epischen Werk der deutschen Literatur, das sich rigoros auf die Ausdrucksmittel des inneren Monologs beschränkt, registriert Schnitzler die verborgenen Gefühle und spontanen Reaktionen, die flüchtigen Gedanken und die scheinbar belanglosen Erinnerungen seines jungen Helden: die Assoziation ist hier oberstes Gesetz. Aus all dem entsteht ein psychologisches Porträt, in dem die vernichtende Kritik der Gesellschaft, zu deren Produkten Gustl gehört, bereits in dessen minutiös wiedergegebenem Bewusstseinsstrom enthalten ist. Damit hatte der Erzähler Schichten des Unterbewusstseins aufgedeckt und fixiert, die noch nie in einer literarischen Arbeit dargestellt worden waren.

Wie aber sind diese künstlerischen Bemühungen vom Standpunkt der Wissenschaft zu beurteilen, der Medizin also, der Psychologie? 1922 schrieb Sigmund Freud an Arthur Schnitzler: „Ich habe immer wieder, wenn ich mich in Ihre schönen Schöpfungen vertiefe, hinter deren poetischem Schein die nämlichen Voraussetzungen, Interessen und Ergebnisse geglaubt, die mir als die eigenen bekannt waren … So habe ich den Eindruck gewonnen, daß Sie durch Intuition – eigentlich aber infolge feiner Selbstwahrnehmung – alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe. Ja, ich glaube, im Grunde Ihres Wesens sind Sie ein psychologischer Tiefenforscher …“

Ein leidenschaftlicher Arzt war auch Alfred Döblin. Er hatte schon mehrere, zwar nicht sonderlich erfolgreiche, doch immerhin beachtete Romane und Erzählungsbände veröffentlicht, als er 1927 ausdrücklich erklärte: „Ich werde, wenn die Umstände mich drängen, eher, lieber und von Herzen die Schriftstellerei … aufgeben als den inhaltsvollen, anständigen, wenn auch sehr ärmlichen Beruf eines Arztes.“

Ähnlich wie Schnitzler publizierte auch er zunächst medizinische Arbeiten, vorwiegend aus dem Bereich der Psychiatrie und der Neurologie. Döblin befasste sich mit diesen Themen so systematisch, dass man annimmt, er habe damals, noch in der Zeit des Kaiserreichs, eine wissenschaftliche Laufbahn angestrebt. Schon seine frühen epischen Arbeiten sind in unverkennbarem Zusammenhang mit diesen medizinischen Studien entstanden. Seine 1910 zuerst gedruckte Novelle „Die Ermordung einer Butterblume“ dringt mit ganz anderen Mitteln, als sie Schnitzler angewandt hatte, ebenfalls in die tiefsten Schichten des Unterbewussten vor und zeigt sowohl die Voraussetzungen als auch die Symptome und Folgen eines schizophrenen Schubes.

In einer autobiographischen Aufzeichnung berichtet Döblin: „Ich fand meine Kranken in ihren ärmlichen Stuben liegen; sie brachten mir auch ihre Stuben in mein Sprechzimmer mit. Ich sah ihre Verhältnisse, ihr Milieu; es ging alles ins Soziale, Ethische und Politische über.“ So betrachtete Döblin seine Kassenpatienten wie Romanfiguren – und die Personen, die sein episches Universum bevölkern, wie Patienten. Seine täglichen Erlebnisse als Armenarzt lieferten ihm den Stoff für sein Meisterwerk, den Roman „Berlin Alexanderplatz“. Der stilprägende Einfluss, den dieses Buch auf die Erzählweise der deutschen Romanciers nach 1945 ausgeübt hat, lässt sich nur mit dem Franz Kafkas vergleichen. Döblin hatte dies 1938 vorausgesehen: „Man lernt von mir und wird noch mehr lernen.“ In der Tat: Arno Schmidt und Uwe Johnson, Wolfgang Koeppen und Günter Grass – sie alle haben von ihm gelernt.

Aber die Medizin hat nicht nur die deutsche Prosa revolutioniert, sondern auch die Lyrik – und dies ist vor allem das Werk eines Mannes, der rund vierzig Jahre lang als Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten tätig war: des Doktor Gottfried Benn. Mit dem Gedichtzyklus „Morgue“ hatte er um 1912 die Zeitgenossen, sofern sic ihn überhaupt zur Kenntnis nahmen, schon durch die Stoffwahl empört – und diese hatte sein bürgerlicher Beruf bestimmt.

Noch unlängst beschworen die Dichter den Himmel und die Erde und betteten die Liebenden und die Leidenden unter schönen Wolken und auf grünen Wiesen, noch unlängst besangen sie den totgesagten Park, den Sommer, der sehr groß war, und den Frühlingswind, der durch kahle Alleen läuft. Davon wollte der junge Benn nichts wissen. Seine Gedichte spielen in einer anderen Welt, schon ihre Titel deuten es an: „Saal der kreißenden Frauen“ oder „Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke“. In dieser Lyrik dominieren Verfall und Verwesung, ihren düsteren Hintergrund bilden das Leichenschauhaus und der Sektionssaal. Man hat Benn die Technik des sezierenden Chirurgen nachgesagt; ob das nun zutrifft oder nicht – jedenfalls steht seine Dichtung im Zeichen der Medizin; und dies gilt für deren Motive und Wortschatz ebenso wie für ihre Perspektive.

Ohne Arthur Schnitzler, Alfred Döblin und Gottfried Benn – dies ist keineswegs übertrieben – lässt sich die moderne deutsche Literatur überhaupt nicht mehr denken. Dass es in diesem Jahrhundert noch viele andere schreibende Ärzte gibt – von Ernst Weiss bis Hans Carossa –, sei nur am Rande erwähnt.

Schopenhauer sagte, der Jurist sehe den Menschen in seiner ganzen Schlechtigkeit, der Theologe in seiner ganzen Dummheit und der Arzt in seiner ganzen Schwäche. Genau dies hat der Arzt mit dem Schriftsteller gemein. Denn wenn es ein Wort gibt, das die Werke der Weltliteratur miteinander verbindet, dann ist es die Vokabel „Krise“. Werther und Wallenstein, Hamlet, der Prinz von Dänemark, und Friedrich, der Prinz von Homburg, die Karamasows und die Buddenbrooks – immer wieder zeigt uns die Literatur das Individuum im Zustand der Krise.

Natürlich, der Arzt und der Schriftsteller – sie haben unterschiedliche Aufgaben und Möglichkeiten, doch die einen wie die anderen sind Fachleute für menschliche Leiden. Die einen wollen diese Leiden beschreiben, erkennbar und bewusst machen, die anderen wollen sie verdrängen und vertreiben oder zumindest verringern. Indem sie heilt, korrigiert die Medizin die Natur, sie widersetzt sich dem Lauf der Welt. Die Literatur kann niemanden heilen, gewiss, aber wer erzählt, wer dichtet, will die Zeit aufhalten und das Geschehene erhalten; wer Romane verfasst oder Theaterstücke, widersetzt sich dem Chaos und der Willkür.

Der Arzt und der Schriftsteller – sie rebellieren gegen die Vergänglichkeit. Sie haben stets das gleiche Ziel vor Augen: die Verteidigung des Lebens. Und einen gemeinsamen Feind: den Tod. So darf man denn sagen, dass sie Geschwister sind – die Medizin und die Literatur.

Hinweise der Redaktion

Erstdruck unter diesem Titel: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Dezember 1986, Literaturbeilage, S. 1 f. Wiederabdruck unter diesem Titel und Publikationsvorlage: Marcel Reich-Ranicki: Herz, Arzt und Literatur. Zwei Aufsätze. Ammann Verlag, Zürich 1987. S. 5-33. Der Text wurde den Regeln der neuen Rechtschreibung angepasst. Die erneute Veröffentlichung erfolgt mit Genehmigung von Reich-Ranickis Erbin Carla Ranicki und seinem Nachlassverwalter.