Bürgerliches Schäferleben

Der Germanist Kurt Wölfel ist gestorben

Von Ralf SimonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Simon

Hätte Lessing Kurt Wölfel so gekannt wie dieser ihn, dann hätte er seine Theorie des Lachens revidieren müssen. Es ist beides zugleich möglich: über jemanden zu lachen und mit ihm. Seine Witze meinten ihn allein, den Selbstlachenden und sich Verlachenden. In Gegenwart anderer ungesellig zu lachen, erzeugt aber Geselligkeit, Lachen in zweiter Potenz. Da solche Selbstverhältnisse den humoristischen Absturz vorwegnehmen, führte dies bei Kurt Wölfel zu jener sympathetischen Geste, mit der Jean Paul auf Schillers Ode auf die Freude und den dort formulierten Ausschluss derer, die zum Freundesbund nicht zählen, antwortete: Du da draußen, komm herein zu uns. Dass der Hochschullehrer, wiederum mit Jean Paul zu sprechen, ein Schoppe und ein Wutz zugleich sein kann, dass er in die Vorlesung mal einen Hund mitbrachte und über Leibgebers Saufinder referierte, ein andermal einen Vogel, den er verletzt fand und zur Flugfähigkeit gesund pflegte, vervollständigt das Bild eines Menschen, dessen Lachen empört die Welt als Ganzes, liebend den Einzelnen in ihr meinte.

Kurt Wölfel hat die Literatur gelebt, er gehört in den engsten Kreis passioniertester Leser. Seine sprachlich-literarische Sozialisation beschrieb er als Szenen aus dem bürgerlichen Schäferleben, welche unversehens in die akademische Sphäre mündeten. Dort blieb er eine seltsame Erscheinung. Nach der Promotion über Platen und der Habilitation zum Begriff der Laune gelang ihm das seltene Kunststück, auf eine Professur berufen zu werden, ohne ein einziges publiziertes Buch vorweisen zu können. In Erlangen wurde der Spezialist des achtzehnten Jahrhunderts mit Schwerpunkten bei Wieland, Lessing und vor allem Jean Paul kurzzeitig zu einem Wortführer der linken, sogar auch marxistischen Wende der Germanistik. Als Ordinarius in Bonn startete er humoristisch das Gegenprogramm und las die Klassiker des revisionistischen Konservatismus.

Über allem aber stand der Leitstern Jean Paul, zu dessen Werk er eine Reihe von grundlegenden Studien vorlegte. Sie führten dann doch zu seinem ersten Buch, einer von einem seiner Schüler bei Suhrkamp publizierten Aufsatzsammlung. Ein Meisterwerk an essayistischer Präzision ist auch seine knappe Schiller-Biographie. Die Jean-Paul-Forschung kuratierte er jahrzehntelang als Vorsitzender der Gesellschaft und als Herausgeber des Jahrbuchs.

Sein eigentliches Lebenselexier war die akademische Debatte, vor allem der Unterricht. Seine Vorlesungen bildeten in Erlangen ebenso wie in Bonn Höhepunkte des Germanistikstudiums. Es waren durchgearbeitete, mit entschiedenem Stilwillen vorgetragene Kunstwerke, jede für sich eigentlich schon ein auf die Endredaktion wartendes Buch. Aber sein Ehrgeiz lag nicht bei der großen Monographie. Wölfel hat seine Gelehrsamkeit ins Gespräch übersetzt und seine Schriftproduktion in die Form des Essays. Seine Oberseminare zählten zu den Brutstätten des akademischen Nachwuchses, sein erster Assistent war Heinz Schlaffer. Es wäre eine Wirkungsgeschichte zu erzählen, die zu den erstaunlichsten des Faches gehört und mitunter darüber hinaus reicht, bis zur gegenwärtigen Kulturstaatsministerin. Der Lebensbezug des Lesenden wurde ihm zunehmend selbst zum Thema seiner Forschungen. So arbeitete er an der Poetik des Spaziergangs, also des in Bewegung versetzten Gesprächs. Es ist diese Fähigkeit zum sympathetischen Dialog, die sich im Angedenken mit seiner Person vor allem verbindet. Man kann ihn sich vorstellen, wie er nun, als rein Sprechender, den Raum der Dichtergespräche betritt – als hätte er sich sein Leben lang darauf vorbereitet. Gestorben ist er am 9. August im Alter von 94 Jahren in der Nähe von Bonn.

Hinweis: Der Text wurde erstmals am 16.08.2021 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht. 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen