Abwechslungsreiches Kaleidoskop

Mit „Der glückliche Augenblick“ legt der vielfach ausgezeichnete Lyriker und Übersetzer Jan Wagner „Beiläufige Prosa“ vor, die ihn einmal mehr als großen Stilisten und wunderbaren Beobachter zeigt

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es sind Dankes-, Geburtstags- und Gedenkschriften, Briefe, Prosagedichte, Reiseskizzen oder klassische Essays, die Jan Wagner hier versammelt. Ebenso kenntnisreich wie begeisternd beleuchtet er Werke von Dichtern wie Georg Büchner, John Keats, Matthew Sweeney oder auch Stefan George. Letzterer bleibt ihm aber auch ein Stück weit fremd als einer von jenen „selbsternannten Poesiepäpsten“ mit „ihrer Unfehlbarkeit und mit ihrem strengen Blick“. Denn ihm scheint als Lyriker für das Gelingen der Poesie „der Zweifel, die Unsicherheit, eine Offenheit allen Möglichkeiten gegenüber unabdingbar zu sein“.

Im titelgebenden Prosastück Der glückliche Augenblick widmet sich Jan Wagner der Fotografie, die von jeher auch Dichter angezogen hat und die heute zugleich die Welt mit Smartphone-Snapshots überflutet. Hier kommt er mit Gewährsleuten wie Roland Barthes oder Walter Benjamin zu dem Schluss, dass es „gerade die Imperfektion“ ist, die Fotografie zum Gegenstand von Dichtung werden lässt – das Unscharfe, Vergilbte, Verrutschte, Zufällige.

Den fast grenzenlosen Möglichkeitsraum des Essays bespielt Jan Wagner auf wunderbare Weise in seinem dreiteiligen Versuch über Pässe, der von der Faszination über die bunten Stempel in den alten grünen Reispässen ausgeht: „diese seltsame Geometrielehre des Grenzverkehrs, mal azurblau, mal tintenschwarz, mal blasser und gelegentlich kaum noch lesbar“. Dieser sinnliche Ausgangspunkt führt ihn zu einer Meditation über die Freiheit und offene Grenzen, aber auch zu Schlagbäumen und (neu erwachendem) Nationalismus.

Zu großartiger Form läuft er auch in seinen Reiseskizzen auf, wenn er die Gerüche, Geräusche, Farben- und Formenspiele auf seinen Streifzügen durch persische Basare oder vietnamesische Märkte und Suppenküchen zu einem sinnlichen Feuerwerk mit eindringlichen Bildern verwortet. Da räkelt sich dann ein ganzes frittiertes Huhn „fast lasziv in der eigenen Kruste“ oder beim Umrühren in einem großen Suppentopf taucht der Schnabel einer Gans auf „als wolle er nur kurz Luft schnappen“.

Jan Wagners Beiläufige Prosa setzt sich zu einem abwechslungsreichen Kaleidoskop der schier unbegrenzten schriftstellerischen Formen und Themen zusammen. Er spürt in seiner feingeschliffenen und von bescheidener Ernsthaftigkeit getragener Prosa dabei ebenso den kleinen sinnlichen Dingen der Welt nach wie auch den großen Fragen nach dem Gelingen von Kunst und Leben.

Titelbild

Jan Wagner: Der glückliche Augenblick. Beiläufige Prosa.
Hanser Berlin, Berlin 2021.
304 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783446269439

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