Zerbrochene Träume

Isabella Feimers Gedichte und Manfred Poors Fotografien über die USA, ein Land begrenzter Möglichkeiten

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel des Buches setzt mit American apocalypse ein unübersehbares Ausrufezeichen. Er weckt Assoziationen an die zweitausend Jahre alte Johannes-Offenbarung, an Coppolas bildgewaltigen Antikriegsfilm aus dem Jahre 1979, aber auch an viele Bücher, die die Weltuntergangsstimmung zu ihrem Thema machen, z. B. an Cormac McCarthys düsteren Roman The Road. Der Titel evoziert Bilder von Chaos und Untergang im reichsten und mächtigsten Land der Welt, in dem über Jahrhunderte hinweg allen das Versprechen gegeben wurde, dass der amerikanische Traum von Glück, Aufstieg, Erfolg und Reichtum Wirklichkeit werden könne.

Die eindrucksvollen Bilder des Buches unterstreichen die Endzeitstimmung des Titels. Es sind Fotos von unwirtlichen amerikanischen Städten, leeren Landschaften im Westen und in Alaska, Aufnahmen von ausrangierten Autos, schäbigen Häusern, von endlosen Gegenden aus Himmel, Sand, Meer und Wolken, oft in eher düsteren Farben, einige auch bunt und aufdringlich. Es sind keine Bilder aus Reisebroschüren, eher solche von Landschaften mit sprödem Charme, immer ohne Menschen und weit offen, von verfallenen Schuppen und Scheunen, längst unbewohnbar und verlassen. Das Gerümpel vor den Hütten und um sie herum unterstreicht den Eindruck aufgegebener Wohnsiedlungen.

Die Bilder lassen etwas von der majestätischen Größe der endlos weiten Steppen mit Gebirgszügen im Hintergrund erahnen, machen aber auch deutlich, dass die romantische Verklärung des Westens von Amerika zu leeren Klischees geworden ist. Die Bilder zeigen eine eher menschenfeindliche Natur, wüstenähnlich, sandfarben und eigentlich auch viel zu weit und ausgedehnt für den Menschen. Es sind mythische Landschaften, in der der Mensch fremd wäre; sie scheinen nicht für ihn geschaffen zu sein. Manchmal gleichen sie Mondlandschaften oder zeigen einen undurchdringlichen Wald oder eine wilde Küstenlandschaft. Menschen passen da nicht mehr hin, sie sind irgendwann daraus verschwunden und können nicht mehr dorthin zurückkehren. Diese Lebensräume haben sie für immer, so die Botschaft der Fotos, verloren.

Konsequenterweise fehlen die Menschen auf Poors Fotos von der Apokalypse Amerikas. Aliens werden einmal gezeigt: eine sarkastische Zukunftsvision. Auf einem Foto einer Straße in der Großstadt Las Vegas gibt es Autos, aber keine Menschen; sie sind lediglich auf riesigen „billboards“ als Abbildungen vorhanden.

Die Landschaft hat ihre Menschen verloren. Das wird besonders augenfällig, wenn auf den Fotos Gegenstände zu sehen sind, die einmal Menschen gehört haben, jetzt aber als Strandgut oder Gerümpel „menschenlos“ geworden sind. So sind auf einem Bild ausgedientes Handwerksgerät in einer Blechschüssel, ein alter Stuhl, abgelegte Rollschuhe, ein Schränkchen und weiteres Gerümpel zu sehen, wahllos hingeworfen; nichts passt zum anderen und dennoch haben die Dinge etwas gemein: Sie sind nutzlos geworden und wurden deshalb einfach weggeschmissen. Der Raum ist vollgestopft, eigentlich aber leer, weil alles „zukunftslos“ geworden ist. Menschen, die für ihr Leben eine Perspektive brauchen, haben dort nichts mehr zu suchen.

Und dann wird der Blick dessen, der im Buch blättert, von Wörtern und Verszeilen angezogen:

a rusted truck overgrown wild with flowers
that won’t blossom and bloom anymore
a cracked wooden door leads nowhere but into a void

liest man da zum Beispiel oder den Ausdruck „Ungeheuer Unfreiheit“ und immer wieder das Wort „dust“ oder Verse wie:

wir winken dem Weltuntergang zu
und seiner Wirklichkeit
die uns eingeholt hat
ruhig und tief
der See
mit seinen ihn umrandenden Zivilisationsresten
die alte Puppe
die verrosteten Dosen
das gerissene Seil.

Die Verse haben einen expressiven und zugleich ‚coolen‘ Ton, der aufmerken lässt. Sie enthalten sprachliche Bilder, die einen schockierenden Einblick in das Amerika geben, das man aus Filmen, eigenen Reisen oder aus Büchern zu kennen glaubt, und den Leser zu einem Sichtwechsel des Landes und seiner Bewohner zwingen. Seine herkömmlichen Vorstellungen vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten werden mit den Texten mehr als in Frage gestellt. So heißt es im Gedicht Ground Zero, New York City:

Himmelsdiamanten
schnurgerade in die Erde gesteckt
ragen dorthin zurück
woher sie gekommen sind

kaltes Glitzern
färbt auf die Wolkentrübung ab

während ich verblasse
mich in meinen Wünschen verloren habe
ist nichts zum Greifen nah

Der Vers „kaltes Glitzern“ greift „Diamanten“ im ersten Vers auf und verweist mit dem Adjektiv „kalt“ auf die Seelenlosigkeit der Wolkenkratzer-Architektur. Dass die Menschen Ground Zero feiern, wirft ein grelles Licht auf die Oberflächlichkeit der Bewunderer. Im Gedicht bekennt sich das „Ich“ im Angesicht der Riesenbauten zu seiner Kleinheit, kann aber gerade dadurch einen eigenen Akzent gegen die Wucht der Wolkenkratzer setzen: „Nichts ist zum Greifen nah.“

Wie genau Feimers Sprachbilder sind, wird durch das Foto, in das der Text hineingedruckt ist, deutlich. Die Wolkenkratzer darauf sehen wirklich wie kalt-glitzernde „Himmelsdiamanten / schnurgerade in die Erde gesteckt“ aus. An solchen Stellen des Buchs erkennt man, dass beide, der Fotograf und die Lyrikerin, in den Texten und Bildern ihre Sicht auf Amerika, ihre Erfahrungen in dem Land und ihre Vorstellungen von den USA zu einem eindrucksvollen Gesamtbild zusammenführen. Die Texte und Fotos verbergen nicht ihrer beider Nähe zu den Vereinigten Staaten, sprechen aber vor allem von ihren Enttäuschungen über den Wandel von so vielem in den USA zum Apokalyptischen hin, zu „Landstrichen die einen Namen haben / aber keinerlei Bedeutung“, wie es einmal heißt, zu Orten, die keine „Zukunft kennen“, mit Menschen, so muss man vermuten, die ihre Träume längst verloren haben.

Isabella Feimer, 1976 geboren, lebt als Regisseurin und Schriftstellerin in Wien. Manfred Poor wurde 1960 in Kärnten geboren. Er arbeitet als Fotograf und lebt ebenfalls in Wien. Sie haben das Buch „denen gewidmet, die sich am Reisen versuchen“.

Tatsächlich erinnert der Band an ein Reisetagebuch. Am Ende jedes Textes steht eine Ortsangabe: „Point Reyes Natural Preserve, Kalifornien“ beispielsweise oder „South Beach, Miami“ oder „Homer, Alaska“. Die Reisenden folgen, grob gesagt, einer Route von Miami über Kalifornien an der Westküste Richtung Norden, mit Abstechern nach Mexiko und New York.

Für diese Art scheinbar wahllosen Herumreisens haben sie große Vorbilder gewählt. Die zwölf Kapitel des Buchs werden jeweils durch einen Satz berühmter Männer und Frauen mit einem sehr eigenen fortschrittlichen Amerikabild eingeleitet. Jack Kerouac ist vertreten, William S. Burroughs oder – um einen weiteren ‚beat generation‘-Autor zu nennen – Lawrence Ferlinghetti, auch Andy Warhol und Frida Kahlo kommen mit Zitaten vor. Die Leitsätze zeigen das andere Amerika, in dem die Menschen in ihrem Drang, Weiten und große Landschaften zu erobern, nicht eingeengt oder gar beschnitten werden, in dem eine künstlerische Sicht auf die Dinge möglich und gewollt ist und in dem der einzelne sein Glück finden kann. Die Schriftstellerin Diane di Prima, die mit Allen Ginsberg und Jack Kerouac befreundet war, wird mit dem Satz zitiert: „Don’t ask why I have bad dreams, ask why if I don’t“. Ein pessimistischerer und kritischerer Satz über Amerika ist kaum denkbar. Das Land, in dem nur „bad dreams“ geträumt werden, ist nicht mehr das Amerika früherer Zeiten. Natürlich auch nicht das von Isabella Feimer und Manfred Poor.

In dem Text mit dem Titel Barstow Road, Kalifornien wird das in einer scharfen, aggressiven Sprache, die verstört und verunsichert, deutlich. Feimers Gedicht ist eine sprachgewaltige Abrechnung mit der Supermacht Amerika. Die ersten Verse setzen den Ton für den gesamten Text: ironisch, sarkastisch, ernsthaft, zum Teil hämisch, anklagend, pathetisch, rücksichtslos in der Wortwahl, sprachlich eindeutig und – das vor allem – poetisch und bildstark:

Umschlossen von klebriger Watte America the Great
der Mut zerstückelt von den Henkern im Dienst des
Kapitalismus if you make it there you make it anywhere
kaputt body broken Gliedmaßen zusammengeschnürt
Bewegungsunfähigkeit als Geisteshaltung […]

Später im Text ist von „Wohnwägen im Nirgendwo“ die Rede, davon, dass nichts mehr Halt bietet, dass auch „gut gemeinte Rocksongs“ nicht mehr weiterhelfen und dass „der Schleier falscher Tugend“ endlich weggezogen werden müsse, damit das wahre Gesicht des Landes zum Vorschein kommen könne. Amerika wird mit einer Supernova verglichen, mit einem Stern, der noch einmal aufstrahlt, heller als je zuvor, dessen Verglühen aber unausweichlich ist.

Der Rhythmus des Gedichts ist ein wütender Wort- und Satzschwall, eine Anklage, eine Verurteilung, wie herausgeschrien, weil die Worte nicht mehr zurückgehalten werden können. Das Ineinander von deutscher und englischer Sprache unterstreicht den Gestus emotionaler Überwältigung: Die Sprecherin kann und will ihre Empörung über das Land, das sie zutiefst enttäuscht, nicht hinter wohl gesetzten Worten verbergen.

Poors Foto zu dem Text zeigt das Dachgeschoss eines früheren Hauses oder Schuppens, heruntergekommen, verfallen, unbewohnbar, umgeben von Wasserlachen und rostigem Gestänge. Die Landschaft um die Bretterbude herum ist eine Wüste. In der Ferne ist ein Gebirgszug zu sehen: eine grandiose, aber unerreichbare Verheißung.

Feimers Text und Poors Bild werfen ein völlig anderes Licht auf Amerika als der Hymnus, den die US-Poetin Amanda Gorman zur Amtseinführung des 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten, Joe Biden, so wirkungsvoll vorgetragen hat. Sie „besingt“ dort ein Land, zelebriert es regelrecht mit Gesten und Stimme, das es so vielleicht nur noch in Hollywood-Filmen oder bei feierlichen Amtseinführungen von Präsidenten gibt:

We are striving to forge a union with purpose
To compose a country committed to all cultures, colors, characters and conditions of man
And so we lift our gazes not to what stands between us but what stands before us
We close the divide because we know, to put our future first […]

Und sie beendet ihr hymnisches Lob des Landes mit den Versen:

The new dawn blooms as we free it
For there is always light,
if only we’re brave enough to see it,
if only we’re brave enough to be it.

Der Unterschied zwischen den beiden Bildern von Amerika, dem nüchtern-realistischen dort, dem pathetisch-preisenden, überaus optimistischen hier, könnte nicht krasser sein.

Feimer und Poor spüren in ihren ‚road-poems‘ mit neugierigen, aber scharfen Blicken, denen die Veränderungen nicht entgehen, dem Paradies von einst nach, finden aber nur „ghost-towns“ und Landschaften, die von Leere und Einsamkeit geprägt sind, die „Geschichten auslöschen“, anstatt Geschichten zu erzählen, die für Wild-West-Romantik nicht mehr taugen, die von Stromdrähten durchzogen und von Bretterbuden verunstaltet werden.

Manche der Texte schaffen sich ihre eigene menschliche Atmosphäre. Sie imaginieren ein Du, das Nähe und Geborgenheit vermittelt:

ohne dich wäre jede Straße
die wir fahren
nur Staub und Asphalt
und keine Geschichte
kein Kojote
der im feuchten Sand
mit seinen Tatzen nach Krebsen gräbt.

Manfred Poor setzt die Verse um in ein überzeugendes Bild: eine weite Landschaft, der man die unerträgliche Hitze regelrecht „ansieht“, mit nichts als Sand, voller Einsamkeit und Verlorenheit, mit einem Wasserrinnsal im Vordergrund, an dem ein Kojote trinkt und vielleicht, wie es oben heißt, „nach Krebsen gräbt“. Das Du schafft in der Eintönigkeit des Unterwegsseins Geschichten, die der Leere der Landschaft das Verstörend-Beunruhigende nehmen, das Land im wahren Sinn des Wortes beleben und dadurch erst erfahrbar machen.

Wie politisch brisant das Buch von Feimer und Poor ist, wird vor allem an einem Bilderteil über mehrere Seiten erkennbar. Es ist das Herzstück des Kapitels American apocalypse. Ein Foto zeigt auf einer Doppelseite einen langgestreckten Sandstrand mit einem dunklen Gewitterhimmel darüber. Wie ein Leuchtturm rückt aus der Düsternis ein Turm für Lebensretter in das Blickfeld. Der Beobachtungsturm ist ein Symbol für Amerika, denn seine Vorderseite ist mit den stars und stripes der amerikanischen Flagge bemalt. Drei Verse am rechten Bildrand allerdings setzen ein unübersehbares Fragezeichen hinter das symbolträchtige Gebilde:

somebody said :
it’s the rotten
freedom of this country

Noch brisanter wird es auf den folgenden Seiten. Links ist eine Reklamewand mit einem übergroßen Gesicht des amerikanischen Präsidenten Donald Trump zu sehen, halb abgerissen, zerfleddert, nur sein weit geöffneter Mund und seine Augenpartien sind zu sehen und ein abfälliges Wort darüber: „slut“, Buchstabenreste offensichtlich einer einstigen Werbebotschaft. Auf der gegenüberliegenden Buchseite steht in Riesenlettern: „Stop making stupid people famous“.

Die unterschwellige und offene Kritik an der amerikanischen Politik und dem ‚American way of life‘ wird auf der folgenden Fotoseite gesteigert. Dem Leser blickt eine junge Frau mit ausdruckslosen Gesichtszügen entgegen: Auf ihren demonstrativ erhobenen Handflächen – als Schutz? als Protest? als Botschaft? – sind die Wörter „Stop the hate“ eingeritzt. Der provokante Titel des Buches wird auf diesen Fotoseiten zu einem unüberhörbar politischen Statement.

Das letzte Foto des Buches zeigt eine grellgelbe Wellblechwand mit dem Wort „DUST“. Damit schließen sich die Kreise und Linien in dem Buch. „Staub“ als Schlusswort des Bandes? Feimers und Poors „Reisebuch“ ist eine Spurensuche nach dem Amerika, das viele als Traumbild vor Augen haben. Die Autorin und der Fotograf finden ernüchternde Hinweise darauf, dass aus den Träumen Albträume geworden sind. Sie präsentieren einen Road Trip durch die USA des 21. Jahrhunderts, verstörend, desillusionierend und immer wieder beängstigend realistisch:

nothing left but bones
that once were a forest
thick and juicy
full of breath and life and color
white now

Titelbild

Isabella Feimer: American apocalypse. Gedichte und Fotografien.
Mit zahlreichen Fotografien von Manfred Poor.
Limbus Verlag, Innsbruck 2021.
176 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783990391983

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