Worte, die peitschen und den Schmerz lindern

Tatiana Țîbuleacs Roman „Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte“ verknüpft beißenden Realismus mit surrealistisch angehauchter Sensibilität

Von Nicoleta EnciuRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicoleta Enciu

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der erstmals 2017 erschienene Roman Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte (rumänischer Originaltitel: Vara în care mama a avut ochii verzi) ist das Debüt der moldauischen Autorin Tatiana Țîbuleac. 1978 in Chișinău geboren, wohnt die Autorin, die als Journalistin für Fernsehen und Zeitschriften bekannt wurde, bereits seit 2008 in Paris. Durch Kurzgeschichten, die auf ihrem Blog und später auch in Buchform (Fabule moderne, 2014) veröffentlicht wurden, erhielt sie die Aufmerksamkeit einer breiten Leserschaft. Einen großen Erfolg als Schriftstellerin feierte Țîbuleac dann mit dem Roman Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte, der unter anderem mit dem Preis des Schriftstellerverbandes der Republik Moldau (2017), dem Preis der Zeitschrift Observatorul cultural und dem Preis Observator Lyceum (2018) ausgezeichnet wurde. Ihr zweiter Roman Grădina de sticlă (dt. Der Glasgarten, 2018) wurde ebenfalls gut rezipiert und bestätigte den Aufstieg der neuen literarischen Stimme – für dieses Werk wurde der Autorin ihre bisher wichtigste Auszeichnung, der Literaturpreis der Europäischen Union (2019), verliehen.

Țîbuleac weist ein besonderes Gespür und Interesse für alle Schattierungen des menschlichen Leids auf: Schon die ersten Sätze in Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte verblüffen die Leser*innen durch den unverstellten Hass des halbwüchsigen Sohnes gegen seine Mutter. Das Ausmaß des Hasses findet zwar im Laufe der Erzählung eine Berechtigung, wirkt aber zu Beginn des Romans zweifelsohne schockierend: „An dem Morgen, an dem ich sie mehr hasste als je zuvor, hatte Mutter ihr neununddreißigstes Jahr vollendet. Sie war klein und dick, dumm und hässlich. Die nutzloseste Mutter, die es je gab.”  

Der Roman besteht aus 77 nummerierten Passagen, die durch ihre Kürze und In-Sich-Geschlossenheit an Kurzgeschichten, die bisher bevorzugte Schreibform der Autorin, erinnern. Die Reihenfolge wird durch die Chronologie der Geschehnisse jenes Sommers bestimmt – vom 39. Geburtstag der Mutter bis zu ihrem Tod. Häufige Sprünge zwischen Erzählsträngen verbinden die Gegenwart des Ich-Erzählers Aleksy, eines renommierten Malers, mit Erinnerungen an seine Kindheit und Adoleszenz. In eine Krise geraten, nimmt der gehbehinderte und neurotische Künstler den Rat seines Therapeuten an und schreibt die Erinnerungen an den Sommer auf, den er als Jugendlicher mit seiner krebskranken Mutter in Frankreich verbracht hat. Die Erinnerungsbruchstücke ergeben ein recht trostloses Gesamtbild, denn die Autorin hantiert mit einer verblüffenden Anzahl an bitteren Zutaten: Migration, Krebserkrankung, psychische Störung, Scheidung, Tod, Unfall. Generell wird angenommen, dass die Adoleszenz ein gewisses Konfliktpotential in sich birgt – der Konflikt zwischen den Generationen wird aber in diesem Roman ins Extreme geführt. 

Kennzeichnend für das Beziehungsgeflecht zwischen den Figuren des Romans ist eine klare Distanziertheit und sogar Feindseligkeit. Das einzige emotionale Bindemittel der Familie war Aleksys jüngere Schwester Mika. Mit ihrem Tod verschwindet jeglicher Zusammenhalt innerhalb der Familie, das Gefühl der Entfremdung nimmt noch größere Züge an: Die bestürzte Mutter verfällt in schwere Apathie und ignoriert ihren Sohn, Aleksy gerät in eine psychische Krise. Der Hass des Protagonisten, der den Anfang des Romans bestimmt, wird auch zum Selbsthass und Aleksy scheitert daran, in seiner Mutter eine ebenfalls leidende Person zu erkennen, spricht ihr jegliche Normalität ab. Mit sadistischem Vergnügen schwelgt der Jugendliche in grausamen Zerstörungsphantasien: „Am liebsten hätte ich ihr die Zunge abgebissen oder sie ihr herausgerissen und durch den Fleischwolf gedreht.” Nur ein Element passt nicht in das verhasste Gesamtbild: Mutters schöne grüne Augen. 

Angesichts ihres nahenden Todes verändert sich die Mutter radikal. Der Sohn bemerkt die subtilen Veränderungen mit Misstrauen: Sie beginnt, schöne Kleider zu tragen, schneidet sich die Haare und nimmt ab. Zu der äußeren Wandlung kommt eine noch wesentlichere hinzu: Der Sohn stellt fest, dass die Mutter eine angenehme, ja interessante Gesprächspartnerin sein kann. Konfrontiert mit der Gewissheit, dass es der letzte gemeinsame Sommer ist, beginnt der trübe und dunkle Hass unter der wärmenden Sonne der französischen Provinz zu schmelzen. Die neugewonnene Perspektive auf die Mutter geht auch mit einer Veränderung des Selbstbildes des Jugendlichen einher. Aleksy entdeckt die Fähigkeit, Gefühle zu verspüren, wieder und die beiden werden das, was sie nie wirklich waren: Mutter und Sohn. Der Jugendliche kann die eigene Wandlung kaum begreifen und ihm scheint, eine gewisse bedrohliche Magie an dem Haus, an dessen Luft und Licht zu erkennen. Kontrastierend zu dem bisher nüchternen, ja brutalen Ton wirken dabei Szenen, die durch ihre Poetizität die Grenze des Realen überschreiten:

[…] Dann packte sie mich an der Hand und zog mich hinter sich her zwischen die großen traurigen Blumen, die uns mit ihren gezähnten Schädeln anstarrten. Ich war nicht mehr Sohn und sie nicht mehr Mutter. Wir waren ein verschreckter Sterblicher und eine Zauberin, die ihre Beute in eine andere Welt verfrachtete. Wir gingen den letzten Schritt, und die Zeit schloss sich hinter uns wie ein unsichtbarer Reißverschluss. 

[…] war das Haus stets durchflutet von einem ungewöhnlichen Licht, das unabhängig zu sein schien vom Sonnenlicht, auch hatte es eine all den Arten von Licht, die ich bis dahin gesehen hatte, fremde Konsistenz. Dieses Licht war gelb, beinahe pulsierend, und wenn ich die Hand schnell genug bewegte, konnte ich spüren, wie es mir warm um die Finger quoll. […] Am seltsamsten aber kam mir die Luft im Haus vor. Feucht und süß, wie eine enthäutete Weinbeere. Ich hatte den Eindruck, sie nicht einzuatmen, sondern zu schlucken, und nach zwei Tagen spürte ich, dass sie sich überall an mich geklebt und auch meine inneren Organe allesamt tapeziert hatte. Was oder wer jener Ort auch gewesen sein mochte – er hatte mich gefangen genommen und mich zu konservieren begonnen, wie der empfängliche Bauch einer Boa constrictor. 

Die Versöhnung des Jugendlichen mit seiner Mutter ist zwar vorhersehbar, schmälert aber keineswegs die Qualitäten des Textes, Spannung wird auf eine andere Art erzeugt: Der Roman liest sich mit der Hoffnung, er möge kein Ende haben – gerade weil die Gewissheit des näher rückenden Todes stets präsent ist. Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte ist jedoch in keiner Hinsicht eine Happy-End-Geschichte. Die späte Annäherung an die sterbende Mutter bedeutet für den psychisch labilen Sohn keine endgültige Überwindung des Traumas, weiterhin muss er sich einer Therapie unterziehen und wird Maler – sein Lieblingssujet bleiben die Mutter und der letzte gemeinsam verbrachte Sommer, es gibt nur noch ein Davor und ein Danach. 

Ausgehend von der äußeren Struktur des Textes, lässt sich eine innere zweiteilige Struktur feststellen: Der erste Teil zeigt eine Welt voll Lieblosigkeit, kurze und präzise Sätze mit einem abgehackten und kalten Rhythmus bringen den Hass des Jugendlichen in all seinen Schattierungen zur Sprache. Die Ausdrücke von Zynismus und Rohheit, die aus einem Gefühl von Entfremdung erwachsen, können als ein anfängliches stilistisches Zögern verstanden werden und – bedenkt man die literarische Tradition wie die Verehrung der Mutterfigur etwa bei dem moldauischen Schriftsteller Grigore Vieru – man kann diesen Gestus, den übertriebenen, ja krankhaften Hass gegen die Mutter als Traditionsbruch bezeichnen. Dies wird durch die Topographie im Roman unterstützt, deutlich erscheint das Bestreben der Autorin, sich von den regionalen Themen abzulösen: Sie beschreibt eine Migrantenfamilie aus Polen, die in London wohnt, das Mutter-Sohn-Duo verbringt den Sommer in einem Dorf in Frankreich, der Wahlheimat der Autorin. Leser*innen, die sich eine traditionelle Idylle erhoffen, werden allerdings enttäuscht, denn die Globalisierung hat auch das Provinzdorf in einen Ort verwandelt, der von Figuren aus aller Welt besiedelt wird. Auch wenn es der Autorin gelingt, auf der Ebene der Handlung und der Figuren eine postmoderne Welt zu konturieren, verrät der narrative Rhythmus doch die Zugehörigkeit der Autorin und ihrer Erzählung zum rumänischen Kulturraum. 

In Bezug auf die kontrastierenden Grundstimmungen, die den zweiteiligen Text kennzeichnen, lässt sich der Roman als eine Gratwanderung zwischen zwei Extremen betrachten. Deviantes Verhalten und sprachliche Rohheit werden allmählich durch ein zärtliches und stilles Zusammensein ersetzt, der subtile Veränderungsprozess entschärft die wütenden Bilder. Die neu gewonnene Innigkeit und Verständnisfähigkeit werden durch die den zweiten Teil prägende lyrische Stimmung reflektiert, wozu Ein-Satz-Passagen beitragen, die am Ende des Textes zu einem Vers blanc-Gedicht zusammengefügt werden. In diesen durch den gesamten Text zerstreuten Gedichtversen spiegelt sich die graduelle Entwicklung des Jugendlichen wider: Jeder Vers ist eine Hymne an Mutters Augen, die zum Leitmotiv des Romans geraten. Die Autorin verknüpft auf ganz eigentümliche Art und Weise eine zuweilen surrealistisch angehauchte Sensibilität und Poetizität mit dem beißenden Realismus des Erzählten. Zieht man darüber hinaus die ungeheure Last in Betracht, die die Autorin auf die Schulter ihrer Figuren geladen hat, ist ihre Errungenschaft, nicht in Kitsch zu verfallen, umso erstaunlicher. 

Durch die Krankheitsthematik bekommt der Roman außerdem eine höhere Dimension, die über die Schicksale der konkreten Protagonisten hinausgeht. Die krebskranke Mutter sieht als Ursache ihrer Erkrankung die Lieblosigkeit, die sie ein Leben lang begleitet hatte. Den nahenden Tod betrachtet sie als Erlösung und nimmt ihr Schicksal resigniert an. Sowohl ihr Leben als auch das Leben der anderen Figuren gestalten sich aus einer Reihe von Zufälligkeiten mit fatalem Auskommen: Überall schwebt ein Gefühl von lähmender Ungewissheit und blinder Ziel- und Ausweglosigkeit.

Die Errungenschaft des Romans hängt daher nicht mit den ausgefallenen wütenden und zynischen Bildern zusammen, die den Anfang des Textes prägen, sondern vielmehr mit der geschickten Darstellung der Metamorphose, die sowohl der Jugendliche als auch seine Mutter durchmachen. Die Erinnerungen der Hauptfigur Aleksy, die er als psychotherapeutische Übung aufschreibt, sind von einer kathartischen, humanisierenden Wärme durchdrungen, die den anfänglichen dunklen Hass des Jugendlichen ausbalanciert. Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte ist der Roman einer hervorragenden Gegenwartsautorin, deren Worte gleichzeitig peitschen und den Schmerz lindern können.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Tatiana Țîbuleac: Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte.
Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
192 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783895612336

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