Das schöne Märchen einer Männerfreundschaft zweier Ausnahmemenschen

Sigrid Damm über Carl August und Goethe

Von Rüdiger ScholzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rüdiger Scholz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Dichter und sein Fürst: Die lange Freundschaft von 1775 bis 1828 im Zeitalter der Revolutionen in einem kleinen Staat in der Mitte Deutschlands hat seit dem Aufstieg Goethes zum größten Dichter der Deutschen ungezählte Darstellungen erfahren.

Sigrid Damms Buch bietet eine leichte und angenehme Lektüre über das so oft abgehandelte Thema. Keine schulmeisternde Belehrung, sondern eine zurückhaltend sparsam kommentierte Erzählung vorwiegend in Zitaten aus den zahlreichen Briefen von beiden. Auch das Druckbild, dem Standard folgend Zitate in kursiv, Text der Autorin in Normalschrift, ist für das Auge wohltuend.

Diese Darbietungsweise erzeugt Nähe zu den beiden Hauptfiguren, sinnliche Vorstellbarkeit. Bei Ereignissen nimmt die Verfasserin die Haltung einer Historikerin ein. Wo Anschauungen fehlen, ergänzt sie Damm mit Fragen, die das Erzählen in erlebte Rede, in Romanform übergehen lassen, aber mit der Frageform das Erfundene begrenzend. Z. B.: „Wie lange ist das alles her. Erinnert sich Carl August an das Bedenken der Freunde? In jungen Jahren hatte er all diese Mahnungen in den Wind geschlagen. Waren sie nicht zu Recht ergangen? Hat er sich vom Glanz der Paraden […] verführen lassen? Waren es seine Ungeduld, sein Temperament, seine körperliche Verfassung, die ihn bedrängt hatten?“

Geprägt wird der Stil auch durch die künstlerisch bewussten Wiederholungen von Worten und Halbsätzen Carl Augusts und Goethes, Kernzitaten im Dienst effektiver Charakteristik, ein Stil, den Heinrich Heine in den 1830er Jahren in seiner politisch historischen Prosa entwickelt hat. Dominiert bei Heine die Klangalliteration, so bei Damm die Bedeutung. Damms Buch ist arm an Wertungen, Kommentare sind sehr vorsichtig, wirken schläfrig. Nur bei späten Gedichten an Marianne von Willemer wird die Verfasserin etwas munterer und nennt einen Vers „die wunderbare Zeile“. Zu Goethes Bemerkung über den Tod seines Sohnes spricht Damm von „diesen brutal anmutenden Worten“, kritisiert Goethes „mitunter fast penetrante Ehrerbietung, ja Unterwürfigkeit gegenüber Feudalherren und Leuten von Stand“.

Das Porträt von Carl August

Damms Text ist primär ein Buch über Carl August, erst in zweiter Linie über Goethe. Mit der ausführlichen Darstellung des Todes der Großherzogs auf dessen letzter Reise nach Berlin beginnt das Buch und endet mit den pompösen Trauerfeierlichkeiten und der Beisetzung in Weimar; Goethes Rekonvaleszenz und spätere Äußerungen über seinen Fürsten sind angehängt. Der Titel mit Goethes Namen an erster Stelle und seinem Porträt groß vorn auf dem Schutzumschlag und dem kleinen Porträt von Carl August auf der Rückseite lockt auf eine falsche Fährte.

Auffällig ist, dass die ersten zehn Jahre bis zu Goethes Flucht nach Italien bis auf ein paar Rückerinnerungen komplett fehlen. Warum? – Ein weiteres Merkmal besteht darin, dass andere handelnde Figuren keine tragenden Rollen erhalten. Von Goethes Freunden gewinnen nur der fünf Jahre ältere Carl Ludwig von Knebel und Carl Friedrich Zelter spärliche Konturen, von den Freunden und Mitstreitern Carl Augusts außer Goethe nur Christian Gottlob Voigt, sonst niemand; keine der Frauen, nicht die 17 Jahre lang regierende Anna Amalia, nicht Herzogin Louise, nicht Carl Augusts Zweitfrau Karoline Jagemann, nicht Charlotte von Stein, nicht Christiane Vulpius, nicht Ottilie von Goethe, nicht Marianne von Willemer, auch die Söhne von Carl August und sein Bruder Constantin nicht, auch nicht Goethes Sohn August.

Stattdessen wird den Ehrungen und Ordensverleihungen Platz eingeräumt. Dem Verwandten des preußischen Königs wird der schwarze Adlerorden angesteckt. Im August 1827 kam König Ludwig I. von Bayern persönlich nach Weimar, um Goethe das bayerische Großkreuz zu verleihen. Goethe fühlte sich geschmeichelt, dass Ludwig 1828 ihm seinen Hofmaler Joseph Karl Stieler nach Weimar schickte, weil der König ein Porträt von Goethe haben wollte. Erzählenswert für Damm ist auch die dynastische Heiratspolitik, Carl Augusts später Triumph, seine Enkelin Augusta mit dem preußischen Thronerben Prinz Wilhelm von Preußen zu verkuppeln, der 1871 als Wilhelm I. deutscher Kaiser wurde.

Das Werk ist eher ein schlankes Doppelporträt als eine Lebensbiographie zweier Männer. Es vermittelt dennoch recht anschaulich, wie beide ihre Rollen ausgefüllt haben. Ihre Einmischungen in den Gang der Geschichte gewinnen Konturen, bemerkenswert die weit gespannten Interessen, vor allem in den Naturwissenschaften. Warum das so ist, erörtert die Verfasserin freilich nicht. Das System der Kommunikation über kürzeste und weiteste Strecken durch Briefe tritt vor die geistigen Augen von uns Lesenden, wir bewundern die Reisen über große Entfernungen angesichts der langsamen Reit- und Kutschpferde auf den holprigen Straßen. Man erfährt, dass Goethe trotz vieler Auflagen und Übersetzungen in andere Sprachen, sogar ins Chinesische, kein Geld mit seinem „Werther“ verdient hat, weil das Urheberecht gegen Raubdruck nicht durchgesetzt wurde.

Warum dem Band keine Bilder beigegeben wurden, die man heute so schön problemlos farbig in den Text einfügen kann, ist unerfindlich, ein Versäumnis, zumal die Erzählung auf sieben Seiten Bildbeschreibungen von Porträts Herzog Carl Augusts enthält. „Das letzte aber zu Lebzeiten Carl Augusts entstandene Porträt des Fürsten, jener atmosphärische Kupferstich Schwerdgeburths im Weimarer Park, hat meine Sympathie.“ Meint Damm.

Durch die Häufung der Zitate gewinnt man einen Eindruck vom Briefstil von beiden, nüchtern floskelarme Rede bei Carl August, Floskeln der Unterwerfung gegenüber dem Dienstherrn bei Goethe, Divergenz zwischen dessen Altersstil, der Konflikte in der Sprache von ‚anmuthig‘ und ‚gesteigert‘, ‚das Nothwendige‘ und ‚das Zufällige‘ über die Realität erhebt, daneben auch normal derber redet, etwa wenn er an Knebel schreibt, er verbringe seine Tage in Dornburg „in gränzenloser, fast lächerlicher Thätigkeit“. Auffällig die breite Darstellung des Endes von Carl August an zwei Stellen der Erzählung, die Damm zu einem Kult des Sterbens erweitert mit Todesahnung und bedeutungsvoller Wiederholung; gleich mehrmals wird uns mitgeteilt, dass Carl August stirbt.

Sigrid Damms bisheriges Werk

Sigrid Damm hat mehrere Bücher über die Weimarer Klassiker geschrieben. Ihren Stil biographischer Darstellung auf der Grundlage akribischer Quellenstudien mit vorsichtiger romanhafter Anschaulichkeit hat sie in einer Biographie über Jacob Michael Reinhold Lenz, dessen Gesamtwerk sie neu edierte, entwickelt, die 1985 erschien. Diesen Stil haben andere erfolgreich kopiert, etwas Rüdiger Safranski in seiner Goethe-Biographie von 2013. Es folgten Damms Bücher über Goethes Schwester Cornelia, über Goethes Freunde, über Charlotte von Stein, über Goethes letzte Reise mit seinen beiden Enkeln, über Friedrich Schiller. Ihr bekanntestes Buch ist die Biographie über Christiane und Goethe von 1998.

Die mit zahlreichen Preisen versehene Autorin legt mit ihrer quellengenauen Biographie über Goethe und Carl August ein weiteres Buch ihrer Klassikserie vor. Dieser Stil wissenschaftlicher Textgenauigkeit, zwar ohne Zitatbelege, aber mit einem Verzeichnis der Quellenwerke und ausgewählter Forschungsliteratur im Anhang, vermittelt den Anspruch historischer Treue. Damms Buch über Christiane und Goethe hat daher den Untertitel: „Eine Recherche“, der auch für das neue Buch gelten kann, das sich in das Segment ‚gehobene Unterhaltungsliteratur‘ begibt. Im Nachwort spricht Damm über die Mühen der Recherche, der Transskription der Handschriften und der Beschaffung von Literatur.

Die Vorläufer des Mythos Musenstaat

Das Thema Carl August und Goethe hat Tücken, denn Damm muss sich zwangsläufig auf den Weimarer Staat und dessen Entwicklung einlassen. Schwierig auch, weil sich die Autorin zu den Myriaden von Darstellungen über das beliebte Thema verhalten muss und als Historikerin daran gemessen wird.

Goethe und sein Fürst ist seit 230 Jahren Dauerthema aller Goethe-Biographik und Geschichtsschreibung zum deutschen Duodezabsolutismus. Die Liste der Veröffentlichungen mit Tausenden von bedruckten Seiten ist so lang, dass man sich fragt, ob nicht alles dazu gesagt worden ist. Macht man sich die Mühe und stöbert in dieser uferlosen Literatur herum, gerät man schnell ins Kopfschütteln über den Wust von Ideologisierungen, der einem da entgegenstarrt.

Wie kann es auch anders sein! Der Aufstieg zum größten Dichter der Nation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte eine Idealisierung Goethes zur Folge, die einmalig in der deutschen Literaturgeschichte ist. Dieser Aufstieg vollzog sich in der Epoche der Gründung des deutschen Nationalstaates und des Positivismus und in den Wissenschaften und gebar eine seltsame wie bezeichnende Divergenz zwischen Goethe-Philologie und Werkauslegung. Der peniblen Sicherung aller erreichbaren Handschriften und ihrer Veröffentlichung, kulminierend in der große Sophien-Ausgabe1887 ff. von 143 Bänden, der Erforschung aller dokumentierbaren biographischen Details von Goethes langem Leben stand gegenüber ein Umgang mit seinen Werken, der den Nachweis der humanistischen Kultur der deutschen Nation zum Ziel hatte und Goethe zum großen Humanisten auch in seiner Staatstätigkeit erhob. Das Faust-Drama etwa geriet zur deutschen Bibel und sein Autor zu deren Gott.

In diesen Sog geriet auch das Bild des Weimarer Herzogs Carl August, Herrscher über ein kleines Land mit 120.000, seit 1816 190.000 Einwohnern. Insbesondere die deutschsprachige Forschung zum Absolutismus hat die Gegensätzlichkeit und Gemeinsamkeit von Berlin und Weimar herausgestellt: Hier der aufgeklärte, mächtige und machtbesessene Absolutismus Preußens, dort die Repräsentanz der deutschen humanistischen Kultur des Weimarer Musenstaates – beides zusammengehörige Teile der großen deutschen Nation. Damit war die Idealisierung Carl Augusts verbunden, der selbst schon zu seinen Lebzeiten politisch medienwirksam sein eigenes Selbstbild als Fürst von Liberalität, von Kultur und Wissenschaft pflegte.

Als dieses Bild durch den Ersten Weltkrieg Risse bekam und das Idealbild der humanistischen deutschen Kulturnation durch den deutschen Faschismus und den Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, hatte das keineswegs eine grundlegende Revision des idealisierten Bildes des Weimarer Musenstaates zur Folge. Im Gegenteil: Auch nach 1945 wurde Goethe zum Garanten des besseren Deutschland erneut auf den Sockel gestellt. Die Pflege Goethes und damit auch Carl Augusts betrieben beide deutschen Staaten, eine der wenigen Gemeinsamkeiten in der Zeit des Kalten Krieges. Bis heute sind die Weimarer Institutionen der Stiftung Klassik mit ihrem Organ Goethe-Jahrbuch Gralshüter des reinen Goethe-Bildes und der Idealisierung des historischen Weimarer Staates.

Als die sozialhistorische Forschung zum deutschen Absolutismus seit den 1970er Jahren auch negative Seiten an Carl Augusts Regierungsstil und der Verfassung seines Landes aufdeckte, verschob sich das Bild von Goethe, der jetzt stärker als der bürgerliche Reformer gegen einen am ancien régime festhaltenden Carl August gewertet wurde. In der seit den 1990er Jahren einsetzenden Veröffentlichung der Umstände, die zur Hinrichtung von Johanna Höhn 1783 führten, wurde von den Goethe-Apologeten Carl August die Rolle des harten absolutistischen Herrschers zugewiesen, der aus eigener Machtvollkommenheit die Hinrichtung anordnete; so wurde und wird bis heute, etwa im Goethe-Jahrbuch, Goethe entlastet. Auch bei der Auspressung der Bauern und bei der Beteiligung Carl Augusts an Feldzügen und Kriegen und der rigorosen Unterdrückung aller auch nur entfernt nach revolutionärer Veränderung aussehenden Äußerungen wird Goethe als der Mäßigende dargestellt, der gegen Carl August nur schwer Reformen durchsetzen konnte. Dass neuere Forschungen seit Mitte der 1990er Jahre dieses Bild in Frage stellen, erzeugt heftige Abwehrreaktionen bei der Weimarer Kulturklientel. 

Das ist die Ausgangslage für Sigrid Damm.

Die Idealisierung

Sigrid Damm zieht sich aus der Affäre mit einer Idealisierung von Herzog Carl August. Angefangen mit dem kolportierten Urteil des Königs Friedrich II. von Preußen über seinen Großneffen, den dreizehnjährigen Carl August, „er habe noch nie einen jungen Mann dieses Alters gesehen, der zu so großen Hoffnungen berechtige“, was zwanzig Seiten später sicherheitshalber noch einmal wiederholt wird, bis zu Alexander von Humboldts Bemerkung über „den großen, menschlichen Fürsten“ Carl August im Juni 1828 kurz vor dessen Tod   wird an Aussprüchen und Briefzeugnissen alles zusammengetragen, was an Farben zum Bild des reich begabten, wissenschaftlich kompetenten, politisch liberalen und weitsichtigen Fürsten taugt. Carl August ist bei Damm ein Mann, „der weiß, was er will, der etwas Derbes, Erdverbundenes hat, ein Handelnder, ein Tatmensch, ein Politiker, […] ein Schöngeist, […] den Künsten, vor allem dem Theater und der Literatur zugewandt, aber auch den Naturwissenschaften.“ Fast ohne einen Hauch von Kritik wird Goethes spätes Urteil gegenüber Eckermann zitiert. Carl August sei einer „der größten Fürsten, die Deutschland je besessen“, von „der reinsten Menschenliebe … beseelt gewesen, habe immer zuerst an das Glück des Landes und ganz zuletzt erst ein wenig an sich selber gedacht.“ Der Landesfürst habe die „Gunst des Volkes“ besessen. Kommentar von Damm: „Auf Schwierigkeiten und Differenzen geht Goethe nicht ein. Er berührt die frühen Jahre, lobt ausschließlich“. Das ist alles.

Damm setzt der von außen angetragenen und von den Protagonisten selbst forcierten wechselseitigen Überhöhung kein Bild der Wirklichkeit entgegen, sondern geht mit der Ideologie konform und verzeichnet damit das Bild.

Carl August wird fast nur in seiner Außenpolitik gezeigt, seiner Militärkarriere bei den diversen Schlachten von den Revolutions- bis zu den Befreiungskriegen. Die Erfolglosigkeit des kleinen Fürsten mit den großen Plänen ist rührend. Sein Bemühen 1784 um einen Bund der kleineren Fürstentümer scheitert. Dafür agiert er 1785 als Vermittler und Kurier des Dreierbundes von Hannover, Sachsen und Preußen, dem Carl August gezwungenermaßen beitreten muss. Verwandtschaftlich mit dem Preußischen Königshaus verbunden, wird der lästige Carl August, der das Heilige Römische Reich deutscher Nation reformieren will, 1787 zum Generalmajor der preußischen Armee ernannt, wo er politisch nicht stören kann. In den Befreiungskriegen steht er auf dem Abstellgleis. In Metternichs Ära aber avanciert Carl August zum angefeindeten Liberalen, der mit dem Wartburgfest 1817 auf seinem Territorium die aufmüpfigen Burschenschaften förderte und im Deutschen Bund gegen die Fürsten und Könige die Pressefreiheit durchsetzen wollte, aber scheiterte.

Mit innenpolitischen Informationen knausert Damm. Erwähnt werden die Übertragung der Leitung der Kriegskommission 1779 an Goethe und der Versuch, das preußische Anwerben von Soldaten im Weimarer Fürstentum zu hindern, auch die zügige Neugestaltung des Staatsapparates nach der Gebietserweiterung infolge der Beschlüsse des Wiener Kongresses, als das Herzogtum zum Großherzogtum erhöht wurde und Carl August sich seither als „Königliche Hoheit“ anreden ließ. In der neuen Verfassung von 1816, einer pseudoliberalen Konstitution, die das Recht auf Freiheit der Presse hervorhebt, erhalten selbst die Bauern in der beratenden Ständeversammlung zehn Abgeordnete. Wahlen gibt es in Weimar aber erst seit 1852. Dass in Wahrheit alles beim Alten blieb, weder Bürgern noch Bauern irgendwelche Mitspracherechte bei den Entscheidungen eingeräumt wurden, die Leibeigenschaft blieb, der Herzog weiterhin jeden Versuch von Bauernbefreiung mit Gewalt unterdrückte, das sagt Damm freilich nicht.

Weniger Ehrenvolles fällt unter den Schreibtisch der Autorin, etwa die Menschenrechtsverletzungen – ein schon damals hoch aktueller Begriff der politischen Diskussion –, die auf das Konto des Duos Fürst und Geheimrat gehen und die der amerikanische Germanist W. Daniel Wilson  1999 nach den Weimarer Akten dargestellt hat. So hat Carl August z. B. mit Unterstützung Goethes 1776 Häftlinge und obdachlose Vagabunden als Soldaten nach England für den Kampf gegen die Konföderierten in Amerika verkauft. Von der mehrmaligen Besetzung Weimars durch Napoleonische Truppen, von Rekrutierungen für Napoleon, dann für die Befreiungsarmee ist zwar die Rede, aber ohne Wertung.

Kann man aber eine solche Geschichte erzählen ohne die furchtbaren, tödlichen und verstümmelnden Auswirkungen für die zwangsrekrutierten Söhne des Herzogtums Sachsen-Weimar, die zu Hunderten, ja Tausenden in den Schlachten starben oder verletzt wurden und derer nicht einmal in Todesanzeigen im Weimarischen Wochenblatt gedacht wurde? Ohne die verheerenden Folgen für die Bevölkerung? Zu dem Zitat von Carl August über die Vergewaltigungen in den Weimarer Dörfern im Oktober 1813 sagt die Verfasserin nur, Carl August werde „sehr direkt“. Warum fragt Damm nicht nach den Antikriegsgedichten Goethes und warum es sie nicht gibt?

Während das alles geschah, vergnügten sich Goethe und Carl August vom Frühjahr bis zum Herbst in Karlsbad und Teplitz mit dem Spiel cherchez la femme, weitab von allen Schlachtfeldern, ohne finanzielle Sorgen und höchst komfortabel in großen Suiten untergebracht, versorgt vom eigenen Dienstpersonal. Goethe wurde Vorleser bei der tuberkulosekranken österreichischen Kaiserin und tändelte im Wettstreit mit Carl August um die Gunst von deren Hofdame Gräfin O‘Donell. Nebenbei schrieb er seine Memoiren und las daraus vor.

Kann man von der Jagdleidenschaft des Herzogs berichten, ohne die Flurschäden zu erwähnen, die solche Jagden auf den Feldern anrichteten, für die die Bauern gar nicht oder nur unzureichend entschädigt wurden? Gottfried August Bürger fasste 1774 die Klage eines Bauern „an seinen durchlauchtigen Tyrannen“ in ein Gedicht, in dem es heißt: „Wer bist du Fürst, […]/ daß durch Saat und Forst / Das Hurra deiner Jagd mich treibt, / Entatmet wie das Wild? // Die Saat, so deine Jagd zertritt, / Was Roß und Hund und du verschlingst, / Das Brot, du Fürst, ist mein! […] Du nicht von Gott! Tyrann!“

Kann man solche Geschichten von Krieg und Vergnügen und von Jagd im Herzogtum Sachsen-Weimar erzählen ohne jede Kritik? Frau kann – aber um welchen Preis! Es kommt mir so vor, als ob das Buch von einer Autorin geschrieben wurde, die für ihren früheren kräftigen Biss alle Zähne verloren und kein Geld für Zahnersatz hat.

Der Freundschaftsbund

Auch der Freundschaftsbund zwischen Fürst und Dichter wird idealisiert. Zwar werden die Irritationen der Freundschaft genannt, aber der Akzent liegt auf der Großzügigkeit des Herzogs, der seinem Dichterfreund und Minister das große Haus am Frauenplan schenkte, diesem die Flucht nach Italien und das einundzwanzigmonatige Moratorium nicht nachträgt; die Freundschaft bleibt ungetrübt. Breit führt Damm das Dankesgedicht von 1787 aus: „Er war mir August und Mäcen“. Der Herzog nennt seinen Duzfreund „Waffenbruder“. Warum Goethe 1789 für zweieinhalb Jahre das Haus am Frauenplan verlassen musste, darüber geht Damm hinweg. Immer wieder das Lob der Großzügigkeit Carl Augusts. 1815: „Carl August trifft seine Entscheidung großzügig im Sinne seines alten Freundes. Die Lebensfreundschaft der beiden bewährt sich.“ Dazu Goethes Dankbarkeit in dessen Altersstil: „Welch ein Glück, nach so unendlichen Ereignissen, immer noch in gleichem Verhältniß zu stehen, und nach einem solchen Kreislauf, dieselbe Bahn aufs neue zu betreten.‘‘ Dazu passt, dass den Buchumschlag in hellen Pastellfarben das idealisierte Porträt Goethes von Joseph Karl Stieler ziert, das im Auftrag des Königs von Bayern gemalt wurde, als Carl August starb.

Die negativen „Wechselfälle der Freundschaft“, so Damms Untertitel, werden so weit als möglich reduziert. Goethe war Pazifist, ihm ging das Militärgetue des Herzogs auf die Nerven, aber er schwieg. Bei der Aufwartung Carl Augusts beim König in Berlin bringt Goethe während des gesamten Aufenthaltes „kein laut Wort hervor“, das nicht gedruckt werden könnte. Als Zeichen seiner Hofkritik lässt es Goethe, ganz revolutionär, an „Bückerling und Handkuß“ fehlen und wird als „stolz“ gescholten. Schärfere Kritik an den Hofintrigen vertraut er nur Privatbriefen an, die er zur Sicherheit erst auf der Rückreise außerhalb Preußens auf die Post gibt.

Ausführlicher kommen die Trübungen der Freundschaft während der Revolutions- und der Napoleonischen Kriege zwischen 1792 und 1815 zu Wort. Die Darstellung konzentriert sich ganz auf das Verhalten von beiden, das in Briefzitaten anschaulich hervortritt. In der Revolutionszeit sind der Herzog und sein Dichter ein Herz und seine Seele in der Verdammung aller revolutionären Sympathien und Bestrebungen, uneinig nur in der Bewertung Napoleons, den Carl August als Parvenu verachtet, während Goethe große Stücke auf ihn hält. Die Freunde entfremden sich durch Goethes Leben in Jena bei Schiller und den Frühromantikern, auf der Flucht vor seiner Frau Christiane, was Damm so schön kritisch in ihrem Buch über beide, die damals noch gar kein Ehepaar sind, dargestellt hat; hier wird es nicht erwähnt. Beim Vorgehen gegen Professoren und Studenten, die Sympathien für die Revolution äußern, sind sie sich dann wieder einig

Sachsen-Weimar-Eisenach beim Regierungsantritt von Carl August

Die Freundschaft zwischen beiden kann aber nur realistische Konturen gewinnen, wenn man ihre Innenpolitik einbezieht, die den Großteil der gemeinsamen Arbeit ausmachte. Als Herzog Karl Augst mit 18 Jahren die Regierungsgeschäfte übernahm, war Sachsen-Weimar-Eisenach ein zurückgebliebener Agrarstaat mit ein wenig Porzellan- und Textilindustrie, in dem die Mutter von Carl August, Anna Amalia, in ihrer 17jährigen Regentschaft Reformen versäumt hatte, die auf den Sohn zukamen. Veraltet die Organisation der Regierung, die Gesetzgebung, das Justizwesen. In Weimar waren – wie überall in Europa – die Eigentums- und Besitzverhältnisse an Grund und Boden, Gebäuden und an Arbeit durch teils Jahrhunderte alte, schriftlich beurkundete Verträge geregelt, die von der Weimarer Regierung nicht ohne weiteres willkürlich verändert werden konnten. Die Landstände, d.h. die adeligen Gutseigentümer, führten weitgehend ein Eigenleben mit eigenen Einnahmen und nur wenigen Kontakten zu ihrem Fürsten. Sie hatten eine eigene Behörde, deren Landsyndicus ihre Interessen gegenüber der herzoglichen Regierung in Weimar vertrat; in Eisenach und in Jena befand sich eine „Landschaftskasse“. Ihr Beitrag zur Regierung bestand in der Finanzierung des Militärs.

Es gab keinen Staatshaushaltsplan, die Einnahmen und Ausgaben des Herzogs, des größten Grundbesitzers des Landes, waren nicht aufgeteilt in öffentlich und privat; mit der „Schatulle“ des Herzogs gab es nur einen Ansatz. Die Berechnung und Eintreibung von Naturalabgaben, Hand- und Spanndiensten sowie Steuern war bei den Bauern durch die Leibeigenschaft geregelt, basierten auf den uralten verbrieften Rechten und Pflichten. Veraltet war das Finanzgebaren. Während nahezu alle Staaten Europas sich ihren Finanzbedarf über Staatsanleihen beschafften, gab es in Weimar nur Bankkredite, deren Zinsen und Auslaufen die Regierung 1783 an den Rand des Staatsbankrotts brachten. Die Domänengüter waren verpachtet. Die Pächter mussten für die Natural- und Zinsabgaben sowie die Frondienste der leibeigenen Bauern sorgen. Die Regierung konnte in die Frondienste der Leibeigenen jederzeit eingreifen.

Um da Reformen durchzuführen, brauchte Carl einen aufgeschlossenen jüngeren Mitstreiter, den er in Goethe glaubte gefunden zu haben und den er als neues Mitglied im Geheimen Conseil, dem obersten Beratergremium, gegen den Widerstand der heimischen Beamten durchsetzte. Die Freundschaft von Fürst und Dichter beginnt in dieser Konstellation.

Dass Goethe als Berater nach Weimar gebeten und berufen wurde, war damals ein ganz normaler Vorgang. Seit Entstehung der Territorialfürstentümer beriefen Fürsten wie die organisierten adeligen Landstände bürgerliche akademische Juristen als Berater. Diese „Räte“ haben bei der Ausbildung des bürokratischen Anstaltsstaates im 17. Und 18. Jahrhundert und bei den Auseinandersetzungen zwischen Adel und herzoglicher bzw. königlicher Zentralgewalt eine große Rolle gespielt. Es war auch nicht ungewöhnlich, dass solche Juristen zugleich Dichter waren. Andreas Greif, der nach der Tradition intellektueller Humanisten seinen Namen zu Gryphius latinisierte, wurde als Jurist Syndikus der Glogauer Landstände, d.h. er beriet und vertrat den Landadel juristisch gegenüber den Fürsten. Goethe war nicht nur Dichter, sondern auch Jurist mit akademischem Abschluss.

Auch andere haben diese Karriere bei Hofe angestrebt und mit Erfolg. Der Sturm und Drang-Dichter Friedrich Maximilian Klinger konnte mit finanzieller Unterstützung Goethes ein Jura-Studium absolvieren und ging nach mehreren erfolglosen Versuchen, eine Stellung in Deutschland zu finden, als Ordonanzoffizier des St. Petersburger Großfürsten und Thronfolgers Paul nach Russland.

Die ausgeklammerten zehn Jahre

Das entscheidende Jahrzehnt erfolg- und konfliktreicher Zusammenarbeit bei der Regierungstätigkeit seit dem Eintritt Goethes in das Geheime Consilium 1776 bis zu seiner Abreise nach Italien 1786 fällt in Damms Darstellung bis auf wenige Schnipsel weg. Der Kampf zwischen Carl August und Goethe um Reformen im ersten Regierungsjahrzehnt 1775 bis 1785 wird ganz ausgeklammert. Hier aber haben Forschungen des letzten Vierteljahrhunderts gezeigt, dass der Herzog der Reformer war und Goethe nach Kräften Reformen verhinderte.

Ich unterstelle Damm, dass ihr Motiv für dieses Ausklammern in den Ereignissen liegt, die das hehre Bild stören könnten. Damm hätte nämlich darstellen müssen, dass Carl August mit mehreren Reformversuchen am Widerstand seiner Regierungsbeamten scheiterte, an ihrer Spitze Goethe. Eher marginal war, dass Goethe verhinderte, den an Floskeln autoritärer Herrschaft und devoter Untertänigkeit reichen Kanzleistil abzuschaffen. Gravierender war, dass die Folter, deren Anwendung der Herzog im Kindesmordfall Maria Rost verbot, in Weimar nicht per Dekret abgeschafft wurde.

Ebenso nicht die Todesstrafe für Kindestötung durch ledige Mütter unmittelbar nach der Geburt, die Herzog Carl August abschaffen wollte und dafür um Unterstützung bei seinen Beamten warb. Während im Geheimen Consilium Jakob Friedrich von Fritsch die Entscheidung gegen seine Überzeugung tolerierte, wendeten sich dort Christian Friedrich Schnauß und Goethe vehement dagegen. Die Frage war mit der Entscheidung über die Hinrichtung oder Begnadigung zu lebenslangem Zuchthaus für Johanna Höhn verbunden, die allein ihr Kind zur Welt brachte und es in einem Anfall von Panik tötete. Carl August, der für die Begnadigung votierte, konnte sich gegen Goethe, der für die Hinrichtung war, nicht durchsetzen, weil er Goethe für die Abwehr des Staatsbankrotts brauchte und es ihm zu riskant erschien, bei seinen Beamten als Weichling zu gelten, unfähig zu harten Entscheidungen.

Damm hätte berichten müssen, dass Goethe in seinem vor Humanität triefenden Gedicht „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“, das im 19. Jahrhundert den ersten Rang bei den Poesiealbumssprüchen einnahm, das Recht auf Tötung von Verbrecherinnen wie Johanna Höhn begründete. Sie hätte auch eingehen müssen auf Goethes empathische Darstellung der Margarete-Figur im „Faust“, dessen erste Fassung Goethe 1775 mit nach Weimar brachte und dort vorlas. Goethes Beteiligung an der Entscheidung für die Hinrichtung von Johanna Höhn am 28. November 1783 hat Damm im ersten Kapitel ihres Buches über Christiane und Goethe kritisiert und, da das Buch ein Bestseller wurde, für breite Beachtung des Falls bis in die Gedenkrede des Bundespräsidenten gesorgt. In ihrem neuen Buch wird der Fall mit keinem Wort erwähnt.

Redlich wäre gewesen, auf Herzog Carl Augusts Festhalten am Gottesgnadentum seiner Herrschaft einzugehen, auf sein Bild einer von Gott geheiligten ewigen Ständegesellschaft, ja Klassengesellschaft, in der z. B. Mägde und Knechte „gemeiniglich zur niedrigsten Claße des Pöbels“ gehören, jener Klasse, die, weit entfernt von der des Adels und des akademischen Bürgertums, nach Meinung des Herzogs ihr geschichtsloses Leben in der Unmittelbarkeit des Augenblicks zubringt, wie er in seinem Votum zum Fall Höhn ausführte. Damit wandte er sich gegen das „Naturrecht“ –  ein seit langem zentralet Begriff in den politischen Auseinandersetzungen um Menschenrechte, die jedem Menschen, unabhängig von seiner sozialen Zugehörigkeit durch Geburt, eben von Natur aus, zustanden. Der Herzog und Goethe kauften laufend Bücher über aktuelle Themen, sie waren beide auf der Höhe der Diskussion der Zeit.

„Pöbel“ hatte damals schon die negative Bedeutung, wenn auch nicht ganz so stark wie heute, und wurde durch den Begriff „Volck“ ersetzt: Das sind Arbeiter und Arbeiterinnen, Tagelöhner, Bauern, Hintersassen, Instler, Handwerker, Dienstboten, Mägde, Knechte – alles „Untertanen“ des Herzogs. Sie kommen bei Damm gar nicht vor. Mit ihnen haben sich aber Carl August und Goethe in ihrer praktischen Politik im Geheimen Consilium, dokumentiert in ihren Gutachten und Beschlüssen, abgegeben; sie gehören daher in ein Buch über beider Freundschaft. Damm hätte den Herzog zitieren müssen mit seiner These: „der teutsche gemeine Mann ist mit dem Sinne der Subordination gebohren“. Auch war Carl August der Meinung, man dürfe „daß Volck, welches in Deutschland so leichte gehorcht, nicht der festen Zucht entwöhnen“, Zitate, die man bei Wilson nachlesen kann. Wie das praktisch aussah, zeigte sich bei Konflikten.

Die Idealisierung besteht auch darin, dass die Verfasserin Wirtschafts- und Sozialpolitik des Herzogtums komplett ausklammert. Carl August wird ausschließlich als Förderer von Kunst und Wissenschaften gezeigt: er finanziert sein Hoftheater, lässt Prunkbauten wie den Neubau des 1774 abgebrannten Weimarer Schlosses errichten, eröffnet „ein neues botanisches Museum“, Pflanzenpräparate und Samen werden von weither beschafft, er ernennt die Malerin Louise Seidler „zur ersten weiblichen Museumskustodin in Deutschland“, Kunstwerke werden gekauft und katalogisiert, ein „Institut für Veterinärmedizin wird gegründet“, die Reorganisation der Jenaer und Weimarer Bibliothek in Angriff genommen und Goethe übertragen. Was nicht in das ideale Bild passt wie die Einrichtung des umstrittenen „Accouchierhauses“, einer Zwangsgebäranstalt für ledige Schwangere zur Verhinderung von Kindesmord, ein Lieblingsprojekt des Herzogs und des Mediziners Professor Christian Loder, mit dem Goethe zusammenarbeitete, ein Institut, das Frauen eher als Gefängnis denn als helfende Einrichtung ansahen und das der Medizinprofessor Christian Gottfried Gruner 1781 kritisierte, dafür vor das Consilium zitiert und gemaßregelt wurde, lässt Damm weg.

Weimar in der Zeit der beginnenden Industrialisierung

Solche Aktivitäten kosteten Geld, das vor allem von den Bauern erwirtschaftet wurde. Die Regierungszeit Carl Augusts fällt in die Zeit der beginnenden Industrialisierung, in deren Folge die Leibeigenschaft abgeschafft und die Zünfte aufgelöst wurden. Mit der Einführung von mechanischen Spinn- und Webmaschinen in der Herstellung von Baumwollstoffen in England in den 1780er Jahren fielen die Preise und stürzten das herkömmliche Spinn- und Weberhandwerk europaweit in Existenzkrisen; auch der Weimarer Staat war davon betroffen.

Wie Carl August und seine Regierung darauf reagierten, ist für Damm kein Thema, obwohl es hier um die ökonomischen Grundlagen von Staat und Gesellschaft ging und das Weimarer Duo nicht untätig blieb. In dieser Lage mussten Regierungen mit ihren Möglichkeiten der Kapitalbeschaffung als Unternehmer auftreten und moderne Betriebe gründen, die, wenn sie florierten, privatisiert werden konnten. Carl August und sein Freund Goethe haben das versucht, etwa bei der Ilmenauer Textilproduktion, der Ilmenauer Porzellanmanufaktur und der Ilmenauer Kupfermine oder mit Erbauen einer Walkmühle – mit wechselndem Erfolg, aber in viel zu geringem Maße, da die Kapitalbeschaffung über Staatsanleihen unterblieb. Dadurch blieb Weimar ein Staat, der den Wechsel von der Dominanz der Einnahmen aus landwirtschaftlichen Gütern zum Vorrang der Staatsfinanzen durch Steuereinnahmen aus Gewerbe und Handel nicht schaffte. Rückständig blieb Weimar auch dadurch, dass die Zünfte nicht aufgelöst wurden und die Leibeigenschaft nicht abgeschafft. Auch gelang es dem Herzog nicht, den Landadel zur größeren Beteiligung an den Einnahmen des Staates heranzuziehen.

Da die Landwirtschaft die Grundlage der Staatseinnahmen blieb, reagierte der Herzog unnachgiebig hart, wenn es um Pachtzahlungen, um die Erhöhung und Einforderung von Naturalabgaben und Frondiensten ging. „Auspressen“ der Bauern ist das richtige Wort für dieses System. Es gab Spannungen, als Goethe sich gegen die Erhöhung der Naturalabgaben der Bauern im Landesteil Eisenach aussprach; er biss damit beim Herzog auf Granit. Als der Regierungsbeamte Achatius Ludwig Carl Schmid 1781 in einem Schreiben an die Kammer die Partei der ausgepressten Bauern ergriff, wurde nicht die drangsalierende Kammer gerügt, sondern Schmid zurechtgewiesen. Das Reskript mit der Rüge wurde von Goethe verantwortet. Als die Bauern immer häufiger ihre Klagen durch rechtskundige Schreiber ausfertigen ließen und bei der Regierung einreichten, wurde diese Rechtshilfe kriminalisiert. Die Kammer verlangte z. B. 1783, dass „nicht nur die Aufwiegler […] sondern auch ihr Advokat, und zwar erstere mit Zuchthauß oder Amts Arrest bey Waßer und Brod, letztere aber willkürlich bestraft werden möchten.“ Eine Menschenrechtsverletzung, die Wilson aufgedeckt hat.

Nicht besser ging es Gewerbeproduzenten. Wie unterdrückt wurde, zeigte sich bei der Abwiegelung der Arbeiterunruhen der Strumpfwirker in Apolda im Sommer 1793. Als die Verleger, die sich eine goldene Nase verdienten, die Löhne weiter drückten und es zu einem Aufstand kam, erkannte zwar das Geheime Consilium die wahre Ursache und trat für einen eigenen Faktor als Konkurrenz zu den Verlegern als bisher alleinigen Abnehmern der Waren ein, aber daraus wurde nichts. Stattdessen schickte der Herzog Militär nach Apolda, und am Ende kam eine Abmahnung des Gerichtsdirektors Hanisch wegen zu großer Milde gegenüber den „Fabrikanten“, d.h. den Heimarbeitern, heraus. Gegen das Bündnis von Staatsmacht und Verlagskapital hatten die unmittelbaren Produzenten keine Chance.

Das Duo Carl August und Goethe wehrte sich gegen die neuen ökonomischen Trends und glaubte mit geringen Veränderungen unter Beibehaltung des Bestehenden davonzugkommen. Wie naiv Goethe die Ursachen der ökonomischen Krisen verleugnete, zeigen seine Darstellungen in der Novelle, wo der Fürst seiner Geliebten den idealen Austausch zwischen Land und Stadt erklärt, und die Darstellung der Krise des Landhandwerks in den Wanderjahren, wo eine tüchtige Frau ohne jede Strukturreform durch ihr menschenfreundliches Verhalten das Problem löst. Der Fürst und sein Dichter hätten von dem Dichter Voltaire lernen können, wie man Wohlstand schafft. Der sanierte in den 1760er Jahren das Dorf Ferney, seinen Exilort unweit des Genfer Sees, in dem er sich ein Landgut kaufte. Durch geschickte Verbesserungen in der Landwirtschaft, durch die Abschaffung der Leibeigenschaft, durch Verbesserung der Gewerbeproduktion und die Organisation des Handels machte er das Dorf zu einem ökonomisch blühenden Gemeinwesen.

Die Revolutionszeit

In der Revolutionszeit bewährte sich die ‚Waffenbrüderschaft‘ der Freunde. Nicht nur der Herzog, auch Goethe wehrte jede geringste Modernisierung von Gesellschaft und Staat ab. Er war einer  der striktesten Verteidiger des status quo, in nahezu allem und jedem, aus innerster Überzeugung. Als Carl August in der Revolutionszeit infolge drohender revolutionärer „Umtriebe“ auch in Weimar zu einer Politik der strikten Verteidigung des Bestehenden findet, stimmen Goethe und er in ihren politischen Zielsetzungen bestens überein.

Dass Goethe vehementer noch als sein Fürst gegen alle liberalen Veränderungen war, ist seit längerem unbestritten. Auch Damm geht darauf ein und fragt dann glatt, in der Form eines ganz neuen Gedankens: „Vertritt er einen Konservatismus im Sinne der Erhaltung des Bestehenden?“ 

Verschwiegen wird das Aufbegehren der Bauern gegen die Fronlasten. In den 1780er Jahren ging die Regierung gegen prozessierende Bauern vor, sie verbot solche Klagen, um die Bauern einzuschüchtern. In den 1790er Jahren wurde das Vorgehen der Bauern gegen die Fronlasten als revolutionärer Aufstand eingestuft und brutal unterdrückt. Die geforderte Umwandlung von Frondiensten in Geldabgaben lehnte Carl August ab. Nicht einmal diese überall durchgeführte Reform kam in Weimar zustande. 

Verschwiegen wird das Ausmaß der Einschüchterungen und Drangsalierungen von Personen und Institutionen. Wieland, Herder, Fichte und Schiller wurden wegen ihrer geäußerten Sympathien für die Französische Revolution massiv eingeschüchtert, woran sich Goethe engagiert beteiligt hat. Goethe ist 1789 der Scharfmacher beim Verbieten aller Studentenverbindungen an der Universität Jena. Das System von Spitzeln, das der Herzog zur eigenen Information aufbaute, eine Art staatlichen Geheimdienst, war die Antwort auf die Selbständigkeit der Geheimorden und der publizistischen Öffentlichkeit. Herder wurde nach Drohungen seine revolutionsfreundliche Gesinnung abgekauft; Goethe selbst überbrachte das Geld. Über Schiller wurde eine Spitzelakte angelegt. Wilson hat dargestellt, wie Carl August und Goethe Freimaurerlogen und deren liberale Initiativen ausschalteten.

Nach Sympathiebekundungen von Professoren und Studenten für die Revolution bestand die Politik gegenüber der Universität auch darin, die aus der frühneuzeitlichen Autonomie resultierenden Freiheiten in der Selbstverwaltung einzuschränken und der Universität staatliche Gängelungen aufzuerlegen, die sie zur nachgeordneten Regierungsbehörde herabsetzten, wobei Goethe aktiv agierte. Er legte im Januar 1792 einen Plan zum Verbot studentischer Orden und einer staatlich überwachten studentischen Selbstverwaltung vor. Als die Studenten gegen das Verbot freier Vereinigungen mit einem spektakulären Auszug von 3-500 Studenten aus Jena am 19. Juli 1792 protestierten, reagierte der Herzog mit drastischen Disziplinarmaßnahmen. Studenten wurde ohne Untersuchungsverfahren relegiert, eine weitere Verletzung der Menschenrechte. Jens Riederer, der das 1992 und 1995 zuerst dargestellt hat, fehlt in Damms Literaturverzeichnis. Schiller, seit 1789 Professor für Geschichte in Jena, wandte sich strikt gegen jede Veränderung. Um nicht in den Geruch eines Sympathisanten der Französischen Revolution zu kommen, unterschrieb er mit acht anderen Jenaer Professoren im Juli 1792 das Gesuch, Husaren nach Jena zu verlegen und gegen die Studenten notfalls mit Gewalt vorzugehen.

Der politische Prozess in Weimar lief auf die öffentliche Entmachtung der Reformforderungen der Aufklärung hinaus. Die Ideale der Aufklärung wurden nach 1793 von Goethe, Schiller und anderen in die Sphäre des Geistes separiert. Die Dichtung der Klassik und ihr Begriff der Autonomie der Kunst entstanden als entpolitisierende Verklärung der Menschlichkeit. Die Folge war eine zerreißende Spannung zur politischen Praxis. Die Literatur verlor ihre politisch kritische Funktion. Diese Ansicht haben Herbert Marcuse mit seinem Begriff vom affirmativen Charakter der Kunst und Theodor W.. Adorno im 1. Kapitel  seiner Ästhetichen Theorie  vertreten. 

Natürlich gab es daran Kritik. Während z. B. der Herzog verbal gegen die Aufklärung wetterte, klagte der Verleger Johann Bode scharf, dass „das Wort Aufklärung, bey den Deutschen, fast zur Anzeige eines Verbrechens gemacht wird“. Der eigentlich betulich konservative Herder reagierte auf den Ausbruch der Revolution begeistert, und nimmt man den aufmüpfigen Jura-Professor Gottlieb Hufeland, Professor Carl Christian Ehrhard Schmid, Johann Gottlieb Fichte, der entlassen wurde, und den scharfen Kritiker des Absolutismus Carl Ludwig von Knebel hinzu, fragt man sich, warum nicht auch andere, eben Schiller oder auch Wieland, sich ihnen anschlossen, um Reformen durchzusetzen. Nur durch Leute wie Goethe und Schiller war es möglich, erfolgreich disziplinierend und erpresserisch gegen Befürworter der Französischen Revolution und damit einer grundlegenden Reform des absolutistischen Staates vorzugehen.

Zu alldem bei Damm kein Wort. Sie berichtet nur aus der späteren Zeit der Reaktion nach 1816, dass der Herzog den Professoren Lorenz Oken und Heinrich Luden nicht, wie Goethe vorschlug, mit dem Verbot ihrer Zeitschriften wegen nicht ganz konformer Ansichten mit den reaktionären Bundesbeschlüssen bestrafte.

Damm geht auch auf Goethes Kritik am Absolutismus in seiner fiktionalen Literatur nicht ein, nicht auf das Drama Götz von Berlichingen und nicht auf die Prometheus-Ode, deren Veröffentlichung Goethe nach seiner Etablierung in Weimar verhindern wollte, ebenso die Neuveröffentlichung in der Reaktionszeit nach 1819. Auch die Revolutionsdichtungen im engeren Sinn wie die Dramen Der Groß-Cophta, Die Aufgeregten, Die natürliche Tochter, Der Bürgergeneral, die Erzählung Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, das Tierepos Reineke Fuchs oder das Epos Hermann und Dorothea in Hexameterversen, Dichtungen gegen die Revolution und für das Bestehende, fehlen bei Damm. Auch die Staatsutopien in den Dramen Iphigenie und Torquato Tasso sind bei Damm kein Thema, obwohl es sich um politische Literatur bei der Durchsetzung eines aufgeklärten Menschen- und Staatsbildes handelt. Sie erwähnt nur, dass Carl August mit den Dramen Egmont und Tasso wegen der Darstellung fürstlicher Macht nicht einverstanden war.

Das Bild Goethes

Auch Goethes Bild ist bei Damm windschief, weil die enorme Arbeitsleistung Goethes keine Würdigung findet. Da das erste Jahrzehnt entfällt, wird von den großen Leistungen Goethes für die Weimarer Staatsregierung kaum etwas sichtbar. Zwar erwähnt Damm, dass Goethe Leiter der Kriegskommission wurde („Kommission“ ist die Vorläuferbezeichnung für ‚Ministerium‘; nur das Finanzministerium mit der Finanzkasse wurde anders, als „Kammer“, bezeichnet), verschweigt aber, dass Goethe im ersten Jahrzehnt weit mehr getan hat. Er wurde zum Allroundminister. Er kümmerte sich um die Wiedereröffnung des Ilmenauer Kupferbergwerks, war Leiter der Kommission zum Neubau des Weimarer Schlosses, Leiter der Wegebaukommission, d.h. des Verkehrsministeriums, Mitglied der Wasserbau-Kommission, Beauftragter für die Abwendung des Staatsbankrotts. Er organisierte die Hilfe für das hochverschuldete Dorf Melpers. Später war er dann Leiter des Weimarer Hoftheaters, mit der Aufsicht über die Jenaer Universität und mit der Neuorganisation der Bibliotheken betraut. Damm spricht nur von „seiner unablässigen ministeriellen Tätigkeit für die Wissenschaften und die Kunst des kleinen Landes“.

Diese hohe Arbeitsleistung wirft auch ein Licht auf Goethes materielle Ausstattung. Gegen die gängige Darstellung, Carl August habe sich gegenüber Goethe als Mäzen verhalten, eine Ansicht, der Goethe durch sein Gedicht von 1787 Nahrung bot, gilt festzustellen, dass Goethe in dem Jahrzehnt bis 1786 enorme Leistungen für Carl August erbracht hat. Allein die Leitung des Wiederaufbaus des zerstörten Schlosses bedeutete eine Vollzeitbeschäftigung. Goethe hat wie kein anderer Beamter geschuftet. Dass er das zweithöchste Gehalt aller Weimarer Räte erhielt, war seinen Leistungen angemessen und keineswegs ein mäzenatisches Geschenk. Verständlich auch, dass er sich nach zehnjähriger Tätigkeit im Staatsdienst der Tretmühle der Regierungsgeschäfte durch seine Abreise nach Italien entzog mit dem Argument, wer sich mit der Administration abgebe, „ohne regierender Herr zu seyn“, müsse „entweder ein Philister oder ein Schelm oder ein Narr seyn“. Einen längeren Urlaub jedenfalls hatte er sich redlich verdient.

Auch für den Herzog war die Arbeitsbelastung groß. Davon zeugen die ca. 11.000 erhaltenen Akten des Geheimen Conseils bis 1786, die Entscheidungen dokumentieren, an denen auch Goethe beteiligt war, der die Beschlüsse mit unterzeichnete. Damm hätte das alles in den beiden 2011 erschienenen Kommentarbänden zu Goethes Amtlichen Schriften in der Frankfurter Goethe-Ausgabe lesen können, die sie im Literaturverzeichnis anführt.

Die Freundschaft bestand zu wesentlichen Anteilen aus täglicher Regierungsarbeit. Man lernt erstaunt, mit welcher Vielzahl von einzelnen Verhältnissen der Herzog und seine drei obersten Berater zu tun hatten, Folge mangelnder Selbständigkeit der Regierungsbeamten und der Kommissionen, und welch großes Arbeitspensum die Beamten und der Herzog bewältigten. Neben wichtigen Entscheidungen wie der Einführung von Wareneinfuhr-Steuern im Weimarer Landesteil und eines Bierpfennigs, der Stundung von Steuerresten, der Neuordnung des Konkursverfahrens, Berufung von Professoren an die Universität Jena, beschäftigte sich der oberste Staatsrat auch mit der Bohrung eines Brunnens und der Instandsetzung einer durch Hochwasser beschädigten Brücke, mit Zunftstreitereien zwischen Maurern und Dachdeckern, mit der Festsetzung der Klaftermaßes für Holz, der Beschaffung von Tuchen für die Hoflivree und der Abgabe von Bauholz aus den herrschaftlichen Waldungen an die Untertanen im Amt Greyenberg. Das ging bis in Kleinigkeiten wie Schlichtung von Beleidigungen, Erzwingen der Einhaltung eines Eheversprechens, Bestrafung eines trunksüchtigen Studenten und Festsetzung der Form des Begräbnisses für einen im Duell erschossenen Studenten.

Diese Arbeit vermehrte sich durch die Struktur der Entscheidungsprozesse. Ganz anders als erwartet und vielfach dargestellt, wurde nicht mit Befehl und dessen Befolgung regiert, sondern die Entscheidungen fielen nach kollegialer Beratung einvernehmlich. In der Regel waren mehrere Ämter und Personen beteiligt, was einen umfangreichen Briefwechsel zwischen den Regierungsbehörden zur Folge hatte. Das erklärt die riesige Menge an Akten, die noch heute im Thüringischen Hauptstaatsarchiv lagern, obwohl ein großer Teil der tatsächlich angefertigten Schreiben sich gar nicht erhalten hat. Die Akten der Kriegskommission etwa sind bei der Gründung des Deutschen Reiches im Zuge der Übernahme der Weimarer Akten durch andere Behörden im 19. Jahrhundert fast vollständig verloren gegangen. Goethe hat seine amtliche Korrespondenz aus der Revolutionszeit „weitgehend“ vernichtet. Der ehemalige Leiter des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar, Volker Wahl, schätzt, dass sich von den zwischen 1776 und 1786 tatsächlich angefertigten Schreiben nur noch etwa die Hälfte im Archiv befindet.

Davon erwähnt Damm nichts, nicht einmal summarisch. Da diese Tätigkeiten zehn Jahre lang die Zusammenarbeit von Carl August und Goethe ausmachten, hätte die Verfasserin sie zumindest erwähnen müssen.

Damms Wertungen

Die märchenhafte Veredelung beider Protagonisten wäre vielleicht noch zu verkraften, wenn sie mit Ironie erzählt würde. Das geschieht aber nicht. Das Höchste sind ganz zurückhaltende Einwände. Die Lobhudelei Goethes auf seinen verschiedenen Freund gegenüber dem Nachfolger von Carl August kommentiert Damm so: „Ist das nicht ein Zuviel an Harmonie, beschreibt fast eine Idylle?“ Damm, öfter vom Humor Carl Augusts redend, hat bei ihrer eigenen Darstellung für Ironie keinen Sinn, für Satire schon gar nicht. Sie bemerkt auch nicht, dass das von ihr ausführlich beschriebene Porträt des jungen Weimarer Malers Ferdinand Jagemann von Carl August aus dem Jahr 1816 eine Satire auf den Herrscher ist, denn der dicke Bauch unter der zu kurzen Jacke und die im Schritt unvorteilhaft faltigen Hosen beherrschen das Bild; darüber verstärken die Disproportionen der kurze schmächtige Oberkörper mit der viel zu breiten Schärpe und dem zu dunklen achtzackigen Stern des Preußischen schwarzen Adlerordens sowie der als zu klein wirkende Kopf mit dem verkniffenen Blick rechts aus dem Bild. Die linke Hand am Säbelgriff stützt sich wie auf eine Krücke. Das Porträt ist die Karikatur eines Herrscherporträts, gibt den Porträtierten der Lächerlichkeit preis.

Bei Damm ist Carl August die große Ausnahmeerscheinung unter den dreiunddreißig deutschen Fürsten in der Restaurationszeit. Von Carl Augusts „‚Luzidität‘, seiner Klarheit, Helle, seinem Leuchten“ spricht Alexander von Humboldt und sieht darin „‚ein Naturereignis‘. […] Ein Nachruf, wie man sich keinen schöneren denken kann“, meint Damm.

Der Rückfall von Damm in die Idealisierung spiegelt sich auch in dem schmalen Literaturverzeichnis. Bei den Quellenwerken fehlen die Sammlungen von W. Daniel Wilson zu den Revolutionsjahren 1792/93, von Rüdiger Scholz zu den drei Kindesmordfällen von 1783, von Volker Wahl zum selben Thema Kindesmord in Weimar – alle 2004 erschienen. Bei der Sekundärliteratur werden an Kritikern des Weimar- und Goethe-Bildes nur K. R. Eisslers psychoanalytische Goethe-Studie von 1963, deutsch 1983/85, und Karl Otto Conradys Goethe-Biographie von 1982/85 aufgeführt. Keines der Bücher von W. Daniel Wilson wird genannt – Geheimräte gegen Geheimbünde 1991, Das Goethe-Tabu 1999, Unterirdischen Gänge 1999, Goethe, Männer, Knaben 2012, Goethe und die Goethe-Gesellschaft 2018 – Bücher, die zusammen mit Wilsons Quellenedition durch die umfangreiche Lektüre und Präsentation archivalischer Akten die Wende in der Weimar-Forschung herbeiführten. Auch das grundlegende Buch über Das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach 1775-1783 von Marcus Ventzke (2004) fehlt, ebenso die Studie von Gerhard Müller über „Goethe und die Universität Jena“ (2006). Dafür finden sich gleich zwei Bücher von Hans Tümmler, der im Nationalsozialismus Carl August als militärischen Vorkämpfer für das deutsche Reich darstellte, nach 1945 zum krassen Ideologen des Weimarer Musenstaates wurde mit einem Herrscher als „Förderer und fürstlicher Mittelpunkt der deutschen Klassik“ – ausgerechnet Tümmler, der in seiner dreibändigen Ausgabe des Briefwechsels von Carl August 1954 alle nicht in Tümmlers Bild passenden Briefe wegließ. Vertreten sind ferner die Goethe-Verehrer Friedrich Sengle, Albrecht Schöne, Ekkehart Krippendorff und Gustav Seibt, und auch Manfred Osten über Goethes Wortschöpfung „veloziferisch“, ein Autor, der Goethe wieder einmal als göttlichen Propheten des 20. Jahrhunderts feiert. Von den neueren Faust-Interpretationen sind Heinz Schlaffer 1981 und Hans Kaufmann 1991 vertreten – und das Buch von Michael Jäger von 2004, der „Goethes kritische Phänomenologie der Moderne“, so der Untertitel, in einer Interpretation des Faust ‚nachweist‘, welche die Figur des Mephistopheles ganz weglässt, ein Unikum in der Geschichte der Faust-Interpretation. Faust-kritische Bücher wie die von Konrat Ziegler 1919 und von Rüdiger Scholz, in drei Auflagen 1982, 1995 und 2011 erschienen, fehlen.

Wohin dieses Auswahlverfahren führt, zeigt sich in der Bemerkung Damms über die Papiergeldszene, wo sie sich der Meinung anschließt, hier habe Goethe seine Warnung vor dem Betrug durch Banken ausgesprochen: „eine Warnung, die für uns heute längst eine immer wieder bedrohliche und zerstörerische Realität geworden ist“. Wieder die Bibelexegese des Faust: der allwissende Goethe hat das Bankendesaster von 2008 vorausgeahnt. Das aber ist falsch. Seit 1982 ist geklärt, dass Goethe im Faust II das System der Kreditaufnahme des Staates durch Anleihen beschreibt und es mit dem System der Banknoten vermischt. Beides aber waren und sind bis auf den heutigen Tag segensreiche Verfahren. Die Banknoten machten tonnenschwere Transporte von Edelmetallmünzen überflüssig. Die Staatsanleihen, die es wie die Banknoten bis auf den heutigen Tag gibt, dienten und dienen der Kapitalkonzentration beim Staat, der damit öffentliche Aufgaben finanziert, mit fester Verzinsung und festgelegtem Termin der Rückzahlung, abgesichert durch die staatlichen Steuereinnahmen. Im 19. Jahrhundert wurde so der Bau der Eisenbahnen finanziert. Staatsanleihen waren und sind für die Gläubiger sichere Geldanlagen, denn nur im Fall eines Staatsbankrotts verlieren diese ihr Kapital. Man kann gegen den Kapitalismus sein und speziell den Finanzkapitalismus verteufeln, aber mit dem Bankendesaster von 2008, das durch unsolide Kreditvergabe infolge der Gier der Bänker zustande kam, hat Mephistos Einführung von Banknoten und Staatsanleihen nichts zu tun.

Das Märchen

Damm erzählt keine historische Lebensgeschichte, sondern ein Märchen: Vor vielen Jahren, als die Menschen noch keinen Mobilfunk, kein Internet, kein Fernsehen, keinen Rundfunk, kein Telefon, keine Autos, nicht einmal eine Eisenbahn hatten, lebte einst ein Fürst eines kleinen Landes, der weniger Herrscher als Diener seines Fürstentums sein wollte und unermüdlich für das Wohl aller Menschen in seinem Land tätig war. Er war auch ein Freund der Künste und der Wissenschaften und hatte gehört, dass es tunlich sei, sich mit Künstlern zu umgeben. Um das Ansehen und die Bedeutung seines Landes zu heben, engagierte er einen berühmten Dichter als Geheimen Berater und erwies ihm viele Wohltaten, für die der Dichter ihm herzlich dankte, aber auch viel arbeiten musste. Als diesem dies zu viel wurde, reiste er heimlich nach Italien und machte ein Jahr und neun Monate Urlaub. Der geprellte Fürst war so schlau, ihm das nicht vergelten zu lassen, denn der berühmte Dichter war zum Markenzeichen seiner Herrschaft geworden. So konnte der Dichter weiter mit Rinder- und Rehbraten, Moselwein und Tafelmusik zu Mittag speisen und im Sommer ins mondäne Karlsbad reisen. Nur einmal noch gab es Unmut, als der Dichter zwei Dramen schrieb, in denen die Fürsten nicht ganz so gut wegkamen, wie der Fürst es wünschte. Als der Dichter dann noch das Theater reformieren wollte, sprach der Fürst: „zur Strafe entlasse ich dich als Direktor meines Theaters“. Das betrübte den Dichter sehr, aber er verschluckte den Schmerz und fügte sich untertänigst. Das rührte den Fürsten, und er entzog ihm seine Gnade weiter nicht, sondern überhäufte ihn mit Arbeit. So lebten sie trotz vieler Spannungen weiter in trauter Freundschaft bis zu ihrem Ende, erfreuten sich an den ihnen verliehenen Orden, ihren standesgemäß verheirateten Kindern und Enkelkindern, an Kunst und Wissenschaft und waren beschäftigt mit ständigen Bezeugungen ihrer wechselseitigen Wertschätzung, die der Dichter, der länger lebte, auch nach dem Tod des Fürsten weiter fortsetzte und ins Übergroße steigerte.

Dieses Märchen ist so recht nach dem Herzen der heiligen Goethe-Gemeinde, es wird bei den Angestellten der Klassik Stiftung Weimar, der größten Kulturstiftung Deutschlands, überreichlich mit öffentlichen Mitteln ausgestattet, helle Begeisterung auslösen. Es wird die Sitzungen der vielen Goethe-Gesellschaften beleben und zieren. Eine begeisterte Besprechung im nächsten Goethe-Jahrbuch ist Damm sicher. Einen Vorgeschmack lieferte schon die Rezension des Goethe-Kenners und Damm-Verehrers Gustav Seibt zum 80. Geburtstag der Autorin in der Süddeutschen Zeitung: „Mit feinem Gehör lauscht sie dem Quellenmaterial verschwiegene Konflikte, ungelöste Spannungen, die Enttäuschungen und die Momente der Erfüllung ab.“ Na denn…

Für jemanden wie mich, der sich vierzig Jahre lang an der Korrektur des Mythos Weimarer Musenstaat und seines untadeligen Dichters, an der Schaffung eines realistischen Bildes engagiert beteiligt hat, ist Damms Buch nicht nur eine Enttäuschung, sondern eine Provokation.

Es steht jeder Schriftstellerin frei, sich Geschichten über historische Personen auszudenken, zu erzählen und drucken zu lassen. Warum nicht auch Märchen? Dann aber sollte die Verfasserin nicht als Historikerin auftreten, denn von ihr erwartet man geschichtliche Wahrheiten. Sigrid Damm hat es geschafft, im Gewand korrekt zitierter historischer Quellen eine märchenhafte Legende zu erzählen. Darin liegt die Leistung ihres Buches.

Titelbild

Sigrid Damm: Goethe und Carl August. Wechselfälle einer Freundschaft.
Insel Verlag, Berlin 2020.
319 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783458178712

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