Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als ein Arbeiterkind ins Professorenreich

Der Band „Vom Arbeiterkind zur Professur. Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft“ gewährt ebenso seltene wie relevante Einblicke in einen wenig erforschten Karriereweg

Von Anne KramerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Kramer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Max Weber warnte 1917 vor dem Wagnis, sich den Bedingungen der akademischen Laufbahn auszusetzen. Man müsse viele Jahre aus- und durchhalten können, ohne zu wissen, ob die Mühen in einer Festanstellung im Wissenschaftsbetrieb münden. Mehr als 100 Jahre nach Webers Bedenken liegt das durchschnittliche Berufungsalter immer noch bei 42 und nur jede*r fünfte habilitierte Wissenschaftler*in wird auf eine W2- oder W3-Professur berufen. Wenn das ganz allgemein schon ein äußerst riskanter Weg ist, wie mag es dann denjenigen ergehen, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft wenig vertraut mit den ungeschriebenen Regeln des Wissenschaftssystems sind? Nur etwa 10% der unbefristeten Professuren sind von Wissenschaftler*innen besetzt, deren Eltern nicht studiert haben.

Studien zum Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg konzentrieren sich bislang hauptsächlich auf den Übergang ins Gymnasium oder auf Studierende. Der Band Vom Arbeiterkind zur Professur ist eine umfassende Untersuchung, die sich nun explizit dem Weg zur Professur zuwendet. Einleitend geht es den Herausgeber*innen Christina Möller, Markus Gamper, Julia Reuter und Frerk Blome um die gesellschaftliche Relevanz des Themas, empirische Befunde und die Bedeutung biographischer Reflexionen. Sie führen den Begriff „Arbeiterkind“ ein als „Sammelbegriff für soziale Aufsteiger*innen aus unterschiedlichen Herkunftsmilieus, deren (kleinster) gemeinsamer Nenner ist, dass keine*r der Elternteile einen Hochschulabschluss aufweist“.

Drei sozialwissenschaftliche Studien rahmen den knapp 250-seitigen Hauptteil des Bandes, der aus 19 autobiographischen Portraits besteht. Aladin El-Mafaalani verdeutlicht den Bildungsaufstieg aus einer habitustheoretischen Perspektive für Menschen mit türkischem Migrationshintergrund. Christoph Butterwegge geht in seiner sozialpolitischen Analyse auf die ideologischen Aspekte der Bildungsversprechen ein – z.B. den naiven, immer wieder propagierten Imperativ: „Du kannst es schaffen, wenn Du nur willst!“. Solche Versprechen suggerieren, dass nicht die sozialen Verhältnisse, Machtstrukturen und Privilegien verändert werden müssten, sondern nur das individuelle Verhalten. Er kommt zu dem Fazit, dass die immer noch wenigen Bildungsaufstiege nicht verschleiern können, dass sich im Hochschulsektor die Ungleichheiten der Gesellschaft reproduzieren. Deshalb sei es wichtig, auf die Handlungsspielräume der hochschulpolitischen Akteur*innen zu schauen und Partei für sozial Benachteiligte zu ergreifen. Auch Julia Reuter kommt in ihrer biographieanalytischen Studie zu literarischen Selbstzeugnissen von Bildungsaufsteiger*innen (v.a. den französischen Bestsellerautor*innen Didier Eribon, Édouard Louis und Annie Ernaux) zu dem Schluss, dass es an der Zeit sei, wieder über soziale Ungleichheiten und Klassenverhältnisse zu diskutieren, auch wenn sich die soziologische Gesellschaftstheorie früh vom Begriff der Klassengesellschaft verabschiedet hat.

Die autobiographischen Notizen umfassen unterschiedliche Geburtsjahrgänge und Fächerkulturen, die aus der Perspektive des Angekommenseins von den Tücken der Aufstiegsbarrieren erzählen („die Selbstverständlichkeit, mit der sie daherkommen“, schreibt Zoe Clark in ihrem Portrait), von den mit dem Aufstieg verbunden Zufälligkeiten, dem Gefühl der Unzulänglichkeit als ständigem Begleiter, hilfreichen Förderprogrammen und Menschen, die einfach unterstützend und inspirierend da waren. So ganz stimmt diese Aufzählung allerdings nicht, denn jede*r von ihnen hat ganz individuelle und schwer verallgemeinerbare Erfahrungen gemacht. Niemand inszeniert die eigene Geschichte als Handlungsanweisung oder Aufstiegsversprechen und beinahe alle sind sich bewusst, dass ihr Beispiel die Ausnahme von der Regel bestätigt. Lediglich ein Autor, Aloys Krieg, hat eine andere Erfahrung gemacht und berichtet, dass aus seiner Sicht im natur- und ingenieurwissenschaftlichen Bereich ein nicht-akademisches Herkunftsmilieu keine Rolle spiele. Bei allen steht das individuelle Erleben und nicht die Identität im Mittelpunkt. Dies illustriert schon rein stilistisch der Beitrag von Klaus Weber, in dem es heißt:

„demütigungen pflastern meinen weg. nicht bin ich daran zerbrochen, doch alle tun sie weh, manche bis heute. die selbstverständlichkeit der bourgeoisen rede hat keinen platz, an dem ICH anwesend sein könnte. doch wer sagt, dass der platz ihnen gehört? wer sagt, dass es nicht andere, bessere plätze gibt, die zu suchen und zu finden sind – in dieser welt.“

Im Unterschied zur soziologischen Studie kann das Erzählen die Erfahrung vermitteln, wie es ist, sich diesen Platz jenseits von Dualismen wie „Oben“ und „Unten“ zu suchen. Dieser Platz im Zwischenraum ermöglicht es, sich vom Herkunftsmilieu zu lösen, ohne sich emotional davon zu distanzieren und im akademischen System Karriere zu machen und dennoch auch eine herrschaftskritische Persönlichkeit zu bleiben. Nicht zufällig berichten mehrere der Professor*innen, diesen Platz im Engagiertsein für andere gefunden zu haben. Für eine Einstellungsänderung in der Gesellschaft bedarf es nicht nur anderer Strukturen, sondern ergänzend auch das Engagement Einzelner (so auch Pakize Schuchert-Güler in ihrem biographischen Portrait). Die permanente Selbstoptimierung führt im besten Falle zum Erfolg von sehr wenigen. Wie sagte Friedrich Dürrenmatt in Die Physiker so schön: „Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muß scheitern“.

Michael Hartmann übernimmt schließlich die anspruchsvolle Aufgabe, die biographischen Portraits auf Merkmale hin zu analysieren, die für die Berufskarrieren der Professor*innen von Bedeutung waren: vom üblichen Muster abweichende familiäre Besonderheiten, institutionelle Veränderungen im Rahmen der bundesrepublikanischen Bildungsreformen, eine starke Gewichtung des Sicherheitsaspekts bei der Studienfachwahl sowie eine deutlich kritischere gesellschaftspolitische Einstellung. Andrea Lange-Vester nähert sich den Biographien aus dem Blickwinkel der Habitus- und Milieuforschung. Sie zeigt dabei exemplarisch, dass Bildungsaufsteiger*innen keine homogene Gruppe bilden.

Zum Schluss treten die Herausgeber*innen in einen Dialog mit Initiativen von und für Arbeiterkinder in der Wissenschaft sowie mit der Deutschen Forschungsgesellschaft über herkunftssensible Nachwuchsförderung. Diese werden z.B. gefragt, wie sie die Chancengleichheit für Arbeiterkinder einschätzen und welche Angebote sie für Nachwuchswissenschaftler*innen vorhalten, denen es aufgrund ihrer Herkunft an Vorbildern, Mitteln und Wissen für eine wissenschaftliche Karriere fehlt.

Herausgeber*innen und Beteiligte an dem Band tragen dazu bei, das Thema der sozialen Herkunft in der Wissenschaft zu enttabuisieren und gegenüber einem leider noch weit verbreitetem Elitehabitus an Hochschulen und Universitäten zu immunisieren. Die Lektüre ist generell für diejenigen empfehlenswert, die aufhören wollen, „in den dramatischen Kategorien von Erfolg und Versagen zu denken“ (Klaus-Michael Bogdal) und lernen möchten, die Hochschule solidarischer zu gestalten.

Nachwuchswissenschaftler*innen aus nicht-akademischen Elternhäusern werden den Band mit Gewinn lesen. In mehreren biographischen Portraits klingt an, dass während der akademischen Laufbahn lange Zeit eine konkrete Vorstellung des Berufsbildes „Professor*in“ gefehlt hat. Dieses fehlende Bild zur Orientierung, das überhaupt erst einen Möglichkeitsraum eröffnet, erinnert an die Protagonistin des just 2020 erschienenen Romans Streulicht von Deniz Ohde. Für die Studentin aus nicht-akademischem Elternhaus sind zunächst alle Dozent*innen Professor*innen. Erst mit der Zeit lernt sie zwischen Lehrbeauftragten, Wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen und Professor*innen zu unterscheiden. Die Portraits vermögen somit auch als Rollenvorbilder zu fungieren, die zeigen, dass das Berufsbild neben der Lehre und Forschung noch ein komplexes Bündel weiterer Aufgaben umfasst. Abstrakte Begriffe wie „Chancen(un)gleichheit“ können über den Weg der Erzählung menschliche Erfahrung sichtbar machen und verdeutlichen, dass es keine einfachen Kausalitäten und nie nur den einen Grund gibt, warum es geklappt hat. Es bleibt zu wünschen, dass zukünftig auch Mitglieder von Berufungskommissionen stärker für das Thema sensibilisiert werden.

Titelbild

Julia Reuter / Markus Gamper / Christina Möller / Frerk Blome (Hg.): Vom Arbeiterkind zur Professur. Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft.
Transcript Verlag, Bielefeld 2020.
434 Seiten, 27,99 EUR.
ISBN-13: 9783837647785

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