Fußball, Schlamm und Widerstand

„Dezemberkids“, Kaouther Adimis Roman über Kinder, die ihren Bolzplatz verteidigen

Von Caroline MannweilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Mannweiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kinder in Algier proben den Aufstand gegen Generäle, die auf einem Acker, den die Kinder zum Fußballspielen nutzen, Villen bauen möchten. Sie errichten auf dem Acker ein Zeltlager, besetzen den Platz in der Hoffnung, den Baubeginn und die anrückenden Planierraupen aufhalten zu können. Solch ein Plot, bei aller Attraktivität der Konstellation, in der die Sympathien klar dem Underdog, also den Kindern zukommen, birgt natürlich gewisse Gefahren, ins Seichte abzugleiten.

Kaouther Adimis vierter Roman Dezemberkids (Les petits de décembre) entgeht dieser Gefahr jedoch recht mühelos, was vielleicht auch daran liegt, dass man „den Aufstand probende Kinder“ seit geraumer Zeit ganz allgemein etwas ernster nimmt. Allerdings schrieb die inzwischen in Paris, aber bis zu ihrem Masterstudium zumeist in Algier lebende Autorin ihren Roman noch bevor die Fridays for future-Bewegung startete und noch bevor in Algerien nicht zuletzt Jugendliche und Student*innen in der ‚Hirak‘ genannten Protestbewegung gegen eine weitere Amtszeit des ergreisten Präsidenten Bouteflika auf die Straße gingen.

Umso bemerkenswerter erscheint ihr Gespür, das sie nach eigener Aussage bei einem Heimatbesuch in Algier beschließen ließ, aus folgender wahrer Begebenheit aus dem Jahr 2016 einen Roman zu konstruieren: eine Gruppe Jugendlicher prügelt sich mit hohen Offizieren, die in Dely Brahim (einem Viertel Algiers) einen Fußballplatz gekauft haben, um dort ihre Häuser zu errichten. Diese Anekdote nimmt Kaouther Adimi in ihren Roman auf und ergänzt die Prügelei der Jugendlichen mit den Offizieren um den Aufstand dreier 11-Jähriger, Ines, Dschamil, und Mahdi, die, durch die Prügelei auf die Bauvorhaben aufmerksam geworden, die Sache selbst in die Hand nehmen und den Platz, auf dem sie wann immer möglich Fußball spielen, besetzen. In tagelangen Vorbereitungen schaffen sie zuhause haltbare Nahrungsmittel beiseite, Verbandszeug, Zelte, Decken, stets bemüht, den Verdacht der Erwachsenen nicht zu erregen, auf deren Unterstützung sie bei ihrer Aktion nicht hoffen dürfen – einmal abgesehen von Ines Großmutter Adila, die als Freiheitskämpferin große Sympathien für den Widerstand der Kleinen hat, und zudem aufgrund ihres Kampfes gegen die Kolonialmacht „unantastbar“ ist. Jeder im Viertel kennt und bewundert sie, ihr zu schaden, können sich auch die Generäle nicht erlauben, denen ansonsten natürlich alle nur denkbaren Mittel zur Verfügung stehen, um ihre Pläne durchzusetzen.

Die ‚Verflechtungen innerhalb des Machtapparats‘ skizziert Kaouther Adimi dabei in aller angemessenen Konkretheit. Man kennt sich, hat genug heikle Informationen übereinander, um jederzeit erpressbar zu sein, und man hat Untergebene, die es bereitwillig auf sich nehmen, unliebsame Dinge aus der Welt zu schaffen, weil sie persönlich ganz gut davon leben. Allerdings erfordert der Kampf gegen Kinder gewisse Vorkehrungen, Gewalt gegen 11-Jährige, damit würde man international schlechte Presse ernten, das könne man nicht riskieren. Lieber beauftragt man die Manipulation der sozialen Medien durch gefälschte accounts, die die ebendort beliebten aufständischen Kinder diskreditieren sollen. Auch eine Abschaltung des Internets für einige Stunden zieht man in Erwägung, doch habe man damit schlechte Erfahrungen gemacht – die Algerier hingen an ihren Kontaktmöglichkeiten und reagierten sehr schlecht auf entsprechende Blockaden.

Und tatsächlich ist die Nutzung sozialer Medien ein durchaus generationenübergreifendes Phänomen, wie der Roman sehr anschaulich vorführt. Nur genügt dies nicht, um auch den Widerstand zum solchen werden zu lassen, denn die Eltern der revoltierenden Kinder sind mit ihren Schützlingen nicht einverstanden. Sie fordern zivilisiertere Methoden, – Prügeln und sit-ins, das sei doch keine Art – vor allem aber fehlt ihnen die Kraft, Widerstand zu leisten. Zermürbt und mitunter versehrt von Jahren des islamistischen Terrors, den berüchtigten „schwarzen Jahren“ Algeriens, waren sie damit beschäftigt, sich eine halbwegs stabile Existenz aufzubauen, für sich und ihre Kinder. Dass ihre Kinder nicht mehr bereit sind, die dazu notwendigen Arrangements mit einem korrupten Staat hinzunehmen, empfinden sie dabei auch ein wenig als persönliches Scheitern, sind sie doch selbst nicht gerade stolz auf diese Kompromisse.

Es gehört zu den Qualitäten Adimis Romans, dass sie diese Gemengelage der Elterngeneration in wenigen Szenen zu vermitteln vermag, die ganz en passant erklären, warum Revolutionen keine so einfache Angelegenheit sind. Nicht nur läuft man Gefahr, das ohnehin nicht Üppige, was man hat, zu verlieren, auch lähmt die Frage, warum man nicht schon viel eher eine Veränderung der Verhältnisse vorangetrieben hat. Etwas anders gelagert sind freilich die Sorgen der Generäle. Diese fürchten weniger unmittelbare Nachteile, sie haben ihre Schäfchen im Trockenen, sind aber trotzdem unzufrieden, weil sie sich ungeliebt fühlen. Wo man im Land auch hinkäme, beklagen sich die Gattinnen der Generäle, stoße man auf wenig Sympathie. An diesen Stellen nähert sich der Roman naturgemäß dem Satirischen, doch geht Adimi eher sparsam mit solchen Überzeichnungen um.

Auch da, wo sie die Großmutter Adila bewegende autobiographische Notizen verfassen lässt, die diese ihrer Tochter und Enkelin hinterlassen möchte. Denn Folter und Vergewaltigung haben es bekanntlich an sich, dass sie die Opfer auch dann noch seltsam beschmutzen und beschädigen, wenn diese Vorgänge bereits lange zurückliegen. Ohne Pathos also lässt Adimi die Revolutionärin Adila ihr Leben Revue passieren und flicht dabei einen Rückblick auf die politische Situation Algeriens seit dem Unabhängigkeitskrieg ein, der mitunter allzu diskursiv-thesenhaft gerät – Adimi scheint hier ein Lesepublikum im Kopf zu haben, das mit algerischer Geschichte nicht sehr vertraut ist, was zumindest für ihr französisches Publikum keine ganz unrealistische Vorstellung sein dürfte. (Hier sei angemerkt, dass Adimi ihre Romane jeweils bei einem französischen und dem algerischen Barzakh-Verlag verlegen lässt, eine interessante Variante für Autor*innen, die zwischen Ländern stehen…). Trotz ihrer etwas störenden Thesenhaftigkeit erreichen Adilas Worte gleichwohl ihre Tochter Jasmin, die mit anderen Schwierigkeiten als ihre Mutter zu kämpfen hat, deren Leben aber auch nicht eben einfach ist. Als alleinstehende Frau wird sie Opfer eines sexuellen Übergriffs und ist vor allem ständig dem Vorwurf ausgesetzt, ein ruchloses Leben zu führen, einfach weil sie unverheiratet ist.

Gewiss, all dies sind keine neuen Themen in der algerischen Literatur, doch Adimi tut gut daran, diese Geschichten der Frauen zu erzählen, denn sie verleihen dem Aufstand der drei Kinder Ines, Dschamil und Mahdi eine zusätzliche, hoffnungsfrohe Dimension. Die drei fußballbegeisterten Kinder lassen sich durch Geschlechterstereotype nicht im Geringsten durcheinanderbringen. Sie halten zusammen und bieten den Erwachsenen die Stirn, die ihnen ihren ‚Fußballplatz‘, ihre bei Regen verschlammte Brache, wegnehmen wollen, um ausgerechnet dort ihre Villen zu bauen, wo ihnen doch, wie der Jugendliche Jussef bemerkt, „ganz Algerien gehört“. Ihre Entschlossenheit wirkt dabei ansteckend, schnell bekommen sie Unterstützung von anderen Kindern aus ihrem und den umliegenden Vierteln, die sich dem Zeltlager zur Besetzung des Platzes anschließen. In den sozialen Medien regnet es Petitionen „Rettet den Bolzplatz von Dely Brahim“. Ob sie mit ihrem Protest Erfolg haben, darf bezweifelt werden – zur Räumung des Platzes wird ein Feuer gelegt, natürlich als Unfall deklariert, weil man keine offizielle Gewaltausübung wünscht, die Kinder aber irgendwie dort wegschaffen muss. Doch Ines, Dschamil und Mahdi lassen sich nicht einschüchtern und kehren auf den von der Feuerwehr unter Wasser gestellten Platz zurück: „Wir bleiben hier. Wir haben keine Angst vor dem Schlamm, wir sind es gewohnt, damit zu leben.“

Mit diesen Sätzen schließt der Roman und greift zugleich auf seinen Anfang zurück, der Schilderung eines verregneten Februartages in Algier, an dem die Stadt im Schlamm „ertrinkt“. In diesen Rahmen gebettet erwächst aus der Anekdote und fast zu schönen Geschichte vom Widerstand der Kinder ein stilistisch stellenweise etwas unbefriedigender, aber Mut machender Roman über das zeitgenössische Algerien, der durch das ausführliche Nachwort der Übersetzerin Regina Keil-Sagawe auf sehr erhellende Weise ergänzt wird.

Titelbild

Kaouther Adimi: Dezemberkids.
Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe.
Lenos Verlag, Basel 2020.
249 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783039250004

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