Schnittmuster des Lebens

Elizabeth Gilbert huldigt in „City of Girls“ den starken Frauen und New York

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Möchten Sie einen fast fünfhundert Seiten langen Brief bekommen? Gedruckt wiegt er 600 Gramm, und die Post würde ihn tatsächlich noch als Brief befördern. Wegen seiner Dicke dürfte er jedoch kaum durch handelsübliche Briefkastenschlitze passen. Die Bestseller-Autorin Elizabeth Gilbert, zu erinnern wäre hier an ihren mit Julia Roberts prominent verfilmten Roman Eat Pray Love von 2006 mit Millionenauflage, hat sich einen solchen Brief ausgedacht, adressiert an die Tochter eines Mannes, dessen beste Freundin und in einem gewissen Sinne auch Geliebte darin Auskunft gibt über ihr bewegtes Leben.

Die Briefschreiberin heißt Vivian und ist mittlerweile eine alte Frau im Ruhestand, die neben ihrem kaum zu erschütternden Selbstbewusstsein einen hohen Anteil an Abgeklärtheit zu erkennen gibt. Die Ups and Downs in ihrem Leben haben sie illusionslos werden lassen und sich zugleich in Lebensweisheit verwandelt. Letztere hat ihr nicht nur eine Offenheit für das Leben beschert, sondern sie auch mit einer pluralistischen Vernunft ausgestattet, um es mit den Worten eines Philosophen auszudrücken. Am Ende geht es um zwei elementare Einsichten, um das Leben und Leben-Lassen, also im weitesten Sinne um die Akzeptanz dessen, was wir heute Diversity nennen, und um das, was die Schauspielerin Shirley MacLaine in einem Song mit folgenden Worten auf den Punkt bringt: „it‘s not where you start, it’s where you finish, it’s not how you go, it’s how you land.“ Klar, daraus kann nur eine Erfolgsgeschichte gemixt sein, eine Hymne auf die Individualität, ein Loblied auf die starke Frau – und bei allem schwingt die Faszination für eine Stadt mit, die dies erst ermöglicht, dieses magische, energiegeladene und schrille New York. Das hat über Strecken hin etwas ebenso Anrührendes wie Berührendes, wenn es nur nicht ebenso oft hart an der Grenze zur Sentimentalität und zu so manchem Klischee verliefe. Den Unterhaltungswert schmälert das indes kaum.

Den Grund zu dem Brief liefert die oben erwähnte Tochter, die Vivian im April 2010 den Tod ihrer Mutter berichtet und dies mit der Frage verknüpft: „Vivian, […] da meine Mutter nicht mehr ist, frage ich mich, ob Sie sich im Stande sehen, mir zu erzählen, was Sie für meinen Vater waren?‘“ Gewiss ist Vivian dazu im Stande, was die letzten siebzig Seiten des Romans beweisen. Da aber jede Geschichte eine Vorgeschichte und die wieder eine weitere und diese schließlich noch eine Vorgeschichte hat, dreht die Briefschreiberin die Uhr mal eben fast siebzig Jahre zurück. Wir landen in Vivians Kindheit, sie wächst in wohlhabenden Verhältnissen in der neuenglischen Provinz auf. Schon hier wird deutlich: Dieses Mädchen ist anders, denn sie hat ihren eigenen Kopf und schert sich nicht darum, was andere über sie denken.

Bei der Großmutter, eine „alternde Kokette“, „die sich in einer Wolke aus Parfüm und Klatsch durchs Leben bewegte und sich kleidete wie eine Zirkusvorstellung“, lernt Vivian das Schneidern, und zwar in Perfektion. Mit der High School hat die Tochter aus gutem Hause nichts am Hut und quittiert sie kurzentschlossen schon nach einem Jahr. Da kommt die rettende Idee, Vivian wird zur Tante nach New York abgeschoben. Auch diese Tante ist wie die Großmutter ein gelungenes Beispiel in Extrovertiertheit. Sie leitet ein drittklassiges Theater – das „Lily Playhouse“ mit wohl eher mittelprächtigen Musicalshows für die kleinen Leute aus der Nachbarschaft. Hier wird Vivians Schicksal besiegelt. Denn das Schneiderhandwerk, das sie souverän beherrscht und das aus jedem alten Fummel eine grandiose neue Garderobe zaubert, macht sie unversehens zur Kostümbildnerin. Mag ihr Leben nun noch so viele Kurven und Crashs erleben, von der Nähmaschine kommt sie nicht mehr weg.

Vivian erzählt tolle Geschichten, aber sie ist auch eine arge Plaudertasche und walzt erst im frühreifen, altklugen und später im abgeklärten Plapperton alles platt, was sie im Leben an Komischem, Schrulligem, Groteskem, Traurigem und Glücklichem erlebt. Sie erzählt von einem exzessiven Nachtleben, von viel Alkohol, vielen Männern, vom Sound der Zeit mit Namen Jazz, vom Krieg, der hinterher die Stadt und die Menschen umkrempelt. Sie wird zur besten Freundin des Revuegirls Celia Ray, bei dem schwer zu sagen ist, ob sie mehr Cocktails oder mehr Männer konsumierte. Sicher ist nur, dass ihre Schönheit überall Aufruhr erzeugte. „Sie war die Essenz von New York City.“ Und so geht es in 28 Kapiteln bis in die heutige Zeit, um dann mit Kapitel 29 endlich auf Angelas ursprüngliche Frage zu antworten.

Der Unterhaltungswert ist, wie schon gesagt, unbestritten, auch wenn wir all die Dialoge in unzähligen Hollywood-Filmen schon zündender, giftiger und sprühender gehört haben. Manchmal schafft es Elizabeth Gilbert nicht über das hinaus, was wir gemeinhin einen Altherrenwitz nennen. Eine große Schauspielerin erinnert sich: „Das war, als ich noch Französisch lernte – eine gute Sprache für eine Schauspielerin, weil sie dich lehrt, deinen Mund zu benutzen.“ Damit auch keine Leser*in den Witz verpasst, liefert die Autorin noch die Bemerkung hinterher: „Na, wenn das keine hintersinnige Aussage war.“ Immerhin sind in diesem Roman zur Abwechslung mal die Männer die Sexobjekte, während Vivian Herz und Kopf lieber für ihre Freundinnen reserviert (eine vernünftige Einstellung, scheint mir).

Eine andere Art von Witz ist, wenn die Autorin verspricht, wie beispielsweise zu Beginn des 19. Kapitels: „Was mir als Nächstes widerfuhr, ist schnell erzählt.“ Von wegen, auf nur 20 Seiten schnell erzählt. Aus der Literaturgeschichte wissen wir, dass die besten Geschichten aus und über New York nicht zuletzt die Kurzgeschichten sind, diese nachgerade epigrammatisch eingedampften Plots, die so kaleidoskopisch, so rasant, so rücksichtslos daherkommen, wie die vom Hudson und vom East River und vom Atlantik umspülte Stadt selbst. Man nehme zum Beweis die New Yorker Geschichten einer Dorothy Parker, einer Djuna Barnes, einer Maeve Brennan. Selbst eine Anita Loos, die über die Avenues erzählerisch hinwegtänzelt, liefert die Geschichten mit dem richtigen Puls. Nebenbei bemerkt, diese Stadt scheint literarisch eine Frauendomäne zu sein. Wie auch immer, New York verträgt keine Langatmigkeit.

Titelbild

Elizabeth Gilbert: City of Girls.
Aus dem Englischen von Britt Somann-Jung.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2020.
496 Seiten , 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783100024763

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