Alles wirklich – doch auch wahr?

René Mariks erzählerisches Missverständnis „Wie einmal ein Bagger auf mich fiel. Eine Provinzjugend.“

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Bücher autobiographischen Zuschnitts, die, ist man versucht zusagen, bis zu jedem Zeilen- und Seitenende mit wohl tatsächlich Geschehenem angefüllt sind – und denen es dennoch an Welthaftigkeit, Lebendigkeit und Erleben, an Einsichten, Quintessenz und Überzeugungskraft mangelt: an jenem dank ästhetischer Formung, dank Sprache, Fokus und Perspektive geschöpften und auf Grundsätzliches und Generelles zielenden ‚Mehrwert‘ nämlich. Dieser mit den schillernden Begriffen „Wahrheit“ und „Sprachkunst“ ausgezeichnete wie gezeichnete ‚Mehrwert‘ erst macht ja den als solchen stets auch von Kontingenzen, faits divers und Trivialitäten aller Art durchmüllten Lebensverlauf eines Einzelnen für andere anregend, eindringlich und vielleicht sogar instruktiv und lässt ihn für übergeordnete erinnerungskulturelle Belange zur aufschlussreichen, durch Begreifen des Vergangenen geadelten Geschichte werden.

Solchen Büchern, denen trotz (oder auch aufgrund von) Materialfülle dieser ‚Mehrwert‘ abgeht, kann man, sofern kein eitel-selbstgefälliger Exhibitionismus die Feder führt, sondern erkennbar ein existentiell-therapeutisches, mit lebensgeschichtlicher und -praktischer ‚Not‘ verbundenes Anliegen das Schreiben motiviert, einschränkungslos attestieren, rechtschaffen und achtenswert zu sein. Allein, sie sind deshalb noch nicht wesentlich, belangreich und bedeutungsvoll im Sinne von zugestandenermaßen eng geführten Begriffen von Literatur und Geschichte.

René Mariks Wie einmal ein Bagger auf mich fiel ist ein solches von ‚Not‘ hervorgetriebenes, ehrliches und ebenso anständiges wie schonungsloses Buch – darauf lässt schon die vorangestellte, der Schwester, dem Bruder und der Mutter geltende Widmung im Kontrast zum nachfolgenden, den Vater ins Abseits, ins Zwielicht zumindest stellenden Chris Griffin-Zitat „Fuck you Dad!“ schließen. Dieser positive erste Eindruck verfestigt sich dann, wenn man im Text häufiger auf eingeschobene Aussagen und Reflektionen stößt, die Wiedergaben meist unschönen Geschehens unterbrechen und die wie die folgende den Vater und des Autors Verhältnis zu diesem betrifft:

Was ich weiß, ist, dass er uns auf seine hilflose Art irgendwie geliebt hat. Das soll keine Rechtfertigung für seine Taten sein, denn das kann es nicht. Ebenso wenig wie man die Taten von rechten Schlägern durch ihre schwere Kindheit rechtfertigen kann. Es geht eher darum, dass ich mich rechtfertigen muss, vor mir selbst. Dafür, dass ich ihn trotz allem geliebt habe, selbst dann noch, als ich von der einen Tat erfahren habe, der unverzeihlichen […]. Denn das ist die Schuld, mit der ich leben muss: dass ich mich nicht von ihm abgewendet habe, dass er für mich nie aufgehört hat, mein Vater zu sein.

Doch lassen solche Einschübe neben anderem auch schon erahnen, dass es sich bei Wie einmal ein Bagger auf mich fiel eben um kein „eindrückliche[s] Porträt einer Provinzjugend“ und auch nicht um ein „unvergleichliches Stück Zeitgeschichte“ handelt, wie uns der etwas zu vollmundig werbende Klappentext versichern will. Um nämlich „Porträt“ und „Stück Zeitgeschichte“ und nicht nur (selbstkritischer) Rechenschaftsbericht und Registratur zu sein – in diesem Falle dokumentierende Anhäufung von Einsamkeit, Leere, Scheinwelten, Widrigkeiten, Hoffnungsschimmern, Bekenntnissen, Komischem, Widerwärtigkeiten und immer wieder Gewalt der einen oder anderen Art –, hätte es des die Vergangenheit bannenden Erzählens bedurft: der veranschaulichenden, (hinter-)fragenden, wägenden, mutmaßenden, offen lassenden, wertenden und damit zugleich in Sinn- und Bedeutungsangebote überführenden Durchdringung jener vielen episodenhaften bis kleinstteiligen Erinnerungen bedurft, die Marik zusammenträgt. Diese für ihn und sein Leben mehrheitlich nachvollziehbar gewichtigen – „frage mich, wie nur alles so kaputt sein kann und wann es so geworden ist“ –, doch auch ungezählte ‚leer laufende‘ Nichtigkeiten verzeichnenden Erinnerungen ordnet der Autor zwar in stimmiger, meist der Chronologie folgenden Weise an: Aber er bringt sie nur ausnahmsweise zu einem Sprechen, das über das schiere Faktuale, das protokollhafte „ist geschehen“, „habe ich gesehen“, „habe ich empfunden“, „habe ich gedacht“ etc. hinausreichen und das so beispielsweise auch plausibilisieren würde, warum überhaupt das Geschehene uns als Lesern mitgeteilt wird, mitzuteilen ist und als lesenswert behauptet wird.

Wie einmal ein Bagger auf mich fiel, ein sich zwischen Präsentation und Bekenntnis, zwischen Banalem, Grotesken und Tragikomischen bewegendes Panoptikum vor allem des Hässlichen, erstattet – vor allem aus der Perspektive markanter Situationen der Gegenwart – Bericht über die Kindheit und Jugend des 1970 geborenen René Marik, den der Verlag als „Komiker, Gitarrist, Sänger, Schauspieler und diplomierter Puppenspieler“ vorstellt. Das Ganze ‚spielt‘ Mitte der 1970er Jahre bis in die zweite Hälfte der 1980er Jahre im Westerwald und damit in einer Gegend, die dem früher geborenen Rezensenten zufälligerweise als jahrzehntelangem geographischen ‚Nachbarn‘ – für Insider ironisch anmutendes Stichwort: Siegerland – auch mental wohl vertraut ist. Das Antiidyllisch-Hinterwäldlerische, im Gewand libertiner ‚Modernität‘ auch Reaktionäre, das vor Jahrzehnten noch mit einem Leben in diesen Mittelgebirgsregionen einherging, wird im Falle des Autors noch einmal dadurch ins eher Singuläre gesteigert, dass er die Zeit zwischen ca. dem 6. und dem 10. Lebensjahr im Bundeswehrlager Stegskopf verbringt, in dem „viel gebrüllt, gesoffen, gepisst wird“: „Ich bin nichts, ich kann nichts, gebt mir eine Uniform!“

Die Kantine dieses Bundeswehrlagers nämlich wird von seinen Eltern betrieben, vor allem von der nichts als arbeitenden Mutter, der die „Emanzipationsbewegung der 60er […] einzig und allein eingebracht“ hat, „dass sie neben dem Haushalt nun auch noch arbeiten und Geld verdienen darf. Herzlichen Glückwunsch.“ Das macht den kleinen René, der entscheidende sechs bzw. sieben Jahre jünger als seine Geschwister ist, zu einem in vielerlei Hinsicht mehr als unsicheren, stets fremdelnden Einzelgänger, Daumenlutscher und „Alienbeobachter“. Geradezu Öl aufs Feuer für diese prekäre Existenz sind zudem der Charakter seines alkoholkranken, ebenso unberechenbaren wie aufschneiderischen und gewalttätigen Vaters sowie die ehelichen Probleme, die daraus erwachsen. Als sich der Vater eine nach provinziellem Geschmack mondäne Geliebte nimmt, zieht die Mutter schließlich mit den Kindern in eine nahe gelegene Gemeinde. Doch dauert es nicht lange, und ihr Mann drängt sich ihr wieder auf, so dass die alte familiäre Leier aus Gleichgültigkeit, Stumpfsinn, Überdruss, Verwahrlosung und Aggression, aus mühsam inszenierter bürgerlicher Wohlanständigkeit nach außen und permanentem, gottserbärmlichen Kriegszustand nach innen Urständ feiern kann.

Das ist auch die Zeit, wo der am Schulversager vorbeischrammende René auf die Hauptschule wechselt. Dort besteht seine einzige Betätigung freilich darin zu versuchen, nicht „dem plötzlichen Hirntod zu erliegen“: „Himmel, wie ich das alles hasse!“ Zusehends verfällt er in eine „Rebellion des Stumpfsinns“, so dass es auch nicht weiter überrascht, dass ihn „eigentlich […] das alles überhaupt nicht“ interessiert, was mit seiner nach schwachem Hauptschulabschluss angetretenen Lehre in einer Mercedes-Werkstatt in Zusammenhang steht. Da ist es – selbstverständlich – um den ersten Kuss ganz anders bestellt, den er bei einem Ausflug der ansonsten nur mit „christlicher Verblödung“ aufwartenden Jungschar mit einer Karin tauscht.

Selbstverständlich: Anstatt den Jugendjahren René Mariks an dieser Stelle weiter bis zu jenen Tiefpunkten zu folgen, die im Haupttitel des Buches und in den eingangs zitierten Ausführungen über den Vater angedeutet sind, sei abschließend auf einige heikle inhaltliche, darstellerische und sprachliche Eigenheiten des vorgelegten Lebensberichts hingewiesen. Einige davon lassen sich unter den Begriff „Stereotyp“ bringen. Es bedarf schon einiger Anstrengung, gängige Lebens- und Genussmittel, Gegenstände, Modewörter, Lesestoffe, Rituale, Lieder, Redensarten, Ansichten, Fernsehsendungen, Metaphern, Typen, Rollenbilder usw. usf. beispielsweise aus der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zu benennen, die im Text nicht erscheinen. Hier entsteht der Eindruck, als habe der Autor als ‚Jäger und Sammler‘ unter Authentizitätsdruck gestanden und die eigene (Familien-)Biographie etwas angereichert.

Problematischer ist es allerdings, dass permanent und unmarkiert die Perspektiven gewechselt werden, diejenigen nämlich des wahrnehmenden, erlebenden und erleidenden Kindes bzw. Jugendlichen und diejenige des sich erinnernden Erwachsenen – diese sich aus ganz anderem Empfinden und Denken speisende Perspektive dominiert im Übrigen unzuträglicher Weise. Das geht im Einzelfalle so weit, dass der Erwachsene eine wenig erfolgreiche kindliche Jagd auf Mäuse mit einem vermutlich als moralisch korrekt empfundenen „zum Glück ohne Erfolg“ meint kommentieren zu müssen.

Im Zusammenhang mit den Perspektivenwechseln stehen schließlich einige sprachliche Probleme. Wenn uns der damals neunjährige Protagonist mit in den Sommer 1979 und auf eine ‚Besichtigungstour‘ durch das Bundeswehrlager nimmt, befremdet ein Satz wie der folgende: „Die grauen Scheißhaustüren sind vollgekrakelt mit ejakulierenden Penissen, Mösen und Frauen, die nur aus Geschlechtsteilen zu bestehen scheinen.“ Das Befremden rührt aber auch daher, dass – wie an ungezählten, einschlägigeren anderen Stellen auch – in einer Sprache geschildert wird, die, als Objektsprache, eher einem sprachrotzigen Jugendlichen oder einem der verachteten Krakeler bzw. Soldaten als einem besonnen-distanzierten Berichtenden ansteht.

Aber selbst da, wo es sprachlich ‚ziviler‘ zugeht, wird vom Autor selbst ständig der umgangssprachliche Jargon der 1970er und ’80er bemüht, der doch nicht ablösbarer Teil jener Wirklichkeit ist, an der er ganz offensichtlich sehr gelitten hat. Da ist es sehr schade, dass dem Autor nur selten ein so schöner, ein westerwäldisch so atmosphärisch wahrer Satz gelingt wie „Der Sonntag klebt an mir wie Fichtenharz.“

Titelbild

René Marik: Wie einmal ein Bagger auf mich fiel. Eine Provinzjugend.
Verlagsgruppe Droemer Knaur, München 2019.
240 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783426302217

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