Was steht in der Notiz von Mrs. Liddell?

Guillermo Martínez greift auf spannende und vergnügliche Weise mit „Der Fall Alice im Wunderland“ die Tradition der Oxford-Krimis wieder auf

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Sind Sie sich im Klaren darüber, dass wir nie die Polizei hätten rufen dürfen? Dass Hinch und Anderson deshalb gestorben sind? Ist Ihnen bewusst, dass wieder einmal, wieder einmal …?“ Er bricht ab, ringt um Fassung: „Ich möchte nicht, dass Sie sich auch noch damit quälen, denn es war alles meine Schuld. Die Schuld dieses Fluches, der auf mir liegt. Vielleicht hätte eher ich daran denken sollen, mich umzubringen.“ Und dann bittet er Guillermo, sofort abzureisen: „Ich habe bereits eine Studentin verloren, ich möchte nicht, dass Ihnen auch noch etwas zustößt.“

Das ist das Ende eines Falls, über den der argentinische Mathematikstudent mit dem für Engländer schier unaussprechlichen Namen Guillermo Martínez gestolpert ist. Er studiert in Oxford bei dem Logik-Professor Arthur Seldom, der Mitglied in einer ehrwürdigen Gesellschaft ist, der Lewis-Carroll-Bruderschaft. Aber dann passiert etwas Unerhörtes: Die Studentin Kristen entdeckt in einem Archiv eine verschollene Seite aus dem Tagebuch von Lewis Carroll, eine Seite, die herausgerissen wurde – was sie für die Forschung nur umso spannender macht. 

Natürlich will Kristen den Fund nicht preisgeben. Es ist ihre einmalige Chance auf eine große wissenschaftliche Karriere und gerade bei Gelehrten muss man ja aufpassen, dass sie einem die Entdeckungen nicht stehlen. Selbst ihrem Doktorvater vertraut sie sich nicht an. Aber dann wird sie nachts angefahren und überlebt schwerverletzt. Ist diese Seite so wichtig, dass jemand einen Mord dafür begehen würde? Es bleibt nicht der einzige Anschlag, nach und nach werden Mitglieder der Gesellschaft und ein Journalist gemeuchelt. Und das Skurrilste ist: Sie werden nach einem Muster begangen, das aus Lewis Carrolls Klassiker Alice im Wunderland stammt.

Lewis Carroll hieß eigentlich Charles Lutwidge Dodgson, er lebte von 1832 bis 1898, war von 1855 bis 1892 Mathematiklehrer (zunächst Tutor, später Kurator) in Oxford, ein brillanter Mathematiker und einer der ersten, der das neue Medium Fotografie für sich entdeckte: Um die 3.000 Fotos hat er mit der damals noch sehr umständlichen und aufwendigen Technik gemacht. Berühmt wurde er durch sein Buch Alice im Wunderland; berüchtigt durch die Fotos, die er von den sehr jungen Mädchen seiner Umgebung machte, auch von Alice Liddell, dem Vorbild für seinen Roman. Viele von ihnen posierten für ihn, manche sind verkleidet, und es sind sogar einige wenige Aktfotos dabei.

In der viktorianischen Zeit war es allerdings nicht unüblich, dass kleine Kinder als Symbole der Unschuld verklärt wurden, sodass ihre Nacktheit nichts Anstößiges hatte – viele haben nackte Kinder fotografiert oder gemalt. Dodgsons Kontakt zu den Mädchen wurde von den Eltern zunächst auch nicht beargwöhnt, bis er 1880 aus unbekannten Gründen mit dem Fotografieren aufhörte. Es ist nicht bekannt, dass er die Mädchen jemals berührt oder ihre Fotos auf andere, sexuelle Weise benutzt habe.

Aber genau darum kreist der Kriminalroman von Martínez: Die Notiz, die Kristen gefunden hat, gibt eine Seite aus Carrolls Tagebuch wieder. Und diese Stelle könnte so wichtig sein, dass alle Biografien, alle Aufsätze über Caroll Makulatur sind. Die Notiz beginnt mit den Worten: „L.C. erfährt von Mrs. Liddell, dass…“ – so viel gibt sie preis. Dummerweise passiert das grade in einer Zeit, als ein neues Carroll-Handbuch erscheinen soll, an dem alle Mitglieder der Lewis-Carroll-Bruderschaft mit Beiträgen beteiligt sein sollen. Wollte also jemand von ihnen sie umbringen? Oder war es möglicherweise der Verleger, der mit diesem Sammelband endlich einmal Geld verdienen könnte, nachdem er mit den früheren Büchern über Carroll eher ein Minus erwirtschaftet hat?

Sehr geschickt streut Martínez Spuren in den Roman: Beispielsweise hat der Bentley der alten Dame Josephine eine Beule und es stellt sich heraus, dass sie früher eine berühmte Rennfahrerin gewesen ist. Und Hinch wird verdächtig, als sich herausstellt, dass er pädophile Fotos im Stil von Lewis Carroll macht und sie bis in hohe Kreise verkauft. Und natürlich sind all diese Spuren falsch, wie sich das für einen guten Krimi gehört. Der Hauptspaß an diesem sehr flott geschriebenen, spannenden Roman besteht in den skurrilen Hauptpersonen, an ihrer Spitze der aufklärende „Detektiv“ Arthur Seldom, passenderweise Professor für Logik, und sein Schüler und Ich-Erzähler, der durchweg Probleme mit mehreren Frauen hat, mit denen er anbändeln will: 

Eine Dualität, die nicht topologischer Art war, machte sich in mir breit oder spaltete mich vielmehr. Bis vor zwei Tagen hatte ich beim Anblick der Tennisplätze auf dem Universitätsgelände jedes Mal sehnsüchtig an Lorna gedacht, jetzt sah ich Sharons und Kristens Gesichter vor mir wie zwei sich gegenseitig ausschließende Möglichkeiten, die sich energischer bekämpften als die Hegel’schen Gegensätze, mit jeweils sehr überzeugenden Argumenten (…), beide erschienen mir in gleicher Weise anziehend, ohne dass irgendeine meiner (oder Carrolls!) logischen Diskriminanten mir geholfen hätte, einer den Vorzug zu geben.

Es kommen Gödels Unvollständigkeitssatz vor, Oscar Wilde, Jorge Luis Borges‘ Pierre Menard, Autor des Quijote und der US-amerikanische Philosoph Willard Quine und sein Gedankenexperiment vom Anthropologen, der einen Hasen sieht und von einem Eingeborenen das Wort „gavagai“ dazu hört – aber nicht weiß, ob es „Hase“ bedeutet, „Essen“, „Tier“, „Plage“, „große Ohren“, „weiße Farbe“, „Jagdzeit“ oder „schnelles Laufen“. „Es könnte auch sein, dass es so wenige Hasen auf der Insel gibt, dass jeder von ihnen einen Namen hat und Gavagai diesen einen bezeichnet“: Wörter sind also vieldeutig. Manchmal liest sich der Krimi wie eine Anspielung auf Umberto Ecos Der Name der Rose, in dem scheinbar auch Morde nach einem literarischen Vorbild begangen werden.

Natürlich ist das Buch neben diesem intellektuellen Spaß auch ein spannender Krimi mit zahlreichen falschen und richtigen Spuren, vielen Verdächtigen, ausgefeilter Detektivarbeit und einer überraschenden Lösung. Martínez‘ Der Fall Alice im Wunderlandes ist bereits der zweite Fall für das Ermittlerduo nach dem erfolgreich verfilmten Die Oxford-Morde (das zum Erscheinen des Romans Der Fall Alice im Wunderland neu aufgelegt wurde) – ist damit eine schöne Wiederaufnahme der gelehrten, oft witzigen, meist geistreichen Oxford-Krimis, die mal eine gewisse Tradition hatten und mit Dorothy Sayers und Edmund Crispin auch einige literarische Höhepunkte erlebten.

Titelbild

Guillermo Martínez: Der Fall Alice im Wunderland. Kriminalroman.
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar.
Eichborn Verlag, Köln 2020.
320 Seiten , 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783847900467

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Titelbild

Guillermo Martínez: Die Oxford-Morde. Kriminalroman.
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar.
Eichborn Verlag, Köln 2020.
224 Seiten , 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783847900474

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