Die Geschichte dreier Generationen

Reinold Ophüls-Kashima übersetzt den japanischen Roman zum Film „So weit wir auch gehen“ von Koreeda Hirokazu ins Deutsche

Von Rolf ParrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Parr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum wird der Roman zu einem japanischen Film aus dem Jahre 2008, der seit 2011 auch in deutscher und englischer Sprache verfügbar ist, ins Deutsche übersetzt und damit das sekundäre gegenüber dem primären Medium aufgewertet? Der Übersetzer Reinold Ophüls-Kashima nennt in seinem Vorwort gleich vier Gründe: erstens die literarische Qualität des japanischen, kurz nach dem Film erschienenen Romans (wobei leider nicht gesagt wird, worin genau diese Qualität besteht); zweitens den neuen Blick, den die Übersetzung des Romantextes auf das Verhältnis von Roman und Film werfe, welches in Literatur- und Filmwissenschaft bisher kaum Interesse gefunden habe; drittens, dass derjenige, der „etwas über die japanische Gesellschaft von heute erfahren möchte“, „der Lektüre des Romans viel entnehmen“ könne; viertensschließlich vertiefe „die Lektüre des Romans das Verständnis des Films, weil wir in der literarischen Verarbeitung des Stoffs sehr viel mehr über die biographischen Hintergründe der Personen […] erfahren“ als im Film selbst.

So weit wir auch gehen (verbreitet ist für den Film auch der englische Titel Still Walking) handelt von einem Familientreffen im Haus eines betagten Ehepaars, er ehemaliger Arzt, sie Hausfrau. Anlass ist das Gedenken an den frühen Tod des älteren ihrer beiden Söhne, der bei der Rettung eines Ertrinkenden umgekommen ist. Neben dem jüngeren Sohn, einem arbeitslosen Restaurator, und seiner Frau, die als Witwe einen Sohn mit in die Ehe gebracht hat, ist dessen Schwester mit Mann und Kindern anwesend. Koreeda Hirokazu nutzt diese Drei-Generationen-Konstellation dazu, die einzelnen Figuren immer wieder aufs Neue ihre Einstellungen zum Leben, zu Heirat, Ehe, Familie und Beruf, zu dem, was gut und was schlecht ist, was man tut und nicht tut, aussprechen zu lassen. Das geschieht – im Film pointierter als im Roman – mal in Form von Fragen, bei denen die Antwort im Vorhinein feststeht (‚Wann nach dem Tod des Mannes darf man wieder heiraten?‘; ‚Soll man überhaupt eine Witwe heiraten?‘), mal durch bloße Feststellungen, die den Charakter von Lebensweisheiten haben: ‚Wenn man alt ist, ist es gut, wenn man sich eine Tochter ins Haus holt.‘; ‚Jeder hat insgeheim ein Lied, das er – wenn er allein ist – hört!‘; ‚Für eine Frau gehört es sich nicht, ein Glas Bier zu trinken.‘

Auf diese Weise werden Vorstellungen entwickelt, die meist unvermittelt geäußert werden und im Raum stehen bleiben, sodass viele dieser Sätze in Nicht-Kommunikation einmünden (was der Film durch Großaufnahmen von ‚sprechenden‘ Gesichtern etwas besser als der Roman realisieren kann). Für die Leser*innen ermöglicht das – im Buch noch etwas deutlicher als im Film – einen Einblick in die Vorstellungen davon, was von den drei Generationen, aber auch von Männern und Frauen jeweils als ‚normal‘ angesehen wird. Nuancenreich durchgespielt wird alles dies noch einmal, da diese Vorstellungen nicht einfach nur auf Gegensätze hin konzipiert sind, sondern manche der Erwartungshaltungen der Eltern indirekt auch durch die Generation der Kinder übernommen werden. So versucht der jüngere Sohn seine Arbeitslosigkeit als Restaurator mit viel Aufwand auch dann noch zu kaschieren, als sie allen anderen längst klar ist, womit er die elterliche Norm, nicht arbeitslos sein zu dürfen, zumindest ein Stück weit annimmt. Einzig der Junge, den seine Frau mit in die Ehe gebracht hat, unterläuft dieses Kommunikationsspiel, indem er auf Fragen des Typs ‚Was macht die Schule?‘ stets mit „normal“ antwortet. 

Wiederkehrende Diskurselemente wie diese kommen im Roman prägnanter heraus als im Film, was eine der von Ophüls-Kashima betonten Qualitäten darstellt. Der Preis dafür ist die eine oder andere auf den ersten Blick redundant erscheinende Formulierung. Doch gerade das ständige Wiederholen eignet sich als Verfahren dazu, stereotype Formulierungen deutlich zu machen. Der Roman zeigt damit das auf sprachlicher Ebene auf, was der Film eher bildlich umsetzt; beide aber tun dies in der für Koreeda Hirokazu typischen unaufgeregten, ja geradezu bedächtig leisen Art.

Der solchermaßen ‚langsame‘ japanische Film, in dem auf engem zeitlichen und räumlichen Hintergrund bei zugleich streng chronologischer Darstellung geradezu behutsam von Situation zu Situation und von Figurenkonstellation zu Figurenkonstellation übergegangen wird, ist nicht unbedingt dazu geeignet, auch literarisch spannend erzählt zu werden, denn narrative Verfahren wie Zeitsprünge, Vor- und Rückblenden sowie ein zeitraffendes Erzählen sind von der filmischen Vorlage her eigentlich weitgehend ausgeschlossen. Der Medienwechsel vom Film zum Roman macht Abweichungen daher geradezu nötig: So erzählt der Roman aus der Ich-Perspektive eines Vertreters der mittleren Generation, des jüngeren Sohnes des alten Ehepaars, was es ebenso ermöglicht, Kindheits- und Jugenderinnerungen zu thematisieren wie auch das im Film nicht gezeigte Geschehen nach dem Familien-Wochenende, etwa den Tod der Eltern. Demgegenüber sind es die filmischen Bilder bzw. Einstellungen symbolischer Art (der Weg abwärts auf der Treppe vom elterlichen Haus zum Bahnhof, die zur Lebenstreppe wird, auf der die jüngere Generation im Aufstieg, die ältere im Abstieg gezeigt wird), welche der Roman nicht aufgreift und bei einem Ich-Erzähler auch nur schwer hätte nutzen können.

Empfohlen sei daher, Film und Buch zusammen zu rezipieren, die sich im Falle von So weit wir auch gehen bzw. Still Walking auf das Beste ergänzen. Den japanischen Romantext dazu nun auf Deutsch zugänglich gemacht und mit ihm noch einmal auf den Filmemacher Koreeda Hirokazu hingewiesen zu haben, ist ein Verdienst, das sich der Übersetzer erworben hat. Und wer sich klarmachen will, wie schwer das Handwerk des Übersetzens ist, der schaue sich einmal die deutschen Untertitel auf der DVD an.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Hirokazu Koreeda: So weit wir auch gehen. Aus dem Japanischen übersetzt, eingeleitet und mit einem Glossar versehen von Reinold Ophüls-Kashima.
Reinold Ophüls-Kashima.
Iudicium Verlag, München 2020.
150 Seiten, 18 EUR.
ISBN-13: 9783862051267

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