Existieren Menschen? Wahrscheinlich schon, aber wie?

Georges Perec schrieb 1957 nur scheinbar eine einfache Dreiecksgeschichte

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Georges Perec ist einundzwanzig und zutiefst unzufrieden, nichts scheint ihm zu gelingen, wie er seinem späteren Verleger mitteilt. Er schreibt, stößt „aber auf unüberwindbare Hemmnisse“, sei in „sechs Monaten nicht in der Lage gewesen, auch nur einen der Texte zu Ende zu bringen, mit denen ich angefangen hatte“. Muss er so verzweifelt sein? Nimmt man seinen ersten, unvollendeten Roman Das Attentat von Sarajevo, den er nach Ablehnung durch Verlage ad acta legte und dessen Typoskript lange verschollen war, dann gibt es dafür keinen Grund.

Wahrscheinlich verdankt sich einiges, was hier unklar bleibt, diesem Fragmentcharakter. Und doch – man spürt, das Rätselhafte und Merkwürdige bliebe bestehen, hätte Perec dieses Buch zu Ende geschrieben. Vielleicht hat das mit einer Leseerfahrung zu tun, die man bei Perec machen kann: Es ist, als würde man betrunken in einem Wasserbett schlafen – anders gesagt: Alles schaukelt, nichts ist sicher, alles rutscht und zwar mächtig ans Fußende, wo irgendetwas immer fremder aufleuchtet. Am deutlichsten wird diese Erfahrung bei Perecs W oder die Kindheitserinnerung, wo eine immer brutaler werdende hochgeordnete und zugleich dystopische Gesellschaft wohl als Parabel auf den Holocaust entworfen wird. Wie in W laufen auch im Attentat von Sarajevo zwei unverbundene Erzählstränge nebeneinander her – auch dies verunsichernd, weil unklar bleibt, was beide Stränge miteinander verbindet – nur der Ort, Sarajevo?  

Der Strang, der vom Attentat auf den Kronprinzen Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 handelt, wird wieder, eingestreut in den zweiten Strang (dazu weiter unten), zerlegt. Zum einen wird der Hergang des Anschlags wie in einer Reportage erzählt, zum anderen wird vehement die später vor einem Gericht verhandelte Sicht, die Attentäter seien nur Werkzeuge Großserbiens gewesen, das sich gegen Österreich-Ungarn aus Machtgründen durchsetzen wollte, zurückgewiesen. Vielmehr wird behauptet, sie hätten autonom gehandelt, seien revolutionäre Nationalisten gewesen, die im Namen der Freiheit das Selbstbestimmungsrecht der Völker hochhielten. Der Erzähler sieht die Attentäter als „eine starke Jugend voller Mut und Lebenswillen, die mit einem Schlag die letzten Schranken niederreißt, die sie daran hindern, erwachsen zu werden“. Ihre Absichten seien „immens“, die „Konsequenzen unbedeutend“ gewesen. Für sie war es „ein unvergesslicher Tag, an dem sie, unter Einsatz ihres Lebens, bewiesen haben, dass sie leben wollten, in Freiheit leben wollten! Das, jawohl, ganz genau war dieses Attentat“. Das ist, gelinde gesagt, schräg – die Konsequenzen, der Erste Weltkrieg und dessen Hekatomben von Toten, eine Petitesse? Und: Nur aus der Sicht der Terroristen erschließt sich, was dieser Mord wirklich war? Kurz: wieder ein Schwanken auf dem Wasserbett – was soll das bedeuten? 

Der zweite Erzählstrang ist scheinbar nichts weiter als eine vorhersehbare Dreiecksgeschichte zwischen dem Ich-Erzähler, Branko (einem jugoslawischen Intellektuellen) und Mila, Brankos Geliebter: Ich-Erzähler sieht ein Foto von Mila, verliebt sich sofort in sie (tut er das? Das weiß er nicht einmal selbst am Ende), spannt, nach viel Aufwand, Mila Branko aus. Ort zuerst: Paris, dann, da Mila nach Belgrad zurückreist, Belgrad (der Erzähler reist ihr hinterher), dann Sarajevo, um Branko zu treffen, ja sich in die Möglichkeit eines Attentats auf ihn hineinzusteigern. Da wäre es also, das neuerliche Attentat (das aber nicht stattfindet). Das zeigt, dass das keine bloße Dreiecksgeschichte ist. Warum sollte der Ich-Erzähler Branko töten wollen? Wieder schwankt man, ist verunsichert.

Auch die Figur der Mila ist merkwürdig, verunsichert nicht nur den Ich-Erzähler. Existiert sie nur als Projektions- und Interpretationsfläche des männlichen Blicks? Ja, schon, aber. Ist sie nur Beute der Männer? Ja, es geht scheinbar nur um das Rivalisieren um das Weibchen. Der Ich-Erzähler liebt Mila gar nicht, er will sie Branko nur ausspannen. Ist das so? Will er sie nur „haben“? Nun, ein Freund des Erzählers unterstellt ihm das, und der Erzähler, auch hier Schwanken, glaubt es (fast) selbst: „Ich weiß nicht, wie es ihm“, dem Freund, „gelang, mir zu verstehen zu geben, dass Mila nicht unbedingt notwendig sei, dass sie niemals wesentlich gewesen sei: vielleicht, weil er mich von Anfang an durchschaut hatte.“

Also nur ein machistischer Eroberungszug – und dem Erzähler gelingt es, Mila Branko auszuspannen? Schon, aber warum reist er dann zu Branko, um diesen davon zu überzeugen, ihn und Mila in Ruhe zu lassen, Branko stalkt nicht, das wäre nicht nötig gewesen, sie hätten glücklich bis an ihr Lebensende leben können. Und warum geht der Erzähler, der ja nun von Mila geliebt wird, so weit, dass er Brankos Ehefrau Anna zu einem Mordanschlag auf Branko anstiften möchte?

Nein, einfach ist diese Geschichte nicht. Da stimmt was nicht. Aber was? Mann-Frau plus Testosteron – das ist bestenfalls eine Schicht, falls überhaupt. Denn auf eine merkwürdige Weise ist Mila für den Ich-Erzähler gar nicht „verfügbar“. Wieder Schwanken und Irritation – gedoppelt. Bevor der Erzähler und Mila ein Paar werden, glaubt er, Mila sende zusehends eindeutige Signale. In einer Schlüsselszene hält er ihre Hand, diese drei Sekunden dauernde taktile Verbindung versichert ihn ihrer Liebe. Nicht das einzige Zeichen, das auch den Leser überzeugt. Doch Mila sagt, sie liebe ihn nicht, er sei nur ein Freund – und auch das überzeugt. Der Ich-Erzähler selbst schwankt, wird ins Schwanken gebracht.

Aber man kann noch weiter fragen: Existiert Mila überhaupt? Dessen ist sich der Erzähler später nicht mehr sicher. Jedenfalls leugnet er die Existenz der gesamten Geschichte einem imaginären Richter gegenüber ab: „Los, ein letzter Satz noch, eine letzte Anstrengung. Wir müssen den Sack zumachen. Ein letztes Geständnis, eine letzte Lüge vielleicht. Weil doch alles wieder in Vergessenheit gerät. Weil Mila, Anna, Branko nie existiert haben! Ich bin nie nach Belgrad gefahren. Ich kenne Sarajevo nicht. Ich weiß nicht, wovon Sie reden, ich rede nur in Anwesenheit meines Verteidigers!“ Und wieder Schwanken: Lüge? Geständnis? Aber warum ein Geständnis? Woher kommt der Richter? Der kommt daher, dass der Erzähler zusehends in die Sprache des Gerichts verfällt – als hätte die was in Liebeshändeln zu suchen. Gab es also diese Geschichte überhaupt, existier(t)en diese Menschen, von denen der Erzähler erzählt?

Oder ist, was berichtet wird, zwar gewesen, aber nur subjektiv so gewesen, wie es erzählt wurde, im Erinnern verfälscht? Eine Erinnerung sei „per definitionem stets unter Vorbehalt zu betrachten, eine Auslegung immer parteiisch“. Also gewesen, aber nur subjektiv verzerrt gewesen? Oder ist es doch anders? Wird, was war, einfach gelöscht, als wäre es nicht gewesen und ist dann auch mithin nicht gewesen? Denn nach dem Ende der Liebesgeschichte mit Mila fragt sich der Erzähler, ob es möglich sei, „dass sich meine Gefühle in dem Maße auflösen, in dem ich diese vergangenen Zeiten heraufbeschwöre? Mir schwebt ein Tonbandgerät vor, wo die aufgenommenen Worte automatisch gelöscht werden, wenn man das Band ein weiteres Mal benutzt“ – Gefühle würden also dann verschwinden, wenn man sie erneut aufruft? Einfach ausgelöscht werden? Und mithin würden die Menschen, an die sich diese Gefühle hefteten, ausgelöscht werden – und dann waren sie auch nicht existent? Das ist alles sehr merkwürdig: Man hat auf der einen Seite scheinbar eine Präzisierung, die durch die Sprache von Anklage und Verteidigung nahegelegt wird. Da geht es immer um Schwarz-Weiß, Anklage –Verteidigung, Verurteilung oder Freispruch. Doch auf der anderen Seite häufen sich Zweifel, ein Schwanken im Wahrnehmen beim Erzähler, ein Ableugnen, Verunklaren.

Sicher kann man Perecs Schreiben nicht einfach auf seine Biographie „herunterkürzen“ – sein Vater fiel 1940 als französischer Soldat als Georges vier Jahre alt war, seine Mutter wurde 1943 als Jüdin verschleppt, sie kam wahrscheinlich in Auschwitz um. In W oder die Kindheitserinnerung heißt es, wohl darauf gemünzt: „Von nun an werden nur noch Fremde zu dir kommen; du wirst sie unaufhörlich suchen und sie abweisen; sie gehören dir nicht und du gehörst ihnen nicht, denn du wirst nicht anders können, als sie dir vom Leibe halten…“

Vielleicht kommen später nicht nur Fremde, aber nach dem Verlust der Eltern bleibt, was einem kleinen Kind an Bindung verbleibt, fremd, verzerrt, schwankend, irritierend – genauer: Haben diese Menschen überhaupt existiert, wenn sie so einfach ausgelöscht wurden? Was ist übrig von Menschen, die existierten, dann verschwanden, nie mehr da sind? Gab es sie überhaupt? Müssen die Erinnerungen an sie gelöscht werden, um der eigenen Gefühle Herr zu werden, müssen also auch sie „gelöscht“ werden? Wie aber existieren dann (geliebte) Menschen?

Titelbild

Georges Perec: Das Attentat von Sarajevo.
Aus dem Französischen von Jürgen Ritte.
Diaphanes Verlag, Berlin 2020.
144 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783037349441

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