Ein durch und durch zweischneidiger Text

„Das Zweite Schwert“ von Peter Handke muss man gegen den Strich lesen

Von Mario WiesmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Wiesmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was erwartet man von einer Erzählung mit dem düsteren Titel Das Zweite Schwert? Wohl eher keine „Maigeschichte“, die der Untertitel des neuen Buchs von Peter Handke verspricht. Blutrünstig wirkt auch gleich der Beginn: Das erste Kapitel ist „SPÄTE RACHE“ überschrieben und so schillernd sich der Text nach außen hin präsentiert, so unmissverständlich wird dieses Thema gleich im ersten Satz aufgegriffen. „‚Das also ist das Gesicht eines Rächers!‘, sagte ich zu mir, als ich mich an dem bewußten [sic!] Morgen, bevor ich mich auf den Weg machte, im Spiegel ansah.“

Tatsächlich liegt Handkes Geschichte ein simpler Racheplot zugrunde: Vergeltung an einer Journalistin, die der Mutter in einem Zeitungsartikel unterstellt hatte, ein Nazi gewesen zu sein. Abstrakt gesehen ist auch der Verlauf der Erzählung konventionell. Sie folgt dem Rächer auf dem Weg zu seinem Opfer, immer wieder unterbrochen durch Erzählerkommentare. Je näher der Rächer jedoch seinem Ziel kommt, desto mehr rückt sein Vorhaben in den Hintergrund. Aus dem Rachefeldzug wird ein Sonntagsausflug. Der Ich-Erzähler sinniert über die neue Straßenbahn, denkt sich seinen Teil zu anderen Fahrgästen, macht einen Abstecher nach Port-Royal und fachsimpelt über Pilze.

Vor allem dort, wo der Blick des Erzählers der Natur zugewandt ist, zeugen diese Abschweifungen von einer ungebrochenen Faszination für die eigene Umgebung. Trifft der Blick dagegen auf Menschen, wird er oft zu einem bohrenden, beargwöhnenden. Immer wieder scheint in den Gedanken der namenlosen Hauptfigur eine Apathie durch, die ans Pathologische grenzt. Und der Erzähler, der da von sich erzählt, macht auch keinen Hehl aus Gewaltphantasien in seiner Kindheit. Unumwunden räumt er die Unrechtmäßigkeit seines Vorhabens und die eigene „Menschenfeindschaft“ ein.

Will Handke seinen Leser*innen signalisieren, dass das Ästhetische bei ihm nicht ohne Zynismus zu haben ist? Auffällig ist jedenfalls die dialektische Konstruktion der Erzählung. Alles scheint auf die Konfrontation zweier Momente angelegt zu sein. So auch die Sprache. Handkes verklausulierter, von Hypotaxen geprägter Schreibstil, seine Nominalsätze und Nominalisierungen zeugen vom Geltungsbedürfnis seines Erzählers. Das Ergebnis sind teils monströse Sätze:

Meine andrerseits, noch vor den frühen Jahren, schon in der Kindheit zumindest ebenso häufigen Geistesabwesenheiten dagegen hatten sich, das wenigstens war bis vor kurzem meine Meinung gewesen, mit dem Alter, „aus Altersgründen“, verstärkt, akut besonders im täglichen, sich beschleunigenden Vergessen, Nicht-und-nicht-Wiederfinden der sogenannten Gebrauchsdinge, deren Was, Wie und in erster Linie Wo – bis ich die Erklärung oder, wenn ihr wollt, die Ausrede fand, das liege weniger an mir und meinem Alter als an der Vertauschbarkeit, der Gleichförmigkeit, Unansehnlichkeit und, vielleicht handgreiflich –, an der, abgesehen von ein paar wenigen urzeitlichen oder klassischen, Unnotwendigkeit oder Nutzlosigkeit fast aller der heutigen angeblichen Gebrauchsdinge, sämtlichen zeitgenössischen Zeugs, damit verbunden auch das Unnotwendige der häuslichen wie außerhäuslichen Handlungen, und als Konsequenz zu schlechter Letzt eben Verlegt- und Vergessenhaben, manchmal himmelschreiend, von Alt und Jung.

Wo sich der Erzähler ironisch von der Alltagssprache wie von nutzlosen Gebrauchsdingen distanziert, versucht er, sie durch eine noch größere Anstrengung der Begriffsbildung zu übertreffen. Ob sich über das ‚Nicht-und-nicht-Wiederfinden‘, die ‚Unnotwendigkeit der Gebrauchsdinge‘ und das ‚Verlegt- und Vergessenhaben‘ mit solchen Begriffsungetümen Wesentliches sagen lässt, kann man bezweifeln.

Doch auch dieser sprachlichen Selbstgerechtigkeit setzt Handke etwas entgegen. Von Anfang an fallen die vielen Einschübe auf, in denen der Erzähler sich unterbricht – oder vielmehr: unterbrochen wird –, um Behauptungen oder einzelne Wörter zu relativieren oder ganz zurückzunehmen: „Doch ließen diese Raumfluchten, von unten nach oben sich fortsetzend und gleichsam (nein, kein ‚gleichsam‘) fortpflanzend, mit nichts, aber schon gar nichts vergleichen“. Teilweise steigert sich das zu einer regelrechten Selbstbefragung, die das Erzählen zum Erliegen bringt. So wird auch der prätentiöse Sprachstil – die vielen Archaismen etwa oder die Vorliebe für alte Schreibweisen mit ‚ß‘ – gebrochen.

Die Unermüdlichkeit, mit der Handkes Sprache sich so selbst zerfleischt, kann beim Lesen ermüden. Die immer neuen Paraphrasen des bereits Gesagten, das Spiel mit Wörtern und Redensarten wirken zum Teil manieristisch. Im Gegensatz zu Proust (dessen Name wie die zahlreicher weiterer kanonischer Autoren fällt) versucht Handke in solchen Passagen nicht, das Außergewöhnliche sprachlich festzuhalten, sondern belässt es dabei, dessen Außergewöhnlichkeit zu beteuern.

Dort jedoch, wo diese Verkopftheit einer ungehinderten sinnlichen Wahrnehmung weicht, übt der Text eine direkte poetische Anziehungskraft aus. Und auch die ist typisch Handke. Etwa wenn davon die Rede ist, wie ein Blick in die Tiefe einer Ziegelgrube „dann, wie umgestülpt, an dem Port-Royal-Dach einer in die Höhe“ geworden sei. Oder in der lautmalerischen Beschreibung der Geräusche von Boulekugeln, die, „weg- und auseinanderkartätschend, ein ständiges Klikken in der Waldrandstille“, als „Nachhallbild“ noch hinter der Autobahn zu hören sind.

Am Ende hält Handke noch einen Twist bereit, der die ganze Erzählung inklusive Titel in ein neues Licht rückt. Der Reiz der etwa 150 Seiten langen „Maigeschichte“ liegt wohl in erster Linie in der so eröffneten Perspektive auf sie und auf Literatur insgesamt. Ob das (nachträgliche) Angebot dieser poetologischen Lesart aber für die Unwegsamkeiten einer ersten, unbedarften Lektüre entschädigen kann, ist Geschmacksfrage. Handkes Text hinterlässt – und das ist vielleicht das Angemessenste, was sich über ihn sagen lässt – einen zwiespältigen Eindruck.

Titelbild

Peter Handke: Das zweite Schwert. Eine Maigeschichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
160 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429402

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