Lesen in der Corona-Krise – Teil 2

Der schottische Musiker und Künstler Momus nimmt ein Corona-Album als Work-in-Progress auf

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

 

„Momus is a sixty year-old Scotsman who lives in Berlin. He’s made over thirty albums of electronic folk music and published six novels. Later this year Farrar, Straus & Giroux will publish his autobiography, Niche.“

Soweit die etwas zurückhaltende Selbstbeschreibung des schottischen Musikers Nicholas Currie, der seit fast vierzig Jahren unter dem Namen Momus wunderbare abseitige Platten veröffentlicht und dieser Tage ein neues Projekt ins Leben gerufen hat. Dieses neue Album Vivid soll eine Art Chronik der Corona-Krise sein. Die Songs werden direkt nach ihrer Entstehung mitsamt visueller Untermalung in Form von selbstproduzierten Videoclips bei YouTube hochgeladen. So ist „Vivid“ ein Work-in-Progress mit ungewissem Ausgang. Erzählt werden dystopische Geschichten von einer zerfallenen Welt, die jedoch im Angesicht unseres täglich absurder werdenden Alltags stets auf der Grenze zwischen Fiktion und einer sich fortwährend ändernden Realität bewegen, wie Momus uns im Gespräch erörtert hat.

 

Literaturkritik.de: Ich sehe das Album, das Sie gerade aufnehmen zum einen als eine Art Live-Bericht über die Corona-Krise, zum anderen aber auch als fiktionalisierte, dystopische Vision. Würden Sie dem zustimmen?

Momus: Ich denke, wir leben in einer Zeit von erstaunlicher existenzieller Intensität, in der Millionen Menschen die gleichen Ängste und Visionen teilen. Ich bin normalerweise ja eher ein Künstler, der an den Rändern agiert und eher abstruse Belange thematisiert. Aber ich wollte den Moment nutzen, in dem ich in der Lage bin, etwas von universeller Gültigkeit auszudrücken. Es geht jetzt weniger um die eigentlichen Vorkommnisse, sondern eher um die Ängste und Alpträume, die uns gerade alle plagen: „Werde ich Atemnot bekommen?“, „Was passiert, wenn die öffentliche Ordnung zusammenbricht?“, „Ist das der Anfang eines Krieges?“, „Was passiert, wenn das Internet plötzlich nicht mehr funktioniert?“. Als lebenslanger David Bowie-Fan fühle ich mich bereit, meine eigenen Versionen jener apokalyptischen Visionen zu schaffen, die Bowie in Songs wie „Future Legend“ oder „Five Years“ angelegt hat.

Literaturkritik.de: In den vier Songs, die man bisher hören kann, ist diese Lücke zwischen der objektiven Beschreibung der Realität und der Wahrnehmung durch das jeweilige lyrische Ich besonders spannend…

Momus: Ja, das stimmt, viele von den Songs beschreiben Worst-Case-Szenarien, Fortschreibungen. Vielleicht mache ich mir besonders viele Sorgen, aber möglicherweise tun wir das auch alle gerade. Meinen Sie mit Ihrer Frage, dass die Erzähler mitunter nicht so besorgt klingen wie sie angesichts der geschilderten Umstände klingen sollten? Da stellt sich natürlich die Frage: Tragen die Erzähler eine Mitschuld, oder haben sie bereits aufgegeben? Die Menschen gewöhnen sich sehr schnell an Dinge. Im Song „Empty Paris“ ist das lyrische Ich ein Lehrer, der auf einer staatlichen Farm arbeitet, und der den Nachweis seiner viralen Immunität auf dem Arm tätowiert trägt. Das nimmt zunächst einmal Bezug auf Pol Pots ‚Stunde Null‘ oder Maos ‚Kulturrevolution‘, aber plötzlich erscheint uns diese Vision als völlig plausibel. Diese Woche empört man sich noch wegen so einer Verordnung, aber nächste Woche stimmen wir alle überein, dass es zunächst einmal wichtiger ist, dass Kinder essen, nicht, dass sie lesen.

Empty Paris

Literaturkritrik.de: Wie beeinflusst Ihre persönliche Isolation Ihre Kunst. Sie arbeiten ja schon länger verstärkt im digitalen Raum…

Momus: Im Grunde liebe ich Selbst-Isolation, wenn man dabei produktiv sein kann. Nach ein paar Tagen Einsamkeit erlebe ich eine Art ekstatischen Zustand, in dem ich mich allen Menschen in der Welt gleichzeitig nahe und unglaublich fern fühle. Ich denke, dass Einsamkeit – als eine Art spiritueller Zustand von Ferne und Aufnahmefähigkeit – essenziell für die Erschaffung wahrer Kunst ist. Kafka nannte das Schreiben ja auch eine Art Gebet.

Dazu kommt, dass das Internet ein Gottesgeschenk ist. Alleine die Möglichkeit, einen Song im Alleingang zu veröffentlichen, in dem Moment, in dem man ihn erschaffen hat, ist für mich ein Quell großer Freude.

Wenn ich den Veröffentlichungsknopf bei YouTube drücke, zittere ich manchmal vor Emotion. Mein Song mag nämlich seinen vollen emotionalen Einschlag nur diese Woche, an diesem Tag, vielleicht auch nur in dieser Stunde haben. Für mich wäre es sehr schwer, zum alten System zurückzukehren, in dem man bis zu sechs Monate warten musste, bis man sein Album veröffentlichen und in die Läden bringen konnte. Das kommt mir vor, wie ein altes, verschimmeltes Stück Brot zu verkaufen und so zu tun, als könne man es noch essen…

Working From Home

Literaturkritik.de: Trotzdem wird diese Songsammlung ja nach Ihren Angaben zu einem Album. Wie lange werden Sie die Entwicklung der Krise beobachten, bis Sie sagen: Jetzt ist es fertig? Ist das abhängig davon, in welche Richtung das alles gehen wird?

Momus: Normalerweise merke ich, wenn ein Album fertig ist, nämlich wenn mein Gefühl der Dringlichkeit abnimmt. Songs werden dann plötzlich zur Wiederholung älterer Lieder, oder zu reinen Stilübungen. Lassen Sie mich dazu auf Rilkes Duineser Elegien Bezug nehmen: Etwas brodelt in Dir, du bist mehrere Monate still und plötzlich strömt alles aus dir heraus. Man muss technisch und körperlich vorbereitet sein (denn Musik aufzunehmen ist körperlich sehr fordernd) mit diesem Ausströmen umzugehen, wenn es dann plötzlich passiert.

Was die Corona-Situation angeht: Ich glaube nicht, dass das Ganze in Kürze ein gutes Ende nimmt. Wir sehen gerade die schmerzhafte Geburt einer neuen Weltordnung, und die wird sich jetzt mehrere Jahrzehnte entwickeln. Alles, was ich tun kann ist, diese frühe Phase zu dokumentieren.

Oblivion

Literaturkritik.de: Es mag zu früh sein, um Spekulationen anzustellen, aber sehen Sie schon einen Effekt der Krise auf die Art, Musik zu machen und vor allem unter die Menschen zu bringen?

Momus: Es gab diese Dialektik zwischen dem Digitalen und dem Physischen, die jetzt gestört wurde: Musiker haben das Internet verwendet, haben aber auch Konzerte gegeben. Und die Menschen wollten durchaus beides haben. Nun ist die physische Seite erstmal nicht existent, aber das ist nur eine Momentaufnahme. Konzerte werden weiterhin sehr wichtig sein.

Insgesamt denke ich aber, dass die Krise die große Bedeutung von Kunst unterstreicht. Natürlich werden viele von uns in Existenznöte geraten und manche werden dann wirklich auf einer Farm arbeiten müssen. Aber wenn Menschen mit einer existenziellen Bedrohung konfrontiert werden, fokussieren sie sich auf den Sinn des Lebens, und das bedeutet auf Kunst und Philosophie. Es geht ihnen nicht nur darum, wie wir Dinge wieder zum Laufen bringen, sondern auch, warum! Welche sind denn die größeren Bestimmungen der Gesellschaft? Wo entwickelt sich unsere Spezies hin? Das ist eine Debatte, die wir längst hätten führen sollen, die wir nun aber haben werden, und Künstler werden im Mittelpunkt einer solchen Debatte stehen.

 

Optimism

Hinweis: Alle bisher erschienenen Teile unserer Reihe „Lesen in der Corona-Krise“ finden Sie hier.