Ernest Hemingway, J. D. Salinger und John Glueck an der Westfront

Steffen Kopetzky verbindet in seinem Roman „Propaganda“ gekonnt Spannung mit historischer Recherche

Von Marita MeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marita Meyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Propaganda ist Steffen Kopetzky gelungen, woran Ernest Hemingway gescheitert ist und wozu J. D. Salinger nicht bereit war: ein gut recherchierter, reflektierter und gleichzeitig ungemein spannender Roman über eine der letzten und blutigsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs, die Schlacht im Hürtgenwald im Winter 1944/45.

Nach der erfolgreichen Landung der US-Amerikaner in der Normandie und der zügigen Befreiung des von Nazi-Deutschland besetzten Frankreich bündelten die Deutschen noch einmal ihre militärischen Kräfte für die sogenannte „Ardennenoffensive“, um in einem wahnwitzigen Manöver den eigentlich schon verlorenen Krieg noch zu gewinnen. Die genauen Todeszahlen sind bis heute umstritten. Die meisten Schätzungen gehen von insgesamt 75 000 toten Soldaten aus. Zunächst schien die Strategie der Deutschen sogar aufzugehen. Im deutsch-belgischen Grenzgebiet der Nordeifel, südlich von Aachen, trafen sie auf amerikanische Divisionen, die die geographischen Gegebenheiten falsch eingeschätzt hatten: die schroffen, tiefen Täler des Fichtenforstes mit kaum befahrbaren Wegen wurden zu einer Falle für die ortsunkundigen Amerikaner. Baumschützen, weiträumig verlegte Tretminen und versteckte Bunkeranlagen bescherten hohe Verluste. Es dauerte Monate, bis schließlich die bessere Logistik und die größeren Ressourcen der alliierten Seite dem Massaker ein Ende machten.

Der Name Hürtgenwald stammt von den US-Amerikanern. Hürtgen lautet der Name eines der Dörfer im Grenzgebiet, was die Amerikaner vielleicht mit „hurt“ assoziierten. Verletzungen gab es in diesem Wald tatsächlich viele.

John Glueck heißt der Protagonist des Romans auf fast schon provokante Weise. John ist ein US-Amerikaner mit deutschen Vorfahren, der aus Idealismus in den Krieg zieht: um das Deutschland der Brüder Grimm und Heinrich Heines von den Nazis zu befreien. Er arbeitet für die Propaganda-Abteilung und hat den Auftrag, ein Porträt von Ernest Hemingway an der Front zu schreiben. Tatsächlich war der amerikanische Schriftsteller zuerst im besetzten Frankreich und dann auch im Hürtgenwald, wo er als Kriegsberichterstatter akkreditiert war. Kopetzky lässt Hemingway als einen Mann auf dem Höhepunkt seines Ruhms, aber am Ende seiner physischen und kreativen Kräfte auftreten. Der alternde, trinkende und unberechenbare Haudegen, der sich „Papa“ nennen lässt, muss vor sich selbst und vor der Wut der Soldaten geschützt werden, die wenig Verständnis für seine Privilegien innerhalb der Truppe aufbringen.

Einen kurzen Auftritt hat noch ein weiterer großer Name der amerikanischen Literatur: ein junger ehrgeiziger Schriftsteller namens Jerry, der bereits mit ersten Kurzgeschichten im New Yorker Literaturbetrieb Aufsehen erregt hat, und dem von ihm bewunderten Hemingway eine seiner Geschichten zeigen will. Als Sergeant will er vor allem Nazis töten. Als J. D. Salinger will er darüber allerdings schweigen. John und „Hem“ dagegen wollen einen „großen“ und „wahren“ Kriegsroman schreiben, wenn sie die Schlachten überleben. Zwei auch beim deutschen Lesepublikum der Nachkriegszeit sehr beliebte amerikanische Schriftsteller, die Teilnehmer oder zumindest Beobachter einer bis heute eher wenig bekannten, aber dramatischen Schlacht an der Westfront waren. Aus dieser ungewöhnlichen historischen Konstellation schlägt der Roman einen Großteil seiner Funken. Auch die Vorgeschichte des fiktiven Protagonisten Glueck, vor allem seine Erfahrungen in einem sommerlichen Schreibseminar in New York, gehören zu diesem Motivgeflecht.

Selbst für eine Leserin, zu deren Steckenpferden Militärgeschichte nicht eben gehört, werden die Details zu Hintergründen und materiellen Bedingungen der Kriegführung zu einer spannenden Lektüre. Wohl, weil es nicht um die stereotypen Schlachtpläne oder Waffengattungen geht, sondern zum Beispiel um die Bedeutung der amerikanischen LKW-Produktion für den Nachschub. Fast 6000 wurden über den Atlantik geschifft. Auch die Panik der Soldaten wird nachvollziehbar, wenn die Panzerabwehrwaffe nicht mehr funktioniert, weil der neue Panzertyp des Gegners die Waffe zurück in die eigenen Reihen schleudert. Nebenfiguren beleuchten die Situation der farbigen Soldaten: Schwarze Soldaten wie Moon Washington werden vor allem als Fahrer eingesetzt, damit man ihnen keine Waffen in die Hand geben muss. Zündschlüssel und Schraubenschlüssel ja, aber keine Handgranaten. So sind die Rassisten auf beiden Seiten der Front beruhigt. Der Irokese Seneca wird zur gefährlichen Aufklärungsarbeit hinter den feindlichen Linien eingesetzt, weil er dank seiner Naturverbundenheit als einer der wenigen in der Lage ist, sich in diesem unübersichtlichen Waldgebiet souverän zu bewegen. Er hört, sieht und riecht mehr als die anderen. Und dem ihn begleitenden John Glueck erläutert er, dass der Stamm der Irokesen sich seit dem Ersten Weltkrieg mit Deutschland ununterbrochen im Krieg befindet, da der Stamm zwar den Krieg erklärt hatte, aber nicht zu den Friedensverhandlungen von Versailles eingeladen worden ist.

Erzähltechnisch kühne Volten erweitern den Blick auch auf die andere, die deutsche Seite. Als Mitglied des Geheimdienstes führt Glueck Verhöre mit deutschen Gefangenen durch. Auf einem seiner Erkundungszüge mit Seneca gerät er kurz in deutsche Gefangenschaft, wo er sich dank einer deutschen Wehrmachtsuniform und seiner offenbar akzentfreien Deutschkenntnisse als Deutscher ausgeben kann. Seine in Camp Ritchie geschulte Nahkampftechnik kommt zum Einsatz, als er in einem Angehörigen des Sicherheitsdienstes eine Jugendbekanntschaft aus einem deutsch-amerikanischen Sommerlager wiedererkennt und dieser sich nicht kurzerhand zum Überlaufen überreden lässt. 

Der Kriegsroman wird in diesen und anderen Passagen zum packenden Abenteuerroman oder gar Agententhriller. Und immer wieder erstaunt, wie es Kopetzky gelingt, seine spannungsgeladene Geschichte mit historisch aufschlussreichen Informationen zu kombinieren.

Nicht nur überzeugte Nationalsozialisten und skrupellose Gewalttäter bevölkern die deutsche Seite des Romans. Es gibt auch eine Lichtgestalt: den jungen Sanitätsarzt Dr. Stüssgen. Dieser setzt mit Gluecks Hilfe einen Waffenstillstand zum Abtransport von Verwundeten durch, um dann Tag und Nacht Not-Operationen durchzuführen, sowohl an amerikanischen wie an deutschen Soldaten. Diesen Arzt hat es zum Glück wirklich gegeben. Unverkennbar ist, dass der Autor ihm ein Denkmal setzen will. Der historische Dr. Stüssgen wurde nach dem Krieg Professor für Dermatologie am Virchow-Klinikum in Berlin.

So spannend und komplex die Szenen im Hürtgenwald geschrieben sind, so wenig hat Kopetzky anscheinend diesem Stoff zugetraut, den Roman zu tragen. Es gibt eine zweite Ebene: John Glueck schreibt seine Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg im Jahr 1971 aus einem Gefängnis in Missouri. Er hat sich an der Veröffentlichung der geheimen Pentagon Papers beteiligt, nachdem er in der Nähe von Saigon Opfer von amerikanischen Entlaubungsmitteln geworden ist. Als er erkennt, mit welch krimineller Energie die USA in Vietnam kämpfen, sieht er sich nicht mehr – wie einst im Hürtgenwald – auf der Seite der Gerechten und entschließt sich zum Ungehorsam, um die Wahrheit über diesen Krieg verbreiten zu können. Wenn John Glueck dann auch noch als Wortgeber für John F. Kennedys Berliner Rede identifiziert wird, wirkt der handlungsreiche Bogen endgültig überspannt.

Aber geschenkt – trotz des etwas überreizten Endes bleibt es ein kluger und spannender Roman, der im temporeichen und unterhaltsamen Stil des amerikanischen Realismus geschrieben ist. Übrigens: Ernest Hemingways Roman Across the River and into the Trees (deutsch: Über den Fluß und in die Wälder) erschien 1950. Darin erinnert sich der Protagonist an die Schlacht im Hürtgenwald, während er in den Armen seiner sehr jungen und sehr schönen venezianischen Geliebten liegt oder während er auf die Entenjagd geht, ohne dass die Ereignisse des Krieges wirklich lebendig werden. Deutlich wird nur, dass der Oberst der Infanterie im Hürtgenwald traumatisiert wurde. Und J. D. Salinger hat nie über seine Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg geschrieben.

Titelbild

Steffen Kopetzky: Propaganda. Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2019.
496 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783737100649

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