Er hat Zeugnis für den Menschen abgelegt

Zum 90. Geburtstag des Bildhauers, Zeichners, Grafikers und Schriftstellers Wieland Förster

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

„Ich bin nicht Bildhauer geworden, weil ich irgendwann glaubte, eine übermäßige bildhauerische Begabung zu haben“, äußerte sich Wieland Förster 1977 in einem Gespräch, „sondern ich litt an ganz bestimmten Grundverletzungen, mit denen ich sehr schwer fertig geworden bin. Deshalb suchte ich nach einer Möglichkeit, sie loszuwerden, eine Form der Heilung zu finden … Es war der Versuch, aufzuarbeiten, was an Erschütterungen von der Zeit her in mich eingedrungen ist.“ So entstanden seine Gemarterten und Verzweifelten, Hoffenden und Liebenden, Polarisierungen und Vermischungen des Humanen und Barbarischen, Martyrium und Ecce homo, Arkadischer Akt mit Beinen nach oben, Großer schreitender und Großer trauernder Mann, Große Neeberger Figur und Penthesilea-Gruppe, die Frau als Symbol des Naturhaft-Unzerstörbaren und der vom Leben gezeichnete, mit schlimmen Erfahrungen belastete Mann, plastische Körper-Einblicke und Torsi als eine Form der Konzentration auf das Wesentliche, als „Porträt des Leibes“. Seine Porträtplastiken – zuletzt die von Elfriede Jelinek und Jean Genet, aber auch die des ermordeten jüdischen Arztes Dr. Benno Hallauer, die im Parlamentsgebäude gegenüber dem Reichstag steht – leben aus der Spannung zwischen abstrakter Form und der Individualität des Dargestellten.

Der am 12. Februar 1930 in Dresden geborene und seit den 1960er Jahren in Berlin und dann im Land Brandenburg ansässige Bildhauer Wieland Förster, der zugleich ein bedeutender Zeichner und sensibler Schriftsteller ist, hat Biographisches, das nur ihm Verfügbare, in die bildhauerische Metapher übertragen, die das Persönliche ins Allgemeingültige, das Empfinden und Erleben eines einzelnen in die existenzielle Erfahrung vieler hebt. Beispiele dafür: Die Passion von 1966, ein aufgepfählter männlicher Körper in erbarmungslos lädierter Nacktheit. Ecce homo (1980), die Anthropomorphisierung einer versehrten und zerstörten Felsform, die zugleich von Beharrung und Widerstehen geprägt ist. Erschossener (1968), ein Klumpen Mensch vor der Erschießungsmauer. Aus einem Sandsteinfindling hat Förster 1974 einen Männlichen Torso gehauen: „Bin bei der Arbeit immer so erregt, als hinge von dieser Stunde meine ganze Existenz ab: die Folge Herzflattern und Armlähmung, so dass ich, wie heute, in Angst lebe; Herzinfarktangst – die Symptome sind alle beisammen“. Einblick IV (1978) zeigt aufregende Verläufe, Hebungen und Senkungen, die Epidermis von einem Gespinst von Buckelungen und linearem Geäder überzogen: „Hier stirbt jede Macht, sie wird nicht bekämpft, nicht besiegt, sie erlischt“. In Paar-Kompositionen wird jener unerlöste Widerspruch von Leben und Tod, von Aggression und Erleiden, von Sinken und Trotzen auf zwei Figuren übertragen. Der Torso als Fragment trägt prozessualen Charakter, er bleibt als Form offen und sperrt sich nicht gegen Verbindungen, Verschmelzungen, Verknotungen, Überlagerungen. Der Körper wird zur zuckenden, auffahrenden Form, zur lodernden Landschaft, und diese wiederum zu organischem Leben mit allen Zeugungsmerkmalen erweckt. Erregung ist für Förster Bewegung, Drehung, Krümmung, Zusammenballung und Streckung, Wendung, Taumel und Ineinanderstürzen aufgerissener, torsierter Leiber.

Für seine Bildwerke aus Stein, Bronze und Zementguss hat Förster die Beziehung zur umgebenden Landschaft, zum Menschen in der Landschaft, hinzugewonnen – ja, die Landschaft selbst zum Formthema seiner Arbeiten gemacht. Die plastische Form einer Talmulde zwischen flachen Hügeln, jene typisch mecklenburgische oder märkische Landschaft, hat er seit den 1970er Jahren zum Gegenstand seiner Reliefs als Torso oder Einblick gewählt und ihre Spannungen und Kraftlinien in die Körperformen, die schwellenden Wölbungen wie zurücktretenden Einsenkungen, in die sich rhythmisch verschiebenden Flächen übertragen. Die Metamorphosen des Landschaftlichen, des Geologischen wie Vegetabilen, zum Menschlichen und umgekehrt sind charakteristisch für ihn, die Einblicke, die Öffnungen, diese Übergänge zwischen innen und außen. Es entstehen Kompositionen von Konvexem und Konkavem, von Höhlungen und Auskragungen, Masse und Binnenraum, die ein Zusammenspiel von passiver Ruhe und intensiver Aktion, eine Durchdringung von Natur und Bildwerk ergeben. Das skulpturale Gebilde greift in den Raum, es wird Geäst, Gewächs oder Felsformation, Metapher einer Sehnsucht des Menschen, deren Preis die Verletzung, deren Triumph die Vermenschlichung ist. Darum auch die Beziehung dieser Figuren zu den mythischen Gestalten, in denen das Erlebnis von Sturz und Scheitern, Abbruch und jäher schmerzhafter Wendung aufbewahrt ist.

Aus der Faszination für die Subjektivität des Menschen ist auch die Leidenschaft Försters zum Porträt – mit unterschiedlichen plastischen Formulierungen – zu erklären: der Kopf der Gelähmten (1964/65), Portrait Walter Felsenstein (1963/64), Portrait Otmar Suitner (1965), Portrait Johannes Bobrowski (1967), Portraitstele Erich Arendt (1968), Portrait Franz Fühmann (1969), Portraitstele Pablo Neruda (1974), Portrait Hans Theo Richter (1981), Portraitstele Hans Purrmann (1980/81)… Die große Heinrich-Böll-Stele ist nach dessen Tod 1988 entstanden und auch für das Bernhard-Minetti-Portrait dienten die Sitzungen des großen Schauspielers 1991/92 lediglich der Verfestigung des herangewachsenen inneren Bildes.

Nach dem Opfer (1994), dem sich aufbäumenden, geschundenen Körper eines Gepeinigten, in Verzweiflung auf das Ich zurückweisend, hatte sich Förster erneut dem weiblichen Akt, dem Daphne-Thema in kleineren und mittleren Formaten zugewandt. Sie sind von großer handschriftlicher Frische und Erotik, von einer Freiheit gegenüber dem Körper, auf der Basis der Großen Neeberger Figur in sich steigernden Asymmetrien, einer rindenähnlichen Epidermis, ganz dem Wachstum, dem Schöpferischen verpflichtet. Die geradezu von Intensität vibrierende Große Daphne (1996) wurde Zeichen der Steigerung und Erfüllung des Wunsches nach Einheit von Mensch und Natur, wie sie nach 1967 durch das Erlebnis des Tänzerischen der Ölbäume während seiner Tunesien-Reise geweckt wurde, die den menschlichen Körper assoziieren.

Gleicherweise ist die Zeichnung und Grafik bei Förster dem Wechsel, dem Fluktuieren zwischen Innen- und Außenwelt verschrieben, setzt Signale in der Problem- und Krisenhaftigkeit des künstlerischen Subjekts, in der Lebens- und Zeitempfindlichkeit des Künstlers, damit der von ihm bevorzugten Form des Tagebuchs vergleichbar. Das Erlebnis Labyrinth (1988), seine Dauerhaftigkeit und Anfälligkeit, gewinnt auf vielen Blättern Gestalt; im Verfall des Steins sieht der Künstler Analogien zu organischen Verfallsprozessen. Die Zeichnungen der Akte und Liebespaare werden zum Gegengewicht des Labyrinth-Zyklus, deren erotische Seite (die Landschaft mit Zeugungsmerkmalen) wirkt auf sie ein. Werden, Sein, Vergehen werden zur Kunst-Formel, eine neue Form der Humanisierung findet statt. Der Künstler bekennt: „Ich zeichne immer auf des Messers Schneide: Gelingen – Versagen.“

 

Wieland Förster: Große Neeberger Figur, 1971-74, Bronze. Foto: Hans
Pölkow, Berlin (Quelle: Wieland Förster – Plastik, Zeichnung.
Ausstellungskatalog. Dresden, Halle, Aurich 1998/1999. S. 17)

Ein Hauptwerk Försters – und der figürlichen Bildhauerei nach 1945 überhaupt –, ist die Große Neeberger Figur (1971-1974, Bronze). Hier werden Fragen nach der Darstellung des Menschen, Positionen zu Themen wie Realismus und abstrahierte Figur, Schmerz, Leben und Tod, Akt und bekleidete Figur diskutiert. Die Entstehung der Großen Neeberger Figur hat Förster so beschrieben: „Dieser Name Neeberg geht auf ein kleines Dorf am Bodden zurück, in dem ich mich aufhielt. Dort habe ich die Figur in der Landschaft stehen gesehen – ich mag das Wort Vision nicht – aber als Vorstellung […]. Ich lag da am Strand und habe sie gesehen, einfach, weil ich immer irgendwelche Bilder sehe. Und dieses Bild war für mich so stark, dass ich diese Figur machen musste und fast drei Jahre daran arbeitete. Ganz wichtig an dieser Figur war für mich die absolute Ehrlichkeit der Form. Verstehen Sie mich richtig: bei dieser Figur ist jedes Detail bis zum letzten ausgesprochen, Anfang und Ende der Form, Höhe und Spannung und alles. Es war ein Prozess der Bestandsaufnahme und handwerklichen Wahrhaftigkeit“.

Die Neeberger Figur, ganz Vertikale bis zu den aufgereckten Armen, verkörpert eigentlich ein alltägliches Motiv, das des Hemdausziehens. Aber sie ist, aus Eiformen aufgebaut (das Ei als Quelle des Lebens), in den Körperformen so abstrahiert, dass sie zur Übersteigerung des traditionellen Körperideals geworden ist. Ihre Zehen bohren sich in die Erde, ihre Arme reckt sie wie Zweige, ihre Finger züngeln wie Geäst in den Himmel. Verborgen ist der Kopf, nur die Brüste halten das herab gleitende Gewand auf. Ihr Gegenbild ist der Große Trauernde Mann (1979-1983, Bronze), in sich zusammengesunken, aber voller innerer Energien bebend in der Erinnerung. Das  sind die Entsprechungen wie Polaritäten, die das Werk eines der bedeutendsten Künstler der Gegenwart bestimmen.

Von tragischer Gespanntheit vermochte Förster in seinem Alterswerk zu einer fast arkadischen Gelassenheit zu gelangen, so wenn er der durch das Feuer gegangenen Nike von 1998 atmenden Rhythmus und tänzerische Beschwingtheit verleiht. Dieser Hoffnung auf Überleben, auf Überdauern steht dann wieder der durch die Überdrehung des Leibes an den Füßen wie aufgehängte, gehäutete MarsyasJahrhundertbilanz (1999) gegenüber. Und diese Polarität begleitete den Bildhauer weiter ins neue Säkulum als noch immer offene Frage nach der Würde und Selbstbestimmung des Menschen. Nach der Einweihung der Uwe-Johnson-Porträtstele in Güstrow 2007 musste Förster krankheitsbedingt seine bildhauerische Tätigkeit beenden und widmete sich seitdem ganz dem Schreiben. Seinen Reisetagebüchern der 1970er und den Erzählungen der 1980er Jahre folgten ein Briefroman, Der Andere (2009), ein Plädoyer für das Recht auf Individualität und Toleranz, und die Autobiografie seiner Jugend in Dresden Seerosenteich (2012). „So darf ich am Ende meiner Tage hoffen“, schrieb der nunmehr 90jährige Wieland Förster damals, „Zeugnis für den Menschen abgelegt zu haben“.

Seit 1953 führt er ein Tagebuch, das inzwischen auf einen riesigen Umfang angewachsen ist. Eine Auswahl seiner Selbstzeugnisse von 1958 bis 1974 kam 2018 unter dem Titel …weil aus dem Zweifel das Wachstum entsteht, besorgt von seiner Tochter Eva Förster im Auftrag der Berliner Akademie der Künste, heraus. Vor drei Jahren erschien der Initiationsroman Tamaschito. Roman einer  Gefangenschaft. Hier erzählt Förster die sein ganzes Leben belastende Geschichte seiner Jugend, als der Sechzehnjährige 1946 durch die Denunziation eines kommunistischen Landrates wegen angeblichen Waffenbesitzes dem sowjetischen NKWD übergeben, nach dreimonatigen nächtlichen Verhören von einem sowjetischen Militär-Tribunal zu siebeneinhalb Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt, jedoch wegen seiner Auszehrung in das sowjetische Speziallager Nr. 4 Bautzen überstellt wurde. Dort erkrankte er u.a. an Tuberkulose und wurde 1950 ohne Papiere und offizielle Begnadigung entlassen.

So schrecklich diese Zeit gewesen ist, über die er in der DDR zu schweigen gezwungen war, hat sie ihm doch erst die Motivation gegeben, jenes Zeugnis für den Menschen abzulegen. Förster berichtet in dem Roman von einem jungen Mitgefangenen, einem „Häufchen hustenden Verfalls, einem Knochenmann, dem Rest eines Menschen“, der in sein blutbespieenes Taschentuch das „Wortmonstrum“ TAMASCHITO gestickt hat. Denn zu seinem Geburtstag hatte ihm immer seine Tante Martha eine köstliche Torte gebracht, die er „TAnte MArthas SCHIcht TOrte, TAMASCHITO“ nannte. Als Tamaschito, so wird der 16jährige Ich-Erzähler Thomas Gerber ihn künftig nennen, „seine Lunge erbrach, schwammige Blutfetzen, Lungenreste, Schaum, eine Lache aus Blut“, und tot vor Thoms Füßen lag, stand fest: „Für ihn würde er sich erinnern, ein Leben lang schreiben“. Tamaschitos Tod in seiner Tragik bestimmt von nun an Thoms Denken und die sich daraus entwickelnde Bilderwelt.

80 nächtliche Verhöre hat Thom zu überstehen, 80 Tage und Nächte in seiner Zelle zu verbringen. Ist er zunächst ein Beobachter des Gefängnisgeschehens, immer noch in der Hoffnung, dass sich seine Unschuld bald herausstellen und er in die Freiheit entlassen wird, so beginnt er bald „das ganze Unheil, das ihn umgab, als Betroffener, der nichts aufrechnen kann, mit wachen Sinnen zu sehen und ahnte, dass er hier Stück für Stück der Stunde seines Todes entgegentaumelte“. Er erfährt die Gehässigkeit, die Boshaftigkeit der Leidensgefährten, sichtbar im Schachspiel von Spänemaus und Emil, das einen völlig zerstörten Emil zurücklässt, dann auch wieder die spontan aufflackernde Hilfsbereitschaft, das Wegdämmern anderer ins Transzendentale, ihr Versinken ins Bewusstlose. Woher kamen nur all diese Gedanken, die Thom in diesen Tagen im „Verlies“ – mehr als in langen Jahren – überdachte? Er wusste noch nichts über die ins Unglaubliche wachsende Lebenskraft des menschlichen Körpers und Geistes. So sehr sich die Tage und Nächte im Gefängnis nach dem Wiederholungsprinzip glichen, die einzelnen Begebenheiten, die Geschichten der Bewacher und Bewachten machen sie zum Ereignis. Und auch Thoms „Wunder“ besteht eben in dem unbändigen Willen zum Überleben. Der sowjetische Militärarzt weist den zur Deportation nach Sibirien Verurteilten angewidert von dessen körperlichem Verfall zurück, er wird in einen LKW gestoßen und mit unbekanntem Ziel weggebracht. Das Ende bleibt offen. Das Martyrium der Gefangenschaft wird weiter gehen, aber Thom hat seine erste große Bewährungsprobe überstanden, seine Lebenshoffnung ist zur annähernden Lebensgewissheit geworden.

Tamaschito versucht eine großangelegte Synthese von politischer Zeitdiagnose und sinnlich dichterischer Wirklichkeitsdarstellung. Es ist das Aufscheinen von Grund und Hintergrund, das diese erzählte Vergangenheitsgeschichte für uns heute so lesbar und gegenwärtig macht. Das Unmenschliche als Einseitigkeit, als ungeheuerliche Konzentration auf eine Sache, auf einen Gedanken, auf einen Sinn – irgendwie zu überleben, hilflos ausgeliefert zu sein und dennoch zu bestehen –, das ist das innere Thema des Romanes. Im Aufdecken des Unmenschlichen als Einseitigkeit wird die Philosophie des Romans zur Philosophie des Lebens. Die Verbindung von Imagination und Authentizität, von „pure fiction“ und seiner Lebenswirklichkeit beschreibt Förster in seinem Roman. Dabei bedient er sich einer jonglierenden Dialogstruktur zwischen dem impliziten Ich-Erzähler und seinen Leidensgefährten unterschiedlicher Couleur sowie zwischen den Wächtern, Richtern und über sein Leben Entscheidenden. Der Leser wird Zeuge einer unabgeschlossenen Existenz.

Am Ende kommuniziert der Erzähler wieder allein mit seinem Helden, der vor der entscheidungslosen Entscheidung steht: Weiterleben – aber unter welchen Bedingungen – oder Tod. Im letzten Durchgang ist der Mensch auf sich allein gestellt. Jede Geschichte muss offen bleiben, darf kein Ende haben, kein Geschehen ist abgeschlossen, es wirkt weiter. Es wird sich dann zeigen, ob eine solche Geschichte tatsächlich ein Ende gehabt hat – oder überhaupt haben kann. Die unaufhebbare Zwangssituation steigert sich zur existentiellen Kraftprobe des einzelnen, der so erst die Klarheit über sich selbst gewinnt. Der Erzähler erzählt, um das zu verstehen, zu begreifen, abzuarbeiten, was ihn da jahrzehntelang belastet hat. Erzählend sucht er zu verstehen und verstehend zu erzählen.

Heute gilt Wieland Förster als der bedeutendste figürliche Bildhauer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als Zeichner, Grafiker und Schriftsteller hat er sich die hohe Achtung seiner Zeitgenossen erworben.