Die geheimen Stasi-Berichte des Jahres 1989 an die Partei- und Staatsführung der DDR

In der Edition „Die DDR im Blick der Stasi“ offenbaren diese Berichte einen Eindruck von Realitätsnähe und Weltfremde

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) war das „Funktionalorgan“ des Ministers für Staatssicherheit und somit die wichtigste Schaltstelle im Ministerium für Staatssicherheit (MfS), in der nahezu alle komplexen Stabsfunktionen konzentriert waren. Zu den Aufgaben der ZAIG zählte unter anderem auch die Berichterstattung an die engere Partei- und Staatsführung der DDR – vor allem die Mitglieder des SED-Politbüros wurden über einzelne sicherheitspolitische Ereignisse und Vorgänge in Kenntnis gesetzt. Über 36 Jahre wurden Berichte in unterschiedlichen Formen angefertigt, die heute eine zeitgeschichtliche Quelle von hohem historischen Wert sind.

Im Jahr 1989 wurden noch 262 Berichte für die politische Führung angefertigt, die die unterschiedlichen Etappen des Revolutionsjahres widerspiegeln. Die Edition „Die DDR im Blick der Stasi“, in der bereits zahlreiche Jahrgangsbände erschienen sind, beleuchtet detailliert diese Einzelberichte, die in ihrer Dichte und sachlichen Genauigkeit zeigen, wie das MfS die dramatische Entwicklung des Jahres 1989 beobachtete, auf welche Ereignisse es besonders sensibel reagierte und welche Begebenheiten es komplett ignorierte. Sie verraten also etwas über die realitätsnahe und zugleich weltfremde Interpretation der revolutionären Ereignisse. Neben einer ausführlichen Einleitung wird im Dokumententeil eine repräsentative Auswahl der Berichte des Gesamtjahrganges vorgestellt.

Trotz der Unzufriedenheit vieler DDR-Bürger startete das letzte Jahr der SED-Diktatur noch verhältnismäßig ruhig. Doch die kleinen Oppositionsgruppen versuchten immer selbstbewusster politisch brisante Themen wie Bürgerrechte, Umweltfragen oder Behördenwillkür aufzugreifen. Das blieb dem MfS natürlich nicht verborgen und berichtete in der Information Nr. 25/1989 vom 16. Januar 1989 über den illegalen „Aufruf an alle Bürger der Stadt Leipzig“ zu einem Schweigemarsch „für eine Demokratisierung unseres sozialistischen Staates“. Im März informierte man die Parteispitze über das ungesetzliche Verlassen der DDR unter Missbrauch einer Touristenreise in die Republik Kuba durch den stellvertretenden Oberbürgermeister von Schwedt oder über die ablehnende Haltung breiter Dresdner Bevölkerungskreise im Zusammenhang mit der geplanten „Errichtung eines Reinstsiliziumwerkes“. Die Protagonisten und die Ereignisse werden dabei im typischen Stasi-Jargon beschrieben.

Im Zusammenhang mit den bevorstehenden Kommunalwahlen im Mai 1989 war die Stasi-Überwachung besonders intensiv und zeichnete minutiös die Stimmungslage in der Bevölkerung nach. Außerdem wurde ausführlich über „Aktivitäten feindlich-negativer Kräfte“ berichtet. Darüber hinaus wurden erforderliche Maßnahmen eingeleitet, um „staatsfeindliche“ Aktionen zu unterbinden. Im Spätsommer und Herbst – vor allem mit den Montagsgebeten in der Nikolaikirche in Leipzig, der Gründung der oppositionellen Sammlungsbewegung „Neues Forum“ sowie dem „widerrechtlichen Aufenthalt“ von DDR-Bürgern in der BRD-Botschaft in Prag – vervielfachten sich die internen Berichte. Sie zeigen jedoch die erstaunliche politische Unbeweglichkeit der SED-Führung hinsichtlich der demokratischen Umbrüche in Polen und Ungarn. So wurde auch die einsetzende Flucht- und Ausreisewelle von DDR-Bürgern in ihrer politischen Sprengkraft unterschätzt. Die Massenflucht stärkte dagegen die neu formierte Opposition erheblich, war sie doch der Beweis für ihre Reformforderungen.

Die Grenzöffnung am 9. November wurde dagegen mit keinem einzigen Wort protokolliert. Die Historikerin und Herausgeberin Daniela Münkel rätselt selbst über diese erstaunliche Lücke in den „ansonsten gewohnt pedantisch geführten Stasi-Berichten des Jahres 1989“. Die Stasi war in diesen Tagen vielmehr mit ihrer eigenen Existenzsicherung beschäftigt. So liegt erst fünf Tage später ein Hinweis „über beachtenswerte Reaktionen von Mitarbeitern des MfS auf die gegenwärtige Lage“ vor. Hier brachten die Mitarbeiter ihre Bereitschaft zum Ausdruck, die Wende aktiv zu unterstützen, verwiesen jedoch auf die anhaltenden Angriffe gegen das MfS. Die Information Nr. 519/89 (5. Dezember) berichtet schließlich darüber, wie sich Bürgerbewegungen in mehreren Bezirken und Kreisen Zutritt zu Dienstobjekten des MfS verschafften.

Im Wochentakt gab es Berichte zur „Entwicklung der Einnahmen aus der Durchführung des verbindlichen Mindestumtausches“, der eine wichtige Devisenbeschaffung war. Viele der geheimen MfS-Informationen, zum Beispiel über eine „provokatorisch-demonstrative Aktion von Antragstellern auf ständige Ausreise“, über ein „geplantes Treffen sogenannter Wehrdiensttotalverweigerer“, zur Lageentwicklung in der Ungarischen Volksrepublik oder über „Aktivitäten feindlicher, oppositioneller Personen unter Missbrauch kirchlicher Veranstaltungen und Einrichtungen“, lesen sich wie eine Chronik des letzten DDR-Jahres. Die Berichte lassen aber auch erahnen, warum der SED-Diktatur 1989 die Macht entglitt – und am Ende die Mauer fiel.

Die ausgewählten Berichte werden vollständig inklusive Titel, Text, Datumsangabe, Verteiler, Vermerke und Anlagen editiert. Der Text der Berichte wird weitestgehend im Originaltextfluss publiziert. Notwendige Anonymisierungen werden durch eckige Klammern kenntlich gemacht. Um den Anforderungen einer zeitgemäßen Edition gerecht zu werden und insbesondere eine digitale Volltextrecherche zu ermöglichen, gibt es neben der Auswahledition in Buchform eine Datenbank (www.ddr-im-blick.de/1989) mit dem gesamten Textkorpus, der mit einer komfortablen Volltextrecherche erschlossen werden kann.

Titelbild

Daniela Münkel: Die DDR im Blick der Stasi 1989. Die geheimen Berichte an die SED-Führung.
Herausgegeben im Auftrag des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU).
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2019.
320 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783525310663

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