Ausbruch der Männlichkeit

Der frisch gekürte Büchner-Preisträger Lukas Bärfuss untermauert mit dem Erzählband „Malinois“ sein bisheriges Prosawerk

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lukas Bärfussʼ Prosadebüt, die Novelle Die toten Männer, erregte bei seinem Erscheinen 2002 nicht allzu großes Aufsehen. Angesichts der Aufregung, die Bärfuss mit einem kurz zuvor mitunterzeichneten Manifest („Verbrennt eure Pässe!“) verbreitet hatte, wirkte die Novelle auf den ersten Blick eher unspektakulär, ja bieder. Bärfuss erzählt darin eine Geschichte aus dem Schweizer Bürgertum. Ein erfolgreicher Buchhändler fühlt sich in seinem behaglichen Leben unwohl, er verlässt seine liebe Familie und bricht in eine neue Freiheit aus. Nur das sonntägliche Mittagsmahl mit der an den Rollstuhl gefesselten, doch vitalen Mutter behält er bei. Er bewundert sie „für das Maß ihrer menschlichen Kälte“. Dass ihm genau dies nicht gelingen will, deprimiert ihn zugleich. Doch die Epoche der heroischen Selbstbefreiung ist vorbei – so kehrt der Buchhändler zurück in sein behagliches „Gefängnis der Liebe“. Auf der Folie von Albert Camusʼ Der Fremde beschreibt Bärfuss in Die toten Männer eine männliche Disposition, die seither sein Prosawerk grundiert.

David Hohl in Hundert Tage, der Bruder in Koala oder der Ich-Erzähler in Hagard – sie alle versuchen auszubrechen, indem sie die starre Lebensbahn verlassen und sich ins Unkontrollierbare hinaustreiben lassen. David Hohl bleibt einfach in Ruanda zurück, als der Völkermord der Hutu an den Tutsi wütet; der Bruder in Koala begeht Selbstmord; der Protagonist in Hagard lässt sich dazu verführen, eine fremde Frau auf Gedeih und Verderb zu verfolgen.

Einen solchen Ausbruch der Männlichkeit im doppelten Wortsinn kennzeichnen auch die Erzählungen in Malinois. In dreizehn Variationen gibt der Band Einblick ins Seelenleben von Männern am Rande des Nervenzusammenbruchs. In einer Nachbemerkung schreibt der Autor, dass diese Texte „in einem Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren“ entstanden und in vergriffenen Publikationen teils schon einmal erschienen sind. Er habe sie, ergänzt er, kaum verändert, weil jede der Geschichten für ihn mit der Erinnerung an den jeweiligen Entstehungskontext verbunden sei. Deshalb spiegeln sich in diesen Texten auch die parallel dazu entstandenen Romane.

Lukas Bärfuss erzählt von Männern, die womöglich zu einem kleinen Glück allein oder mit einer Familie gekommen sind. Doch es ist ihnen zu wenig. „Da fehlt doch etwas“, bemerkt einer von ihnen in der Erzählung Der Schlüssel, als ihm die Tochter Anzug und Hemd in die Dusche reicht. Sie hat bloß die Unterwäsche vergessen – aber darüber hinaus mangelt ihm offenkundig noch etwas anderes: eine kleine Erregung, eine leise Störung des Gewohnten. Ähnlich ergeht es anderen Protagonisten. Eine unterschwellige Unzufriedenheit treibt sie um. Mal ist es nur ein Zufall, mal der Mutwille zur Veränderung, der sie abbrechen, ausbrechen, abstürzen lässt.

Die Grenzen sind subtil und fließend, und alles Geschehen erfolgt in diesen Erzählungen mit bezwingender Folgerichtigkeit. Es kann gar nicht anders kommen, als ob das Leben eine schiefe Ebene ist. Bärfuss protokolliert den Ausbruch der Männlichkeit bei seinen Protagonisten akkurat und präzise, mit der nüchternen Neugier eines Forschers, der sein Objekt in der Petrischale des Alltags beobachtet. Dem einen widerfährt ein böses Unglück (Der Keller), so dass er aus der Bahn fällt; er wird niedergeschlagen und verkriecht sich mit blutender Kopfwunde im Keller, wenige Stockwerke unter der eigenen Wohnung, wo seine geliebte Frau auf ihn wartet. Bärfuss beschreibt es mit stupender Präzision mal in filmischer Zeitlupe, mal im Zeitraffer. Oder er schildert, wie ein 21er Schraubenschlüssel zum Anlass für ein nächtliches Nachbarschaftsgefecht wird, das zwei Männer jede Scham vergessen lässt (Der Schlüssel). Der Konflikt wird am Ende stillschweigend gelöst, als ob nichts gewesen wäre. Und in der Titelerzählung Malinois verknäueln sich Sprachlosigkeit, Einsamkeit und animalisches Begehren zu einer Dreieckskonstellation, wegen der ein Hund, ein Malinois, sein Leben lassen muss.

Bärfuss erzählt mal tragisch, mal komisch, oft beides zugleich und immer kraftvoll genau. In der Titelerzählung fragt sich der Ich-Erzähler, welche Länder es noch zu erforschen gebe außer „die inneren Kontinente, und welche Geschichte sollte noch erzählt werden als die Geschichte unseres Bewusstseins“. An anderer Stelle heißt es über einen Dramatiker, er sei ein „Chronist des Intimen“. Der Dramatiker Bärfuss folgt in seinem Prosawerk den beiden Zitaten. Zur Kernfigur seiner Chronik des Intimen wird dabei die Mutter – derweil die anderen Frauen passive, verständnisvolle Randfiguren bleiben. Die Mütter rauben den Söhnen den Mut zum eigenen Leben. Sie beweisen des Öfteren eine vitale Unverwüstlichkeit, selbst wenn diese Portalfigur des Lebens mit amputierten Füßen auf den Rollstuhl angewiesen ist wie in der Erzählung Los Angeles. Diese Konstellation erinnert stark an die Novelle Die toten Männer.

Nicht jede der dreizehn Geschichten gehört in den Bärfussʼschen Erzählolymp. Vorab in den beiden Geschichten Ernesto und Erinnerungen an den Dramatiker Martin Babian gerät das erzählende Ich, ein Schriftsteller, ins räsonierende Plaudern über die Marotten und Eitelkeiten des Literaturbetriebs und lockert so die gewohnte Erzählspannung.

Übers Ganze betrachtet aber bleibt Bärfuss seinem präzisen, unaufgeregten Stil treu, der in Kontrast mit der existentiellen Erregtheit seiner Helden tritt und diese so zusätzlich akzentuiert; einem Stil, der zudem ohne modische Ironie stets die eigene Erzählperspektive reflektiert und deren Allwissen hinterfragt. Es geht ihm um seine Geschichte und um seine Figuren. In ihrer Begründung für die Preisvergabe 2019 schreibt die Büchner-Preis-Jury denn auch, dass die „Fähigkeit zur Gesellschaftsanalyse am exemplarischen Einzelfall, psychologische Sensibilität und der Wille zur Wahrhaftigkeit“ das Werk von Lukas Bärfuss besonders auszeichne. Der Erzählband Malinois bestätigt das.

Titelbild

Lukas Bärfuss: Malinois. Erzählungen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
128 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783835336001

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