Ihre lange Nacht

Cordelia Schmidt-Hellerau erzählt die Geschichte eines Traumas

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Klara leidet am Abschied: „Ich vermisse Dich. Manchmal hast Du lange geschwiegen, und doch wusste ich, dass Du bei mir warst.“ Vor fünfzehn Jahren war Schluss gewesen. Sie war von ihm fortgegangen und dachte damals: „das ist es, ich habe es beendet, es ist getan, und jetzt gehe ich, von hier aus immer weiter, immer weiter.“ Doch die „sonnige Straße“, die sich an jenem Tag vor ihr aufgetan hatte, verdunkelt sich wieder. „Jetzt komme ich zurück“, meint die Protagonistin nun. Der Mann aber, der ihr immer geduldig zugehört hatte, der ihr mit seiner Ruhe und Zuversicht imponiert hatte – ihr Psychoanalytiker –, er war schon tot. 

Die bekannte Psychoanalytikerin Cordelia Schmidt-Hellerau, die in eigener Praxis in Chestnut Hill bei Boston (USA) arbeitet, hat einen Roman geschrieben, dessen Handlung aus den Erfahrungen einer zurückliegenden Psychoanalyse schöpft, sich jedoch erst nach dem Tod des Analytikers entfaltet. Die Protagonistin Klara – eine in New York lebende Deutsche – erinnert sich Jahre nach Abschluss ihrer Psychoanalyse an das stille Zimmer ihres Analytikers: „Dieses Licht in Deinem Raum – am Nachmittag scheint die Sonne durch das Fenster hinter Deinem Sessel und erreicht die Couch, die immer noch dieselbe ist: bezogen mit einem hellgrünen Wollstoff, der straff um die Matratze gespannt ist, solide und fest, klar und geradeaus.“ Das Schicksal selbst drängt ihr diese Erinnerung auf, denn sie muss sich eingestehen: „Es geht mir nicht gut“. Besonders deutlich ist der damaligen Patientin das im Zimmer ihres Analytikers hängende Bild in Erinnerung geblieben: Henri Rousseaus Der Traum. Auf der Glasveranda vor ihrem eigenen Garten in New York sitzend, wird die Ich-Erzählerin in die exotische Welt von Rousseaus Traumlandschaft eintauchen. Das Sofa inmitten des Dschungels aus Rousseaus Gemälde soll auch Klara in fremde, entlegene Welten entführen und – nach dem Surrealisten Tristan Tsara – die „Konfrontation wesensfremder Realitäten auf einer Bildfläche“ ermöglichen. 

Was folgt, ist ein Roman, der in einzelnen, meist kürzeren Kapiteln das aus den Folgen eines Traumas entstandene Beziehungsdrama aufrollt. Klaras Ehemann ist ein Literatur-Professor, der an der Columbia University lehrt und eines Nachts einem Überfall zum Opfer fällt. Das künstliche Koma, in das er versetzt wird, gleicht einer langen Nacht. Klara ist hilflos: „Johan lag da, geschunden und zerbrochen. Er schüchterte mich ein – so wie er da lag, in seine tiefe Ohnmacht eingeschlossen und fortgetragen. Stundenlang hielt ich seine Hand, die gute, die linke, die mit den fünf Fingern. Die andere Hand war bandagiert und hing in der Luft wie ein Fragezeichen.“ Auf der Beziehungsebene entwickelt sich daraus eine noch längere Nacht, die dem Sterben einer Liebe gleicht. Dazu kommt es, als der bisher solide, intelligente und treue Professor und Ehemann Johan Frey nach dem Erwachen aus dem Koma der feurigen Südafrikanerin Louma verfällt und mit ihr ein Kind zeugt. Klaras Kränkung erzeugt einen Strom von Gedanken, Reminiszenzen, Träumen und Visionen. Ihren alten Psychoanalytiker schmerzlich vermissend, muss sie mit der Kränkung und mit diesem Strom an Assoziationen nun allein fertig werden. Die zahlreichen Verluste und die schwere Traumatisierung Johans und Klaras, um die der Roman kreist, werden sehr einfühlsam, oft mit Hilfe von innerem Monolog und innerem Dialog erzählt. Der Erzählfluss läuft nicht chronologisch-linear ab; die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erfolgt mit vielen Rückblicken und Zeitsprüngen. Stellenweise findet ein Perspektivenwechsel von der Protagonistin Klara zu Johan Frey statt. Die Geschichte selbst beginnt unvermittelt, in medias res. Dennoch bleibt das Geschehen meist nachvollziehbar und die Handlung weitgehend überschaubar. Die Geschichte ist flüssig und liest sich meist schnell und mühelos – auch dadurch, dass der geschilderten Beziehungskrise als Geschichte der Affäre eines verheirateten Hochschulprofessors mit einer jüngeren, leidenschaftlichen Südafrikanerin äußerlich etwas Triviales, ja Kitschiges anhaftet. Die Entdeckung dieser Affäre durch Klara erfolgt reibungslos und bereits auf den ersten Seiten des Buches; ebenso schnell, problemlos und unumwunden kommt Johans Geständnis:

[…] jedenfalls fragte ich ihn ganz plötzlich: Was ist eigentlich mit Dir los? Jede Nacht stehst Du auf um zu telefonieren. Mit wem sprichst Du da? Was hat das alles zu bedeuten? Johan schien überrascht [sic] aber auch erleichtert. So, sagte er, Du hast es also gemerkt. Er machte eine Pause, trat einen Schritt zurück, um sich an seinen Kleiderschrank zu lehnen, und schien zu überlegen, wie er mir antworten sollte. Schließlich sagte er: In Kapstadt habe ich eine Frau kennengelernt, Louma. Ich hatte eine Affäre mit ihr und wollte es dabei belassen. Aber ich kann sie nicht vergessen. Ich muss sie wiedersehen. Ende nächster Woche werde ich nach Kapstadt fliegen und zehn Tage dort bleiben.

An den Beginn des Romans setzt die Autorin wie ihre Protagonistin mit dem Namen Klara den „Ruf nach Wahrheit“. „Ich will die Wahrheit! Was für eine Herausforderung!“, hallt in Klaras Seele die Stimme ihres bereits verstorbenen Bekannten Hans Schwenk nach. Die Wahrheit herauszufinden, ist allerdings schmerzhaft. Als sie von Johan beispielsweise hört, wie schön Louma ist, wird ihr Selbstwertgefühl „erschüttert“. Die zahlreichen Gesichter der Kränkung und des Schmerzes werden in vielen Facetten und Nuancen aufgezeigt. Imaginäre Anreden und Gespräche mit ihrem Analytiker ziehen sich durch das Buch hindurch: „Ich möchte mit Dir sprechen, Dir sagen, dass ich Dich brauche. Mein Leben ist vollkommen durcheinander, alles ist verrückt, und ich weiß nicht, was ich tun soll.“ Von ihrer imaginären Couch aus gelangt sie – der weiblichen Figur in Rousseaus Traum ähnlich – in wilde Gegenden, in den Dschungel der menschlichen Seele. Um das Geschehene zu begreifen, um die Frage aller Fragen zu beantworten, die auch Johan nach dem Erwachen aus dem Koma gestellt hatte: „Aber was ist denn passiert?“, folgt sie ihrem Johan in Gedanken nach Kapstadt und taucht in eine ihr bis dahin unverständliche Welt ein: in die Welt, in die sich Johan „wie ein Schlafwandler“ hatte „entführen“ lassen, eine Welt, die ihr eigener „Albtraum“ geworden war. Reale Ereignisse vermischen sich mit surrealistischen Bildern zu einem dunklen, mal faszinierenden, mal abstoßenden Amalgam aus Begierde, Angst, Schmerz, frivoler Leidenschaft, Scham, Verzweiflung, Ohnmacht.

Cordelia Schmidt-Hellerau hat auch als Psychoanalytikerin über Trauma, Kränkung, Schmerz, den Tod, den Kampf ums Überleben und die analytische Beziehung geschrieben. Ihr Buch kann zu Recht der literarischen Form des psychoanalytischen Romans zugerechnet werden. Mit psychoanalytischem Spür- und Tiefsinn erkennt sie zum Beispiel die Diskrepanz zwischen körperlicher und psychischer Gesundheit und zeichnet sie nach. Johan erholt sich körperlich nach dem Überfall, seelisch leidet er noch lange Zeit darunter. Denn „die Seele hat keine Check-Box auf der Computerliste“ der Ärzte im Krankenhaus, hört man Klara kritisch sagen. Johan ist aus dem Koma erwacht, bis zum seelischen Aufwachen und der wirklichen, echten Heimkehr wird noch viel Zeit vergehen. Die Autorin verbindet ihr psychoanalytisches Wissen, ihre Erfahrung und ihr Geschick mit den Möglichkeiten der literarischen Form, um diese Heimkehr zu ermöglichen und darzustellen. Schmidt-Hellerau verbindet das Motiv der Selbstentfremdung und der späteren Heimkehr Johans zu sich selbst und zu Klara mit der Suche nach seinem verschollenen Vater und mit der Vatersehnsucht:

Wie wäre sein Vater mit ihm gewesen? Obwohl seine Mutter ihm oft von seinem Vater erzählt hatte, war es ihm doch nie gelungen, ein Gefühl dafür zu bekommen, wie das gewesen wäre, mit seinem Vater zusammen zu sein. Nie hatte er sich vorstellen können, neben diesem Mann zu stehen, seinem Vater, wie, seine warme Hand zu halten und sein langes Bein neben sich aufragen zu sehen, wie, seine großen Schuhe zu bewundern, wie, seine dunkle Stimme zu hören, wie, hoch oben auf seinem Arm zu sitzen, wie, seine Bartstoppeln zu berühren, wie nur wie?

Die Überwindung der „väterlichen Leere“ ist der Brennpunkt des Romans. Die „lange Nacht“ des Traumas, der Identitäts- und Selbstsuche führt zum Vater: „Und so begann unsere lange Nacht. Er ist sicher, dass sein Vater zurückkommen wird – eines Tages oder vielleicht auch eines Nachts.“ Die Reise zu sich selbst ist auch eine Reise in die Vergangenheit. Ein auf dem Dachboden gefundenes Dokument klärt Klara über die Herkunft von Johans Vater auf. 

Schmidt-Helleraus Roman umspannt weite Räume und Zeiten. Er schwebt zwischen Realität und Traum, Wirklichkeit und Phantasie. Historische Zeiten wie die NS-Zeit und historische Ereignisse wie die Judenverfolgung werden in die Historie des Subjekts eingeflochten und entfalten dort ihre traumatische Wirkung: „Jonathan Samuel Kahn, ein jüdischer Name – war sein Vater verschwunden, weil er jüdisch war?“ Auf der Reise in die Abgründe der Seele zieht die Autorin alle Register psychoanalytischen Denkens und Fühlens; so scheint sie beispielsweise neuere Diskussionen über den alternden oder sterbenden Psychoanalytiker einzubeziehen. Sehr originell ist das zwar an sich nicht – weder thematisch noch was die Darstellungsmittel und Erzählformen anbelangt. Vieles in diesem Roman wirkt außerdem überladen – etwa die ausufernden, relativ undurchsichtigen Interpretationen von Henri Rousseaus Bildern Der Traum (1910) und Die schlafende Zigeunerin (1897) oder die vielen phantasmagorisch-bombastisch anmutenden Bilder wie das des fliegenden Teppichs oder Symbole wie die „geköpften“ Hyazinthen, der Tiger, die Tulpen sowie der tote Vogel als Symbol für den kraftlosen Penis. Das „Weiße Hotel“ in Hamburg als Endstation der Reise der Eheleute nach der glücklichen Auflösung der Geschichte und nach Johans Rückkehr zu Klara, nachdem sich Loumas Schwangerschaft auf wundersame Art und Weise als eine Phantomschwangerschaft erwiesen hat, liegt ebenfalls auf dieser Linie. Knapp an der Grenze zum Kitsch liegen auch die letzten Worte des Romans: „Dann wird Johan aufschauen und mich dort oben an der Reling stehen sehen. Und so weit wir auch noch voneinander entfernt sein werden, er dort unten am Pier und ich hier oben an Bord, werde ich ihn doch lächeln sehen, und auch ich werde lächeln.“ Die nicht zu übersehende Weitschweifigkeit und die gelegentliche Langatmigkeit dieser ausgedehnten Geschichte einer „langen Nacht“ werden die Geduld einiger Leser ebenfalls auf die Probe stellen. Klara und Johan müssen aber schließlich einen langen Weg gehen; die Zeit der Verirrung und die Suche nach dem Weg aus dem Trauma sind mühsam, von Umwegen und Irrwegen gezeichnet: „Er ging – verirrte sich – kam nicht mehr zurück. Etwas von ihm kam ja wieder, aber es war ein anderer – oder etwas von ihm, das ich nicht kannte.“ Nach dem Tod ihres Analytikers muss Klara diesen Weg allein gehen. Durch ihre frühere Analyse dazu befähigt, traut sie sich das jedoch zu: „Aber ich wollte allein meinen Weg finden …“

Aus dem Nebeneinander und der Konfrontation der vordergründigen, scheinbar kitschig-trivialen Ebene des Beziehungsdramas, einiger mitunter klischeehaft wirkender psychoanalytischer Elemente (etwa die Rede von Loumas „zerschlagene[r] Kindheit“) und der zuweilen naiv erscheinenden Instrumentalisierung von Henri Rousseaus Malerei mit dem festen, beharrlichen, unbeirrbaren, wahrheitssuchenden analytischen Blick in die Tiefe entsteht in Schmidt-Helleraus Roman ein überzeitliches, an keinen Ort gebundenes, verstörendes und ergreifendes, gleichzeitig modernes und archaisches Gemälde. Es ist ein Gemälde, bei dem jeder von uns – allein gelassen, vaterlos und auf sich gestellt – die urtümlichen Abgründe von Raum und Zeit durchschweifen und mit Mandoline und Wasserkrug wie die Zigeunerin auf Rousseaus Bild seine „lange Nacht“ durchschreiten und ,durchschlafen‘ muss.

Titelbild

Cordelia Schmidt-Hellerau: Rousseaus Traum. Roman.
Tredition, Hamburg 2019.
351 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783748299493

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