Korruption, gewachsene Liebe, Elternängste und das Angelusgeläut

Mike McCormack nimmt uns in „Ein ungewöhnlicher Roman über einen gewöhnlichen Mann“ mit in die Gedankenwelt des Marcus Conway

Von Christine EickenboomRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Eickenboom

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mike McCormack schildert in seinem Roman Ein ungewöhnlicher Roman über einen gewöhnlichen Mann über 266 Seiten die Gedankenwelt des Marcus Conway, die erstaunlich unspektakulär, aber überraschend fesselnd ist. Ungewöhnlich an diesem Roman ist (zunächst) nicht der Inhalt, sondern der Aufbau: in den 266 Seiten findet sich kein Punkt als Satzzeichen. Der gesamte Text ist ein einziger zusammenhängender, immer wieder und weiterführend dieselben Themen aufgreifender und so verwobener Gedankenstrom. Ähnlich wie der Leser von Ulysses Leopold Bloom an einem einzigen Tag in seinen Gedanken begleitet, begleitet hier der Leser die Gedanken von Marcus Conway während nur weniger Mittagsstunden.

Marcus, Ende vierzig, verheiratet, Vater zweier Kinder und Ingenieur im Dienst einer irischen Grafschaft, ist ein gewöhnlicher Mann mit Cholesterinproblemen, den schon kleine Veränderungen in der häuslichen Anordnung irritieren. Normalerweise verbringt er diese Zeit in seinem Büro oder unterwegs in der Grafschaft, und es fällt ihm offenbar schwer, jetzt allein in seiner Küche seinen Überlegungen nachzuhängen. Ähnlich schwer, weil anstrengend, ist es zunächst für den Leser, jedem Gedankengang folgen zu wollen. Häufige Unterbrechungen kennzeichnen Marcus’ Überlegungen, so etwa, wenn das Geläut ins Bewusstsein dringt oder der Blick zum wiederholten Mal auf ein Sandwich fällt, dass Mairead, seine Ehefrau, für ihn bereitgestellt hat. Außerdem springen Marcus’ Gedanken in der Zeit, zum Beispiel von der Erinnerung an eine während einer Dienstfahrt durchreiste Landschaft zu einer Kindheitserinnerung über seinen Vater zu dessen letzten Jahren und zurück in die Küche, in der er sich aufhält. Durch diese Verkettung von Episoden und einzelnen Gedanken, deren Ende und Neubeginn nicht durch Satzzeichen markiert sind, sondern ungebremst und rückhaltlos ineinanderfließen, entsteht ein Sog, der es trotz der Anstrengung fast unmöglich macht, das Lesen zu unterbrechen.  Erst wenn der Leser sich diesem Strom überlässt, ist er angekommen im Buch, im Kopf des Erzählers.

Zunächst scheint dieser Strom wahllos Gedankenfetzen aufzugreifen und alles mitzureißen, was sich im Bewusstsein und an dessen Rand befindet. Marcus scheint außerdem eine Vorliebe für Dreiwortaufzählungen zu haben: Berge, Flüsse und Seen kehrt als solche immer wieder und unterstreicht die im Lauf des Romans deutlich werdende Liebe zu seiner Heimat, Hackstriegel, Bodenfräse, Drillmaschine sind Verbindungen zu seinem Vater, die auch gleichzeitig seine Leidenschaft für das Ingenieurwesen kennzeichnen. Diese und weitere Aufzählungen scheinen Ordnung in Marcus’ Gedanken zu bringen, und mit dieser Ordnung werden die erinnerten Episoden länger und die Personencharakteristiken tiefergehend. Einzelne Erinnerungen und Personen kristallisieren sich als besonders bedeutsam heraus: Marcus’ Vater wird vom Sohn zeitlebens für sein selbstsicheres Wissen um seinen Platz im Leben bewundert, die erste Kunstausstellung der Tochter ist ein Schock für Marcus, hat sie doch ihre Kunst mit Eigenblut kreiert, und die aktuelle Baustelle bereitet dem Ingenieur enormen Druck.

Mit der Zeit wird klar, dass Marcus eine erstaunliche Scharfsichtigkeit für Details besitzt, beispielsweise wenn er das Verhalten seines Sohnes auf dessen Beweggründe hin analysiert, dabei durchaus kritisch wertet und sein Urteil nicht von väterlicher Schönrednerei gefärbt ist. Auch die eigene Position wird überwiegend kritisch betrachtet, sei es bezüglich eines Fehlverhaltens zu Beginn seiner Ehe oder wenn er sein Verhalten während der Vernissage seiner Tochter überdenkt. Gerade durch diese nüchternen Betrachtungen der Menschen in Marcus’ Umfeld, ihrer Entwicklung und ihrer oft durchaus fragwürdigen Reaktionen entsteht ein glaubwürdiges Bild ehrlicher Zuneigung und Verbundenheit, die das Gewöhnliche aufwerten.

Bei den Überlegungen von Marcus Conway handelt es sich also keinesfalls um revolutionäres Gedankengut und bei seinen Erinnerungen nicht um spektakuläre Ereignisse. Er ist tatsächlich ein gewöhnlicher Mann mit einem gewöhnlichen Leben, den dazugehörigen gewöhnlichen Herausforderungen und den entsprechenden Verfehlungen. Gerade diese Gewöhnlichkeit aber ist es, die fesselt, ihr Wiedererkennungswert, dessen unwiderstehlicher Reiz spätestens seit dem Erfolg von Karl Ove Knausgårds sechsbändiger Autobiografie Anerkennung gefunden hat.  Mike McCormacks Roman erinnert an eine Unterhaltung, bei der man nie zu Wort kommt, und die man trotzdem nicht verlassen kann.

Gegen Ende des Romans werden die Gedanken dann wieder ungeordneter, auch Aufzählungen helfen nicht mehr, Ordnung zu schaffen, bis sie schließlich ins Jetzt zurückkehren. Das Ende selbst ist so gewöhnlich wie der Rest und liefert dennoch die Erklärung für so Einiges, was im Verlauf des Lesens verwundert hat.

Titelbild

Mike McCormack: Ein ungewöhnlicher Roman über einen gewöhnlichen Mann.
Übersetzt aus dem Englischen von Bernhard Robben.
Steidl Verlag, Göttingen 2019.
266 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783958296473

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