Die schönste Römerin stammt aus Udine

Simon Strauß schlendert in „Römische Tage“ aufmerksam durch die Ewige Stadt

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Sehnsuchtslandschaft Italien betört Romantiker, Philosophen und Poeten bis heute. Auch in der digital illuminierten wie vollständig entzaubert anmutenden Postmoderne reisen Schriftsteller noch immer erwartungsvoll Richtung Süden. Simon Strauß, Kulturjournalist und Erzähler, verbringt etwa zwei Monate in der Stadt am Tiber. Er möchte Rom sehen, hautnah erfahren, für sich erkunden und vielleicht auch sein Herz an die Stadt verlieren. Möchte Strauß Rom entdecken, lieben oder, mehr noch und anders, vielleicht eine Römerin?

Die Stadtgeschichte verführt mitnichten. Rom ist der Ort der antiken Zirkusspiele, der ausschweifenden Dekadenz und mancher Lustbarkeiten, die Strauß mehr andeutet als darlegt. Aber auch Begegnungen mit der schönen Kunst sucht er. Gewissermaßen folgt er den Spuren so vieler Künstler, Dichter und Architekten in der Stadt Rom, um sich in ihr zu verlieren – wie andere vor ihm. Goethe begegnet dem Leser gleich zu Beginn und später immer wieder, aber wen interessiert noch der Dichter, wenn eine junge Frau aus Udine, gelassen, selbstbewusst und schön, die Wege des Reisenden kreuzt? So wie andere „Romfahrer“ vor ihm hofft er darauf, dass er in Rom „von Schönheit gestreift, wiederbelebt, zumindest durchgelüftet“ werde. Nicht nur von Sehnsüchten wird der Reisende begleitet, auch von einer störenden, wenngleich nicht lebensbedrohlichen Erkrankung. Das Herz stolpert, gerät aus dem Rhythmus, auch in Rom. Zwischen philosophischen Gedanken, Begegnungen mit kirchlichen Würdenträgern und Überlegungen geschieht dies, wenn er darüber nachsinnt, ob er, der unsichere Protestant, die heilige Kommunion empfangen dürfe. Politisches wie Historisches wird gestreift. Auch einem alten General begegnet er.

Über Deutschlands Rolle in der Welt kann man überall nachdenken, aber muss man das auch tatsächlich tun? Zwischen manchen schwebenden Reflexionen erblickt er auch die Schönheit als Gestalt, nicht dekorativ, sondern lebensecht – eine „junge Frau mit einem Leberfleck an der Wange“. Das genügte doch, aber die Bildung rauscht vorüber, von einer gesummten Beethoven-Arie – selbst leise intoniert ein störender Kontrapunkt in Rom – bis hin zu einer diskreten Anspielung auf Thomas Mann, ironisch zusammengefügt, an einem Brunnenbecken: „Von früh bis spät spielen Wasser und Luft da Fangen, sprudelt es aus unterirdischen Quellen. Es gibt für unseren kurzen Aufenthalt auf Erden kein besseres Hintergrundgeräusch als dieses Plätschern, diese Ahnung von Meeresstille und glücklicher Fahrt.“

Strauß parliert, spaziert, sucht – und endlich, auch der Leser freut sich, begegnet er der Dame mit dem Leberfleck, also der „jungen Frau von der Piazza Navona“, ein zweites Mal, beschreibt sie, und beginnt ihr zu folgen. Der Reisende sieht sie, denkt sich: „Rom ist gefährlich, die Stadt wird mich verführen. Ich werde nicht wegwollen. Alles, was ich finden und fühlen will, ist hier.“ Erinnerungen folgen, an „deutsche Opernfestspiele“, und ja, mancher Intellektuelle glaubt noch heute, diese besuchen zu müssen, einer geheimen Vorgabe folgend – als ob die sogenannte Hochkultur wirklich wichtig wäre. Letztlich aber verblassen die kulturellen Exkursionen ebenso wie die Religionsgespräche mit greisen Kardinälen. Strauß berichtet lakonisch Anekdotisches, mal ernsthaft, mal heiter. Das alles ist jedoch nicht ganz so erheblich. Der „jungen Frau mit dem Leberfleck“ begegnet er das zweite Mal ausgerechnet auf der Spanischen Treppe. Die Dame beginnt zu erzählen. Sie stamme aus Udine, arbeite an der Oper, studiere Tiermedizin, sitze gern am Tiber. Sie liebe den Fluss und sogar die Ratten dort. Eine „Weltreise“ hatte die „Schöne aus Udine“ vorgehabt. Daran denkt sie offenbar nicht mehr. Tags darauf sitzen der Reisende und die junge Dame, „sorglos, ohne tiefere Anteilnahme“, gemeinsam am Tiber: „Aber küssen will sie mich nicht. … Sie will mich nicht küssen, lässt mich nur über ihre Nase streichen und ihre Leberflecke zählen.“ Der Reisende sieht die Schönheit, begegnet ihr, versteht sie aber nicht: „Wir gehen zusammen ins Kino, sitzen unter freiem Himmel auf der Tiberinsel und schlagen die Mücken tot. Sie stützt sich auf eine Mauer, ich stehe daneben, Regen kommt. Das mit dem Leben wird schon irgendwie klappen, denke ich.“

Die römische Gelassenheit erfüllt den Reisenden, zumindest für Augenblicke. Natürlich gibt es immer noch genug von der Stadt zu bestaunen, Denkmäler, die man im Grunde vielleicht streifen, aber gar nicht sehen muss, Erinnerungsorte, Gräber von Gelehrten, Poeten und Kirchenfürsten. Die „Tiber-Frau“ hört zu, korrigiert den Reisenden sprachlich, erzählt von erfolglosen Bewerbungen und „möchte nirgendwo anders mehr leben als hier“. Später gelingt es den beiden, „gekonnt die Hände“ zu halten, „wie ein offiziell angemeldetes Liebespaar“. Sie schauen sich Romeo und Julia an, der Ballettabend endet aber nicht mit einer Liebesnacht: „Und wirklich, später am Abend, oben in ihrer kleinen Küche in Testaccio, durfte ich sie auf den Nacken küssen.“ Doch eine Distanz bleibt, bei aller Nähe.

Alles in Rom, so bemerkt der Reisende, sei „ausgefühlt“ gewesen und „in anderen Herzen bewegt worden“: „Aber die Brunnen sprudeln eben immer noch weiter. Die Sonne scheint immer noch durch die Kirchenfenster. Zum Verzweifeln, dass man nicht der Erste sein kann, der das sieht. Und doch sieht man ja all das längst Gesehene trotzdem zum ersten Mal. Die geheime Hoffnung bleibt: Hier bin ich einzig und allein gewesen.“ Erkennt sich der Romfahrer also doch als Romantiker? Auf gewisse Weise schon, denn er bleibt nur auf Zeit. Die von Simon Strauß angedeutete Liebesgeschichte mit der Stadt und der jungen Frau endet literarisch. Der Reisende möchte sie küssen, doch die Dame entzieht sich. Die Schöne aus Udine möchte vielleicht auch begehrt, vor allem aber geliebt sein: „Ich wollte sie küssen, aber sie zog mich nur sanft am Ohr. Strich mir über die Oberlippe und hielt mir die Haare hinten am Kopf zusammen. ‚Bleib hier‘, sagte sie, ‚dann küss ich dich immer.‘ Aber ich musste fort. Um mich wieder zu sehnen. Nach dem Licht, dem Rauschen, dem innigen Glück.“

Der Nachsatz quillt über vor ästhetisch kultivierter Empfindsamkeit. Der Romreisende ist in die Sehnsucht verliebt, nicht in das Mädchen, und er liebt sich selbst, so scheint es. Er ist nicht gekommen, um zu bleiben. So sucht er zwar die Sinnlichkeit, gibt sich aber nicht hin. Er bleibt dem Zirkel des Ich verhaftet – wie so viele Romantiker vor ihm. Niemand muss sein Herz an Rom verschenken, die Stadt lieben und ihrem Zauber erliegen. Aber die junge Dame mit dem Leberfleck auf der Wange, die so sorgfältig, behutsam und liebevoll beschrieben wird, wünscht sich nicht die Flüchtigkeit des Augenblicks. So begleitet sie den Reisenden, den sie nicht küsst, weil er nicht für immer bei ihr bleiben möchte. Eine unvergessliche Gestalt hat uns der begabte Erzähler Simon Strauß geschenkt. Über Rom erfahren wir in diesem Buch einiges, über die Liebe aber noch sehr viel mehr.

Titelbild

Simon Strauß: Römische Tage.
Tropen Verlag, Stuttgart 2019.
142 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783608504361

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