Angstfrei philosophieren

Martha Nussbaum legt Amerika auf die Couch und macht Therapievorschläge

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im dritten Akt von Friedrich Schillers Don Karlos geht es um absolute Macht, bürgerliche Freiheit und die menschliche Natur. Posa versucht, den König davon zu überzeugen, dass die Aufklärung für ihn keine Gefahr darstellt. Statt Angst zu verbreiten, solle er seinen Bürgern Freiheiten einräumen. Dann werde auch er selbst ein besseres Leben führen. Posa argumentiert, der Mensch werde in der Monarchie zum Werkzeug des Königs degradiert. Das sei eine freudlose und lieblose Angelegenheit, denn durch den Vorrang der Beziehung zum Herrscher würden die Bande zu den Mitmenschen gekappt. Die Reformation sei kein geeignetes Mittel der Veränderung. Die Wut der Protestanten verhärte nur die Fronten. Der König habe Mitgefühl nötig – kein schwaches Mitleiden, sondern echte Anteilnahme. In einer der bemerkenswertesten Reden der deutschen Literatur überhaupt dreht Posa die Machtverhältnisse um: Philipp solle endlich ein vollwertiger Mensch werden. „Werden Sie / Von Millionen Königen ein König“, ruft er dem verhärmten und aggressiven Monarchen zu.

Martha Nussbaum hegt dieselbe Hoffnung wie Posa: dass Hoffnung, gleichrangige Gemeinschaft und vernünftiger Austausch irgendwann einmal Angst und Gewalt bändigen werden. Wenn die Autorin vom „Königreich“ der Angst spricht, meint sie den zwar demokratisch gewählten, sich aber autokratisch gebärdenden US-Präsidenten Trump, und sie meint auch all diejenigen, die ihre Zukunftsangst so rabiat herausschreien, dass ein konstruktiver, offener und zuversichtlicher Umgang miteinander immer schwerer möglich wird.

Die Philosophin Nussbaum analysiert die US-amerikanische Gegenwart als ein Reich der Angst. Aus der Angst entspringen ihrer Beobachtung nach Zorn (Schuldzuweisungen und Rachegelüste), Ekel (Ausgrenzung zum Beispiel von Schwarzen und Homosexuellen) und Neid (von Missgunst und Anspruchsdenken getriebene Enteignungsfantasien). Ihren Ausgangspunkt bildet die Individualpsychologie: „Das Baby […] hat keine andere Überlebensmöglichkeit, als andere zu versklaven. Babys sind so schwach, dass sie entweder herrschen oder sterben müssen.“ Auf die politische Ebene überträgt Nussbaum diese Einsicht mithilfe von Jean-Jacques Rousseau, demzufolge die französischen Könige „kein Mitgefühl für die Menschen aufbringen [können], die sie regieren, da sie sich keine gemeinsame Welt oder Gegenseitigkeit mit ihnen vorstellen könnten“. Eine bessere Gesellschaft braucht aber zunächst die Vision einer besseren Gesellschaft.

Hier setzt bei Schiller der mutige Marquis Posa mit seiner Überzeugungsrede im Angesicht des Tyrannen an. Nussbaum bleibt dem Zentrum der Macht fern. Sie appelliert an die Vernunft ihrer gebildeten Leserinnen und Leser. Wir sollen lernen, andere wahrzunehmen und zu respektieren, und unsere Welt als eine politisch gestaltbare ansehen. Die Philosophie könne durch Kritik und Begriffsklärungen an diesem Emanzipationsprozess mitwirken.

Ist das einfacher gesagt als getan? Implizit gibt Martha Nussbaum auf diese Frage zwei Antworten. Erstens, der entscheidende Schritt im Prozess des gesellschaftlichen Wandels sei die Veränderung unserer Haltung. In dieser Haltung klingt das christliche „Fürchte dich nicht!“ an. „Tatsächlich ist Hoffnung eine Wahl, die man trifft, und sie ist eine praktische Gewohnheit.“ Wortwörtlich ruft die Philosophin uns auf, das Glas als halb voll anzusehen und uns nicht an die Leiden der Vergangenheit zu klammern. Zweitens setzt sie dem allenthalben zu hörenden „Empört euch!“ eine Art „Beruhigt euch mal“ entgegen. Die Lage in Amerika sei schon viel schlimmer gewesen als heute, und die aktuelle Krise werde doch im Wesentlichen herbeigeredet und herbeigefühlt.

In bester aufklärerischer Tradition – und durchaus ähnlich wie Schiller – konzentriert sich Nussbaum, nicht nur in diesem Buch, auf die Fähigkeiten des Menschen und nicht auf seine Bedürfnisse. Insofern kommen Arbeitslosigkeit, Strukturwandel und Drogenkriminalität nur am Rande vor, während sechs konstruktive Auswege aus dem Königreich der Angst den Zielpunkt bilden. Das auf der Basis von Glaube, Liebe und Hoffnung zu erneuernde demokratische Gemeinwesen schule sich am Besten in den Künsten, der Philosophie, in moderaten Religionsgemeinschaften, engagierten Bürgerbewegungen, in der systematischen Theoriebildung und in einem nationalen Pflichtdienst.

Wie bei Schillers Projekt der ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts bleibt die zentrale Frage unbeantwortet: Wie soll das gehen? Wer sagt dem arbeitslosen Klempner in Ohio, dass er Theater spielen soll? Und wer dem Kongressabgeordneten aus Oklahoma, dass er die kritische Philosophie finanziell unterstützen soll? Und wer sagt Martha Nussbaum, dass sie in einer so herausragenden Position ist, dass sie zumindest letzteres immer weiter versuchen sollte? Der Dialog über die Gräben hinweg ist schwierig; von ihm zu reden, reicht nicht aus.

Neben der praktischen Hürde gibt es eine konzeptionelle. Liberale Intellektuelle werden ihren rechten Gegnern nicht gerecht, wenn sie sie als angstvoll und irrational darstellen. Nussbaum ist eine hervorragende Exegetin von Lukrez und Rousseau; dürfen wir von ihr nicht auch eine Auseinandersetzung beispielsweise mit Carl Schmitt erwarten? Und müssen nicht wirtschaftliche und technologische Trends stärker herangezogen werden, wenn wir verstehen wollen, warum eine auf Fähigkeiten aufbauende Werte- und Gesellschaftsordnung so schwer zu realisieren ist? Immerhin befinden wir uns im Zuge der fortschreitenden Einführung von Künstlicher Intelligenz in einem Prozess des massiven Abbaus menschlicher Kompetenzen, der dem hier vertretenen Fähigkeitsmodell diametral entgegenwirkt.

Der Ansatz, die Hoffnung nicht aufzugeben, negative Emotionen nicht zu unterdrücken, sondern fruchtbar zu machen, Kompetenzen zu betonen und große Visionen zu entwickeln, ist beeindruckend (und Manfred Welteckes hervorragende Übersetzung des Buches macht die Auseinandersetzung damit auch auf sprachlicher Ebene zum Vergnügen). Aber wer hat den Mut?

Titelbild

Martha Nussbaum: Königreich der Angst. Gedanken zur aktuellen politischen Krise.
Konrad Theiss Verlag, Darmstadt 2019.
299 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783806238754

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