Aus dem Rahmen gefallen

Ein von Christoph Kleinschmidt und Uwe Japp herausgegebener Band beschäftigt sich mit Rahmenzyklen in der europäischen Literatur

Von Albrecht ClassenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Albrecht Classen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vom Spätmittelalter bis zum 19. Jahrhundert, zum Teil aber bis in die unmittelbare Gegenwart hinein, beispielsweise bis Robert Gernhardts Florestan-Fragmenten, bestand in der europäischen Literatur ein recht großes Interesse daran, Erzählungen in einen Rahmenzyklus einzufügen, was schon seit Giovanni Boccaccio große Mode machte. Dieser narrative Typus war das Thema der siebten Vorlesungsreihe an der Goethe-Universität Frankfurt am Main im Sommersemester 2016. Nur zwei der hier abgedruckten Studien betreffen mehr oder weniger das Mittelalter, mein Spezialgebiet, die anderen beziehen sich auf einschlägige Fälle seit dem 17. Jahrhundert, die hier aber nicht gründlicher besprochen werden können. Nur so viel sei angemerkt, dass das von Boccaccio auf die Wege gebrachte Modell ungemeine Langzeitwirkung bewies und uns hier bis zu Giambattista Basile (Christine Ott), Paul Scarron (Frank Estelmann), Johann Wolfgang von Goethe (Christoph Kleinschmidt), Clemens Brentano (Wolfgang Bunzel), Heinrich von Kleist (Torsten Hoffmann), Ludwig Tieck (Stefan Scherer), E. T. A. Hoffmann (Uwe Japp), Heinrich Heine (Stephanie Heck und Simon Lang) und sogar, wie eingangs erwähnt, bis zu Robert Gernhardt (Gabriele Rohowski) führt.

Sehr zu begrüßen sind die einleitenden Bemerkungen von Uwe Japp und der Epilog von Christoph Kleinschmidt, die sich sozusagen die Hände über die Jahrhunderte hinweg reichen und zum Teil die gleichen Aspekte ansprechen, wozu der Stand der Forschung, die Gattungsfragen und die Form des Zyklus gehören (Japp), dazu Gattungsvarianten, Selbstreflexivität, Poetik, Komik und Ironie sowie Einheit und Heterogenität (Kleinschmidt). Sympathisch ist auch eine tabellarische Auswertung der Rahmenzyklen, womit jedes einzelne Beispiel in seiner Struktur sofort klar vor unsere Augen tritt. Dazu finden sich noch eine Auswahlbibliographie und eine Liste von Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren, während ein Index unverständlicherweise fehlt.

Es handelt sich allerdings, wie bereits die erste Lektüre sofort offenkundig macht, eben um Vorlesungen, wie sie in einer solchen Universitätsveranstaltung zu erwarten sind. Dies ist gar nicht abträglich zu beurteilen, denn die Beiträge gehen durchaus auf einzelne kritische Elemente ein, aber angesichts der großen literarischen Qualität jedes einzelnen Werkes überrascht es dann doch nicht, dass die BeiträgerInnen eben meist nur recht oberflächlich eine Interpretation anbieten können und vielfach auf eine Handlungssynopse zurückfallen. Man muss freilich zugleich zugeben, dass der Schwerpunkt ja nur auf der jeweiligen Rahmenhandlung ruht, aber wie sollte man diesen Rahmen anders analysieren, ohne auch den Inhalt mit zu berücksichtigen? Dazu kommt noch, dass weder Boccaccio noch Geoffrey Chaucer, von Goethe, Heine oder Kleist ganz zu schweigen, Unbekannte sind, ganz im Gegenteil. Die Forschung zum Decameron und zu den Canterbury Tales ist heute so umfangreich, dass man eigentlich mit einem beträchtlichen Schuss an Naivität an die selbstgestellte Aufgabe herantritt, wie es hier auch der Fall ist. Gewiss bemühen sich sowohl Andrew James Johnston (Chaucer) als auch Jan Söffner (Boccaccio) darum, spezielle Perspektiven herauszuarbeiten, aber zufriedenstellen kann uns weder der eine noch der andere, bleibt es ja jeweils bei relativ vagen, theoriegeladenen oder ziemlich schlichten Überlegungen, die erst durch eine gründliche Textanalyse belegt werden könnten. Worin bestände etwa bei Boccaccio die „politische Instabilität“ oder die „ästhetische Autonomie“? Was meint Johnston wohl damit, wenn er in Bezug auf Chaucers Canterbury Tales von einem vermeintlich oftmals von modernen Interpreten als „anachronistisch geschmähten Realismus“ spricht? Unterliegt der Knight’s Tale wirklich eine dem Fabliau geschuldete Handlungsstruktur? Trotzdem will man den Autoren nicht die Anerkennung absprechen, einem breiteren studentischen Publikum gute Einsichten in beide Werke vermittelt zu haben, auch wenn sie schlüssige Beweise letztlich schuldig bleiben.

Die Auswahl von Boccaccio und Chaucer für diesen Band ist selbstverständlich, aber wieso fehlen dann mehr als zweihundert Jahre an Literaturgeschichte? Weder die Cent Nouvelles Nouvelles (ca. 1460) noch Marguerite de Navarre mit ihrem Heptaméron (1558/59; hier zumindest von Kleinschmidt im Nachwort kurz angesprochen) sind in diesem Band vertreten, von vielen anderen vergleichbaren Werken der Schwankgattung im 16. Jahrhundert zu schweigen. Ob es wirklich angemessen ist, alle die hier angesprochenen Werke allein deswegen über einen Kamm zu scheren, weil sie eine Rahmenerzählung aufweisen, scheint mir nicht unbedingt ratsam, wie einige Kommentare im Nachwort bedenklicherweise andeuten: „in den Texten des 14. Jahrhunderts herrscht Einmütigkeit über das Erzählprogramm vor, nicht aber unbedingt in denen der Moderne“. Sobald sich das Augenmerk auf die Moderne richtet, verschwindet das europäische Umland vollkommen, ist nur noch von deutscher Literatur die Rede. Generell wird man diesen Band wohl begrüßen können, aber ohne besondere Begeisterung. Ich glaube nicht, dass jede Ringvorlesung sofort in den Druck gelangen muss.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Christoph Kleinschmidt / Uwe Japp (Hg.): Der Rahmenzyklus in den europäischen Literaturen. Von Boccaccio bis Goethe, von Chaucer bis Gernhardt.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2018.
311 Seiten , 52,00 EUR.
ISBN-13: 9783825367169

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch