Nach Stalingrad

Heinrich Gerlach berichtet in „Odysse in Rot“ über eine Irrfahrt durch die Jahre seiner Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heinrich Gerlach, da ist dem Herausgeber Carsten Gansel, der auch diesem Buch wieder einen ebenso umfangreichen wie lesenswerten Anhang beigegeben hat, zuzustimmen, ist eine „Ausnahmefigur in der deutschen Literaturlandschaft“. Das bezieht sich zum einen auf den 2016 erschienenen Roman Durchbruch bei Stalingrad zum anderen aber auch auf das ebenfalls im Berliner Galiani Verlag neu aufgelegte Buch Odyssee in Rot. Bericht einer Irrfahrt. Beide Bücher begründen Gerlachs besondere Bedeutung dadurch, dass sie nicht nur jeweils von eigenwilliger literarischer Qualität sind, sondern darüber hinaus selber zu Dokumenten der Zeitgeschichte geworden sind. Sicher trifft letzteres mehr noch für den Stalingradroman zu, dessen Entstehung in sowjetischer Kriegsgefangenschaft und seine spätere Rekonstruktion durch den Verfasser in der Bundesrepublik eine spannende Geschichte ist, die der Herausgeber Gansel recherchiert und beschrieben hat. Gerade vor diesem Hintergrund wird nun auch das 1966 erstmals erschienene Buch Odyssee in Rot erneut interessant. Denn der Bericht einer Irrfahrt ist, wie es der Untertitel zum Ausdruck bringt, kein ‚normaler‘ Roman, sondern versteht sich auch als eine Art dokumentarischer Bericht über die Zeit nach Stalingrad, die Gerlach bis 1950 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft verbrachte. Die im Bericht beschriebenen Geschehnisse, die Orte und Personen lassen sich mit einem Geschichtsbuch verifizieren.

Wie bereits in Durchbruch bei Stalingrad erzählt Gerlach nicht in der Ich-Form als allwissender Erzähler, sondern nutzt sein Alter Ego Oberleutnant Breuer. Mit dieser Erzählhaltung verschafft er sich genügend Freiheiten für die literarische Gestaltung der realen Ereignisse. Allerdings führt diese hier nicht zu den beeindruckenden Leseerlebnissen wie in Durchbruch bei Stalingrad. Die authentische Nähe, die das Kriegsgeschehen in Stalingrad so erschütternd unmittelbar erscheinen ließ, verpufft in der Odysse in Rot weitgehend. Das liegt natürlich auch daran, dass der erzählerisch zu bewältigende Stoff von anderer Art ist als im Stalingradroman. Es gibt keine sich immer wieder in kurzen Momenten kristallisierende Dramatik des Krieges zu schildern. Die Kriegsgefangenschaft prägt ein lähmender Stillstand, eine ständige Ungewissheit über den Fortgang der Dinge.

Wie aber diesen Stillstand schildern? In langen Passagen, die Gerlach als guter Erzähler freilich immer wieder auch mit kurzweiligen Episoden aufzulockern versteht, erzählt er vom Gefangenenalltag der ehemaligen Wehrmachtsoffiziere, der im Vergleich zum Schicksal der einfachen Soldaten in den Lagern deutlich privilegiert war. Im Zentrum stehen die Diskussionen über das Schicksal Deutschlands nach Stalingrad. Denn für viele der überlebenden Wehrmachtssoldaten war Stalingrad ein Wendepunkt: Spätestens jetzt war ihnen klar, dass dieser Krieg ein verbrecherischer Krieg war. Verantwortlich dafür war Deutschland. Wollte es nicht endgültig untergehen und seine Würde wahren, so musste es sich selbst vom Unrechtsregime der Nazis befreien. Für viele der Soldaten und Offiziere ging damit auch die bittere Erkenntnis einher, dass sie sich für diesen Krieg hatten missbrauchen lassen. Jetzt galt es, mit eigenem Engagement Schlimmeres zu verhindern und sich für ein anderes Deutschland einzusetzen. Die Sowjets boten dazu Möglichkeiten.

Gerlach schildert, wie die Offiziere, unter ihnen auch sein Alter Ego Breuer, zunächst noch zögernd, dann aber immer bestimmter und überzeugt von ihrem Beitrag, die Kooperationsangebote der Sowjets und der deutschen Emigranten in der Sowjetunion annehmen. Im Juli 1942 gründete sich im Gefangenenlager Lunjowo in dem unweit Moskaus gelegenen Krasnogorsk das „Nationalkomitee Freies Deutschland“, ein Zusammenschluss von ehemaligen Wehrmachtsangehörigen und exilierten KPD-Politikern. Obwohl es Misstrauen gegen den dominierenden Einfluss der Kommunisten gab, unterzeichneten sie gemeinsam das Manifest zum Kampf gegen die Hitlerdiktatur und für ein neues Deutschland. Die noch Zögernden unter ihnen konnte dann zwei Monate später am gleichen Ort die Gründung des „Bundes Deutscher Offiziere“ (BDO) überzeugen. 95 Offiziere, unter ihnen viele, die in Stalingrad dabei waren, traten dem Bund bei. Sie wählten einen der ihren, General Walter von Seydlitz, zum Vorsitzenden des Bundes.

„Das Haus der großen Träume“ nennt Gerlach das zentrale Kapitel über diese Zeit der hoffnungsvollen Kriegsgefangenschaft in Lunjowo. Es erzählt von Plänen, vom Aufbruch, von Bedenken, Enttäuschungen, notwendigen Kompromissen und immer wieder auch vom Misstrauen gegenüber den Absichten der Sowjets, dem Einfluss der Emigranten aber auch der Haltung der eigenen Leute. Ausgiebig, fast schon im Referatsstil werden Vorträge und Diskussionen wiedergegeben. Denn in Lunjowo traten viele derjenigen auf, die später in der DDR Führungsaufgaben in Politik, Verwaltung und Kultur übernehmen sollten. Unter ihnen Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck oder Johannes R. Becher. Es entbehrt nicht eines eigenen Reizes, den skeptischen Oberleutnant Breuer im Gespräch mit diesen Personen der Zeitgeschichte zu erleben.

Aus den „großen Träumen“ wurde freilich nichts. Auch das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 kam zu spät. Der eher bürgerliche Widerstand, an dem auch Angehörige der Wehrmacht beteiligt waren, passte indes nicht so recht ins Kalkül der deutschen Kommunisten. Unter ihrem Einfluss wurden die Ereignisse von den Kriegsgefangenen nur beiläufig und unvollständig wahrgenommen. So beendete erst die vollständige militärische Niederlage den Krieg. Aber die Gefangenschaft hielt an. Sorgsam, Längen nicht scheuend, erzählt Gerlach von den weiteren Stationen seiner „Irrfahrt“, die noch fünf Jahre dauern sollte.

Gerlachs Bericht erinnert an das ernsthaft-tragische Ringen vieler Kriegsgefangener in der Sowjetunion, aus den traumatischen Kriegserfahrungen Konsequenzen zu ziehen, sich aktiv für einen Sieg über Hitler einzusetzen und ein neues Deutschland entstehen zu lassen. Dort aber wurden sie von den Nazis als Verräter gebranntmarkt, ihre Familien darbten in „Sippenhaft“. Im antikommunistischem Klima des Kalten Krieges wurde ihnen die Zusammenarbeit mit Kommunisten vorgeworfen. Gerlachs Buch forderte dagegen zu einer differenzierten Betrachtung der Motive der Kriegsgefangenen und ihres Handelns auf. Darin liegt seine zeitgeschichtliche Bedeutung.

Titelbild

Heinrich Gerlach: Odyssee in Rot. Bericht einer Irrfahrt.
Herausgegeben und mit einem Nachwort und dokumentarischem Material versehen von Carsten Gansel.
Galiani Verlag, Berlin 2017.
915 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783869711447

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