Andere Länder, neue Perspektiven
Äthiopien im GoPro-Format und Kirgistan auf dem Rücken der Pferde entdecken
Von Jan Grey
Der deutsche Dokumentarfilm erlebte auf dem diesjährigen Festival des deutschen Films in Ludwigshafen am Rhein eine Symphonie an Bildern, Musik und filmischer Finesse. Die Dokumentarfilme Das grüne Gold (2017) und Nomaden des Himmels (2015) zeigen unverblümt Schicksale, die dem deutschen Publikum so fern sind wie die Länder und Kulturen, in denen die Bilder entstanden sind. Trotzdem nimmt man am Leben und Schicksal dieser Menschen teil und Anteil.
Stellen Sie sich vor, Sie steigen in Äthiopien aus dem Flieger und sehen, wie in der Morgensonne die Hilfslieferungen aus der westlichen Welt in einem der ärmsten Länder der Welt ankommen. Ein Anblick, den man wahrscheinlich vielerorts sehen kann. Doch wenn neben den Hilfslieferungen der WHO ein Flugzeug mit Nahrung beladen wird, die als Exportware in die westliche Welt geliefert wird, ist es eine verkehrte Welt. Sollen in Ländern, in denen die WHO Hilfe leisten muss und große Teile der Bevölkerung hungern, tatsächlich Lebensmittel exportiert werden? Traurig aber wahr.
Eben mit dem Bild einer verkehrten Welt beginnt an einem kleinen Flughafen in Äthiopien Joakim Demmers Reise ins äthiopische Inland und zurück, die für den Zuschauer knapp 90 Minuten andauert. Immer auf den Spuren der großen Probleme der Menschheit wandelnd, erzählt Demmer in Das grüne Gold die schockierende Geschichte der Vertreibung der äthiopischen Ureinwohner, deren Land auf dem internationalen Markt gehandelt und verkauft wird. Einen Anspruch auf das Land, auf dem sie seit Generationen leben, haben sie nicht. Die äthiopische Regierung veräußert nämlich die Waldgebiete ihres Staates, um die infrastrukturelle Entwicklung voranzutreiben. Koste es, was es wolle. Einen Anschluss an die internationalen Märkte zu finden, erscheint wichtiger als die Nahrung für die hungernde lokale Bevölkerung. So werden fleißig Lebensmittel für den Export produziert. An die Äthiopier denkt niemand, warum auch? Die Industrienationen brauchen das Land nämlich dringender als Gold. Das grüne Gold, Land als Wertanlage, als ultimativ begrenzte Ressource und die Geldanlage der Zukunft. Dass dafür der Nationalpark von Gambela weichen soll, stört niemanden. Das grüne Gold erzählt vom aussichtslosen Kampf der äthiopischen Ureinwohner und Umweltschützer gegen den Verkauf vom Land, von der Ungerechtigkeit in der Nahrungsverteilung und dem scheiternden Kampf gegen den weltweiten Hunger, vom Kampf, dem die Welt tatenlos zuschaut.
Das grüne Gold ist eine ungewöhnliche Dokumentation, die neben ihrer bewegenden Geschichte auch durch eine überzeugende Kameraperspektive (die Ich-Perspektive) glänzt, durch die der Dokumentarfilm wie eine Aufnahme mit einer Action-Cam wirkt. Selten erscheint das äthiopische Inland so greifbar und nah, selten ein Interview so mitreißend, wie in dieser Dokumentation. Lange Kamerafahrten im Jeep und Überflüge eröffnen einen Einblick in die landschaftliche Einzigartigkeit Äthiopiens und bilden einen starken Kontrast zur Zerstörung des Nationalparks Gambela und dem Leiden der indigenen Bevölkerung. Untermalt von äthiopischen Klängen, werden die Sinne der ZuschauerInnen entführt und kommen auf ihre Kosten.
Joakim Demmer greift hiermit ein heikles Thema auf, aus dem er wieder einen meisterhaften Dokumentarfilm macht. Damit knüpft er an seine vorherigen Erfolge aus den Jahren 2016 (Im Land der Samen), 2014 (Der Sonnenkönig von Massai) und an seine Serienproduktion aus dem Jahre 2008 (Fremde Kinder) an. Dabei gelingt ihm erneut eine unvergleichliche Gratwanderung zwischen Dokumentation und Drama.
Wer aber eine profane Freitagabend-Unterhaltung sucht, ist bei Das grüne Gold falsch. Dort findet er nämlich weder Humor noch Sentimentalität, stattdessen eine erschütternde Geschichte, die teilweise in langatmigen Passagen, stellenweise in der Muttersprache der äthiopischen Ureinwohner mit deutschen Untertiteln, erzählt wird. Die original äthiopischen Filmstellen sind zwar schwierig zu verfolgen, doch genau diese verleihen dem Film eine enorme Authentizität.
Ein gleichermaßen gelungenes dokumentarisches Meisterwerk, Nomaden des Himmels (2015), ist der dritte Film von Mirlan Abdykalykov, ebenfalls bekannt durch die Produktion von The Chimp (2001) und The Adopted Son (1998). Bei Nomaden des Himmels handelt es sich um eine ältere Produktion, die wiederholt auf dem Festival des deutschen Films aufgeführt wurde.
Auch diese Dokumentation entführt die ZuschauerInnen in ferne Länder, diesmal nach Kirgistan: unendliche Weiten, seichte Bäche und unwirtliche Hochlande. Mitten in der unberührten Natur leben die kirgisischen Hirtenstämme. Ihre einzigen Fortbewegungsmittel und der einzige Wohlstand sind Pferde, denn sie sind ein Reitervolk. Seit Jahrhunderten leben sie in ihren traditionellen Jurten und wandern mit ihren Viehherden durch das Land. Ein kirgisisches Sprichwort besagt, dass „Pferde die Flügel der Menschen sind“. Was könnte das Leben dieser Menschen verändern? Diese Frage stellte sich die Familie der verwitweten Shaiyr (Taalaikan Abazova) nicht, bis der Meteorologe Ermek (Jenish Kangeldiev) seine Wetterstation nahe deren Jurte errichtete. Für sie und ihre Familie beginnt eine Entdeckungsreise durch die vermeintlichen Errungenschaften der modernen Welt, fernab der Zivilisation. Dabei sucht Shaiyr ihre Identität zwischen der kirgisischen Tradition und der modernen Welt, die von ihrer Familie abgelehnt wird.
Eine Liebeserzählung, wie sie überall auf der Welt geschehen könnte, wird zum Rahmen für dieses Kunstwerk, das Abdykalykov für seine ZuschauerInnen malt. Neben den landschaftlichen kirgisischen Besonderheiten fängt er zudem auch die Kultur und das Leben der kirgisischen Hirten ein. Die Alltäglichkeit und die außergewöhnlichen Einblicke in die Kultur der kirgisischen Hirten ergeben ein Gemälde der Gefühle und Eindrücke, die sich um den Konflikt von kirgisischer Tradition und der modernen Welt drehen und den Zuschauer in eine ferne und unbekannte Welt entführen.
Wer glaubt, Dreharbeiten mit Kindern seien schwierig, hat noch nie mit Tieren gearbeitet. Dennoch spielt Shaiyrs Sohn eine überzeugende Rolle. Ebenso lobend soll die Kameraführung erwähnt werden, die mit vielen guten, auch wenn teilweise auch zufällig anmutenden Aufnahmen daherkommt. Aufnahmen, die ein kirgisisches Mädchen mit einem Lamm auf dem Arm auf einer blühenden Wiese zeigen, während die Sonne im Hintergrund langsam untergeht, zeugen entweder von einem professionellen und kompetenten Kameramann oder von einem glücklichen Händchen. In jedem Fall sind es sehr eindrückliche Bilder, die Nomaden des Himmels von vielen anderen Dokumentationen abheben.
Eine überzeugende Liebesgeschichte, eine gute schauspielerische Leistung, eine unbekannte Kultur und viele Einblicke in die kirgisische Natur sind das, was Abdykalykovs Film zu bieten hat und auch alles, was ein guter Dokumentarfilm braucht.
Zwei Ziele, zwei Reisen, zwei Kulturen und viele Eindrücke. Beide Dokumentarfilme bilden für sich genommen auf ihre Art hervorragende Filme. Sie sind beide absolut lohnenswert, doch wenig als pure Unterhaltung oder für profane Berieselung geeignet. Wer dagegen ferne Lebensweisen in weniger als zwei Stunden erfahren möchte, ohne die Sicherheit seines Heims zu verlassen, ist bei Das grüne Gold und Nomaden des Himmels genau richtig.
Das grüne Gold (Dead Donkeys Fear No Hyenas)
Deutschland 2017
Regie: Joakim Demmer
Kinostart: 2017
83 Minuten
Nomaden des Himmels
Regie: Mirlan Abdykalykov
Deutschland 2015
81 Minuten
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen