Geheimnisvoll wie eine Katze

Isabelle Huppert brilliert in Paul Verhoevens provokantem Psychodrama „Elle“

Von Dominik RoseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dominik Rose

Bereits die Eröffnungsszene von „Elle“, dem neuen Film des niederländischen Kino-Provokateurs  Paul Verhoeven, sorgt zugleich für Schock und Irritation. Im Hintergrund sind die Geräusche einer Vergewaltigung zu hören, während wir in die Augen einer Katze blicken, die das Geschehen mit einem Ausdruck von nachdenklicher Ruhe, vielleicht auch einer Spur Neugierde, beobachtet. Aber das ist natürlich nur eine Interpretation, denn wer mag schon deuten, was eine Katze hinter ihrer mysteriös-unnahbaren Aura für Gedanken verbirgt? Die Vergewaltigung selbst, die später in der Erinnerung des Opfers Michèle Leblanc (Isabelle Huppert) noch mehrfach heraufbeschworen wird, ist von einer abrupten Gewalt, die den Zuschauer augenblicklich verstört und ahnen lässt, dass der Film seinem Publikum – und seiner Hauptfigur – einiges zumuten wird.

Das Leben scheint für Michéle nach dem Überfall ohne große Veränderungen weiterzugehen. Sie räumt die Scherben beiseite, empfängt Besuch, lässt sich beim Arzt untersuchen, verzichtet jedoch darauf, bei der Polizei Anzeige zu erstatten. Als Chefin eines erfolgreichen Videospielunternehmens, das sich auf Sex- und Gewaltspiele spezialisiert hat, begutachtet sie äußerlich völlig ungerührt die animierten Gewaltphantasien ihrer Spieleentwickler. Ihrem Ex-Mann Richard (Charles Berling) und dem befreundeten Paar Anna und Robert (Anne Cosigny und Christian Berkel) erzählt sie während eines gemeinsamen Restaurantbesuchs beiläufig von der Vergewaltigung, nur um kurz darauf – ganz nonchalant – die Bestellung aufzugeben. Keine Frage, Michéle Leblanc verhält sich ziemlich ungewöhnlich für ein Vergewaltigungsopfer. Allerdings ist sie auch, das wird schnell deutlich, eine außergewöhnliche Frau mit einer düsteren Vergangenheit, die der Film ganz allmählich als einen von vielen Nebensträngen der Handlung enthüllt: Ein monströses Verbrechen aus Michéles Kindheit, für das ihr Vater seit vielen Jahren im Gefängnis sitzt und sie selbst noch immer in der Öffentlichkeit angefeindet wird. Daher mag der emotionale Schutzpanzer kommen, den sie sich zugelegt hat, sowie ihre strikte Weigerung, sich in die Opferrolle zu fügen. Stattdessen besorgt sie sich in einem Waffenladen Pfefferspray und eine Axt und inspiziert ihre Umgebung auf der Suche nach dem maskierten Täter, den sie in ihrem sozialen Umfeld vermutet. Und tatsächlich: Bald treffen die ersten anonymen Nachrichten auf ihrem Handy ein, die nur vom Täter stammen können, und vor ihrem Anwesen in einem Pariser Vorort wird ein maskierter Mann gesichtet. Doch fürchtet Michéle tatsächlich die Rückkehr des Täters oder sehnt sie sie herbei?

Es ist ein Verdienst des Films, einfache psychologische Erklärungsmuster zu vermeiden und den Zuschauer in seiner Erwartungshaltung immer wieder hinters Licht zu führen. Paul Verhoeven hat ein sichtliches Vergnügen daran, mit seiner Geschichte Haken zu schlagen und dabei die herkömmlichen Genregrenzen zu unterlaufen. „Elle“ ist zugleich Psychothriller, faszinierende Charakterstudie, obsessive Sado-Maso-Fantasie und eine bitterböse und schwarzhumorige Gesellschaftsstudie, die den Lebensstil des gehobenen Bürgertums mit seinen von kalter Eleganz erfüllten Luxuswohnungen und der vulgären Exzentrik auf die Schippe nimmt. Die spießigen, von religiöser Inbrunst ergriffenen Nachbarn Rebecca und Patrick (Virginie Efira und Laurent Lafitte), die ihren Garten zur Weihnachtszeit mit Lichterkette und bombastischer Krippe verschandeln (und dabei von der masturbierenden Michéle mit dem Fernglas beobachtet werden), der Ex-Mann Richard als Typus des selbstverliebten Intellektuellen, der verweichlichte, lebensuntüchtige Sohn (Jonas Bloquet) mit seinen chronischen Geld- und Frauensorgen, das befreundete, nach außen glückliche Paar Anna und Robert (mit dem Michéle heimlich Sex hat), schließlich die Botox spritzende Mutter, die sich einen Gigolo hält, der ihr Enkel sein könnte.

Verhoevens Studie der Hautevolee ist nicht frei von Klischees, manche Figur gerät doch zu konstruiert. Im Zentrum der Handlung steht aber ohnehin die faszinierend vielschichtige Michéle. Isabelle Huppert verleiht ihrer Rolle eine rätselhafte Abgründigkeit, die gleichermaßen abstoßend wie unwiderstehlich ist. Die größte Provokation des Films besteht vielleicht darin, dass er von einer Frau erzählt, die sich nicht an die Konventionen hält und in hohem Maße widersprüchlich ist. Solche Frauenrollen gibt es nur sehr selten zu sehen, das muss man dem gerade von Feministinnen oft angefeindeten Paul Verhoeven lassen. Mit Isabelle Huppert, die als beste Hauptdarstellerin für einen Oscar nominiert wurde, hat er eine Darstellerin gefunden, die ihre Figur für den Zuschauer nicht nur authentisch zum Leben erweckt, sondern den Film aller kalkulierter Provokationen zum Trotz sehenswert macht.

Elle, Frankreich 2016
Regie: Paul Verhoeven.
Nach dem Roman „Oh…“ von Philippe Djian
Darsteller: Isabelle Huppert, Anne Consigny, Charles Berling, Christian Berkel, Laurent Lafitte, Judith Magre, Lucas Prisor
Laufzeit: 130 Minuten

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