Kafkas Ruhm

Die produktive Kraft seiner Werke

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

Die Ursache dessen, daß das Urteil der Nachwelt
über einen Einzelnen richtiger ist als das der Zeitgenossen,
liegt im Toten. Man entfaltet sich in seiner Art erst nach dem Tode,
erst wenn man allein ist. Das Totsein ist für den Einzelnen
wie der Samstagabend für den Kaminfeger,
sie waschen den Ruß vom Leibe.

Aus Franz Kafka: Beschreibung eines Kampfes

1.

Franz Kafka konnte selbstbewusst sein, wenn es ihm gut ging: beim Schreiben. Im Februar 1911 war er sogar von sich begeistert. „Die besondere Art meiner Inspiration“, notierte er ins Tagebuch, „ist die, daß ich alles kann, nicht nur auf eine bestimmte Art hin“. Doch selbst in Augenblicken geglückten und ihn glücklich machenden Schreibens hat Kafka sich nicht vorgestellt, dass er einmal als einer der bedeutendsten Schriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts gelten würde. Mit mehr als einer bescheidenen, langsam schwindenden Bekanntheit hat er nicht gerechnet.

Kafkas Ruhm hat dieses Maß weit überschritten. Er ist in jeder Hinsicht außergewöhnlich, vor allem in seinem Ausmaß und in seiner Beständigkeit. Längst gilt er als ein Autor der Weltliteratur. Sein literarischer Rang ist unbestritten, auch wenn keine Einigkeit darüber besteht, ob er mehr auf den Romanen oder den Erzählungen beruht. Sein Werk ist über die ganze Welt verbreitet und hat eine tiefe und nachhaltige Wirkung auf spätere Literatur ausgeübt, nicht nur auf die deutsche, sondern auch auf die europäische, ja auf die der Welt.

Kafkas Ruhm hat den vieler anderer Schriftsteller seiner Zeit überdauert, die einmal bekannter waren als er. Im Unterschied zu ihnen hat er erst auf die Nachwelt gewirkt. Sein Ruhm ist wesentlich Nachruhm. Zu Lebzeiten ist Kafka wenig wahrgenommen worden; der literarischen Öffentlichkeit war er kaum ein Name. Berühmt wurde er erst nach seinem Tod, das allerdings schnell. Als Thomas Mann 1941 die amerikanische Ausgabe des Schloß-Romans mit einer „Homage“ versah, rechnete er Kafka bereits zur Weltliteratur. Diese Einschätzung war Ende der 40er Jahre schon Gemeingut. Kafkas Aufstieg von einer literarischen Lokalgröße zu einem weltweit beachteten Schriftsteller gehört zu den rasantesten Karrieren der Weltliteratur. Er benötigte kaum ein Viertel der Zeit, die Horaz als Maß ansetzte.

Das ist umso ungewöhnlicher, als Kafka zuerst außerhalb des deutschen Sprachraums berühmt wurde. Verantwortlich dafür waren nicht zuletzt politische Umstände. Nach 1933 konnten seine Werke in Deutschland nur von einem jüdischen Verlag für jüdische Leser gedruckt werden. Der Schocken Verlag, in dem sie damals erschienen, wurde 1939 endgültig geschlossen. Er siedelte zuerst nach Palästina, darauf Mitte der 40er Jahre nach New York über. Mit ihm verließ auch Kafkas Werk vorerst den deutschen Sprachraum. Früh vor allem ins Englische und Französische übersetzt, fand es allerdings rasch Beachtung innerhalb und außerhalb Europas, zumal unter Autoren und Philosophen, und fast ebenso rasch mischte sich in die Beachtung Bewunderung und Verehrung. Kafkas Ruhm ging in den 40er Jahren von England und Frankreich, auch von den USA aus. Erst danach verbreitete er sich, Anfang der 50er Jahre, nachhaltig auch in Deutschland, alles in allem allerdings nicht wesentlich früher als etwa in Lateinamerika.

Ruhm, der wesentlich Nachruhm ist und fast von Anfang an auch Weltruhm, ist in der Literaturgeschichte selten. Meist geht dem Nachruhm ein Ruhm zu Lebzeiten voraus, dem internationalen ein nationaler. Es mag dahingestellt sein, ob posthumer Ruhm, wie Hannah Arendt bemerkt, zu den traurigsten „Sorten von Ruhm“ gehört. Für den Weltruhm gilt das sicher nicht. Auch im Fall Kafkas trifft aber zu, dass der Nachruhm „der Preis derer ist, die ihrer Zeit vorauseilten“.

2.

Die Beschäftigung mit Kafkas Werk ist über alle Kontinente verbreitet und hat Spuren in fast allen Bereichen geistiger und künstlerischer Tätigkeit hinterlassen, besonders natürlich in der Literatur, aber auch in den anderen Künsten und in der Philosophie, in Bereichen also, die er selbst in seinem Leben nur flüchtig oder gar nicht berührt hat. Kafkas Ruhm verdankt sich einer lang anhaltenden Faszination, die vor allem vom Werk ausgeht: von seiner Sprache und seinen Einfällen und damit von seiner besonderen Phantasie, die dem Erzählen nach der Epoche des Realismus neue Spielräume eröffnet hat. Individuell vor allem von Künstlern reflektiert, durchzieht diese Faszination die Geschichte seiner Rezeption. 

Die Liste der Autoren, die sich auf Kafka ausdrücklich bezogen haben, ist lang und voller großer Namen. In der deutschen Literatur sind es etwa Elias Canetti und Peter Weiss, Paul Celan und Peter Handke, in der englischen W.H. Auden, Rex Warner und Harold Pinter, in der französischen Nathalie Sarraute und Alain Robbe-Grillet, in der osteuropäischen Milan Kundera und Danilo Kiš. Zahlreich sind die amerikanischen, zumal die amerikanisch-jüdischen Erzähler, die man mit Kafka in Verbindung gebracht hat, von Nathanael West und J. D. Salinger über Saul Bellow, Philipp Rothund Paul Auster bis zu Louis Begley, der ihm ein kluges Buch gewidmet hat. Aus der lateinamerikanischen Literatur sind, neben Carlos Fuentes, vor allem Jorge Luis Borges und Mario Vargas Llosa zu nennen. Sogar asiatische und afrikanische Autoren haben sich als produktive Leser Kafkas zu erkennen gegeben. 2002 erfand der Japaner Haruki Murakami in Kafka am Strand den Jungen Kafka Tamura, der, anders als Georg Bendemann in Das Urteil, seine Heimat verlässt, um dem Fluch seines Vaters zu entgehen. Der südafrikanische Nobelpreisträger John M. Coetzee lässt in seinem didaktischen Roman Elizabeth Costello. Acht Lehrstücke von 2003 die Hauptfigur einen provokanten Vortrag über das Verhältnis zu Tieren halten, der seinen Ausgang bei Ein Bericht für eine Akademie nimmt.

Nach der Literatur ist es zuerst das Theater gewesen, das sich Kafkas Werks durch Bearbeitung angenommen, ja es sich zueigen gemacht hat. Die erste Dramatisierung, die des Prozeß, 1947 von Jean-Louis Barrault und André Gide besorgt, mit Musik von Pierre Boulez, ist bis heute die gewichtigste geblieben. Mit der Zeit sind nicht nur alle Romane, sondern auch etliche Erzählungen Kafkas für das Theater bearbeitet worden, bis hin zur Verwandlung. Wenig Beachtung gefunden hat dabei, bemerkenswerter-, aber nicht überraschenderweise, Kafkas einziges Drama: Der Gruftwächter.

Die Reihe der musikalischen Interpretationen hat Max Brod eröffnet, der schon 1911 Kafkas Gedicht Kleine Seele – springst im Tanz vertont hat. Größere Resonanz haben andere Stücke gefunden: Ernst Kreneks Motetten nach Worten von Franz Kafka für Singstimme und Klavier, Hans Werner Henzes monodramatische Kantate Ein Landarzt von 1951, Gottfried von Einems Oper Der Prozeß von 1953 und György Kurtágs Kafka-Fragmente für Sopran und Violine op. 24. Kafkas Werk ist sogar in der populären Musik wahrgenommen worden, angefangen bei Bob Dylans Love minus zero mit dem allusiven, 1965 sich offenbar schon von selbst verstehenden Vers „The country doctor rambles“.

Seit Ottomar Starke eine Umschlag-Illustration für die Erstausgabe der Verwandlung schuf, sind auch zahlreiche andere Bilder zu Texten Kafkas entstanden; unter ihnen ragen die von Hans Fronius und Max Ernst, von José Luis Cuevas und Leo Maillet hervor. Darüber hinaus sind ungezählte Kafka-Bildnisse entstanden, die meisten nach Photographien, mit Ausnahme der Zeichnung von Fritz Feigl, die er bei einer Lesung anfertigte. Längst gibt es auch Kafka-Comics, der bekannteste, das Leben Kafkas bebildernde, stammt von Robert Crump und David Mairowitz und schlägt eine Brücke von der literarischen Hoch- zur visuellen Popliteratur.

Große Aufmerksamkeit haben die Verfilmungen von Werken Kafkas erlangt, vor allem Der Prozeß von Orson Welles mit Anthony Perkins als rebellischem Josef K., der gegen seine Hinrichtung aufbegehrt. 31 Jahre später, 1993, hat David Hugh Jones den Roman erneut, aber weniger aufsehenerregend verfilmt mit Anthony Hopkins und Jason Robards, nach dem Drehbuch von Harold Pinter. Zwei Jahre zuvor hatte Steven Soderbergh in seinem Spielfilm Kafka, der sichtbar dem Vorbild des expressionistischen Kinos folgt, Szenen aus Kafkas Leben mit Motiven aus seinen Texten verbunden. Mit Jeremy Irons in der Hauptrolle, Theresa Russell und Armin Müller-Stahl ist dieser Film gleichfalls prominent besetzt.

Eine Zeitlang haben auch die Philosophen Kafka einige Beachtung geschenkt. Nicht nur Jean-Paul Sartre hat ihn in Das Sein und das Nichts zitiert, als wäre er selbst einer. Bernhard Groethuysen hat es sogar unternommen, die „Phänomenologie Kafkas” zu präsentieren – in einem fiktiven philosophischen Dialog mit Zitaten aus dem Werk, nicht zuletzt aus den Tagebüchern und der Aphorismensammlung. Albert Camus schließlich hat Kafkas Werk eine philosophische Interpretation gewidmet, ebenso zum Beispiel Theodor W. Adorno.

3.

Ein Teil des Ruhms, den Kafka erlangt hat, besteht aus der großen Beachtung in den Wissenschaften, vor allem in der Germanistik. Über keinen anderen deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts ist so viel geschrieben – und geredet – worden wie über Franz Kafka. Die Literatur über ihn ist unübersehbar – und seit langem unüberschaubar. Was er selbst in wenig mehr als 15 Jahren veröffentlichte, kann ein geübter Leser in einer Woche lesen. Um alles zur Kenntnis zu nehmen, was über Kafka geschrieben wurde, dürfte inzwischen ein Leben nicht mehr reichen. Kafkas Werk wird fortlaufend neuen Lektüren unterschiedlichster Art unterworfen. Längst würde die Literatur über ihn eine eigene Bibliothek füllen. Wenn man sich entschließen könnte, sie zu bauen, wäre sie allerdings nicht viel mehr als ein Provisorium. Seit Jahrzehnten wächst die Kafka-Literatur unaufhörlich weiter – „ein fachwissenschaftlicher Dschungel“, so Saul Friedländer, „den man oft beklagt, der sich aber immer weiter ausbreitet“.

Ein solches Maß an hermeneutischer und analytischer Anstrengung mag für manche verwunderlich, für andere ärgerlich sein: Verstellt so viel Sekundärliteratur nicht ein Werk? Ist denn, fast 100 Jahre nach Kafkas Tod, über sein nicht sehr umfangreiches Werk nicht schon alles gesagt worden? Die Fragen sind erkennbar falsch gestellt. Das Werk eines großen Autors ist unausschöpflich: Das macht es groß. Ihre Unerschöpflichkeit zeigt sich nicht zuletzt an den Versuchen, die beanspruchen, sie erschöpfend auszulegen. Ihr Scheitern ruft immer neue Anstrengungen des Verstehens hervor, denen gemeinsam ist, dass sie im Letzten unsicher bleiben vor einem Rest des Nicht-Verstandenen, vielleicht auch des Nicht-Verstehbaren.

Ein solches Werk bewegt unablässig Leser, zumal die unter ihnen, die selbst schreiben. Dichten ist eine einsame Tätigkeit; aber die Werke, die durch sie entstehen, schaffen Verbindung, nicht nur die unsichtbare zwischen ihren stillen Lesern. Sie werden auch zum Gegenstand von Gesprächen und Schriften und regen weitere Werke an. Manche bringen einen großen, in der Zeit nicht endenden Strom von Mitteilung und Austausch hervor: eine eigene Welt der Kommunikation. Zu den Autoren, denen das mit ihrem Werk gelungen ist, gehört zweifellos Kafka.

Die Literatur, die sich auf einen Autor bezieht, kann man zu ordnen und einzuordnen versuchen – dabei beurteilen und im Zweifelsfall aburteilen. Abgelehnt und als Missverständnis erledigt wird besonders das, wofür es keine triftigen Gründe gibt, ja was offenkundig auf Irrtümern basiert, aber auch das, was dem eigenen Verständnis nicht entspricht oder sogar entgegensteht. Die Literatur über Kafka ist in sich höchst unterschiedlich, im Ganzen, mitunter aber auch im Einzelnen, voller Verständnis und zugleich voller Irrtümer und Fehler. Dass sie von Missverständnissen wimmelt, ist einer ihrer Topoi, den am nachdrücklichsten Susan Sontag formuliert hat: „Das Werk Kafkas […] ist zum Opfer einer Massenvergewaltigung durch nicht weniger als drei Armeen von Interpreten geworden”. Diese fehlgeleiteten Anstrengungen laufen nach Sontag „auf die philisterhafte Weigerung hinaus, die Finger von der Kunst zu lassen“. Sie sind für sie nur Versuche, etwas auslegen zu wollen, was man nicht verstanden hat.

Deutungen auf ihre Triftigkeit hin zu prüfen und, gegebenenfalls, wie es Susan Sontag tat, zu verwerfen, ist nur legitim. Sie müssen allerdings damit noch nicht ganz beiseitegelegt werden. Manche mögen gerade als Fehlschläge auf das Problem der „Kommunikation des Nicht-Kommunikativen” hinweisen, wie es Adorno genannt hat: Immer ist schwer zu verstehen, was sich nicht eindeutig mitteilt. Dass es ein Rätsel gibt, beweisen nicht zuletzt die Lösungen, die keine sind. Man kann aber schließlich auch all das, was sich auf das Werk eines Autors bezieht, was es zu verstehen oder fortzusetzen versucht, als einen Reflex seines Reichtums betrachten: als Ausdruck eben der ‘produktiven Kraft’, durch die ein Werk weiterwirkt und die es erst groß macht.

4.

Kafka verdankt seinen Nachruhm zunächst vor allem einer Person: Max Brod, der sich als einer der rührigsten Nachlassverwalter der neueren Literaturgeschichte erwiesen hat. Er gehörte zu den wichtigsten Menschen in Kafkas Leben; über fast zwanzig Jahre war er sein bester Freund, ohne dass es zwischen ihnen zu tiefen Zerwürfnissen gekommen wäre.

Nach Max Brod sind es einige andere Schriftsteller, die für die Verbreitung und das Verständnis der Werke Kafkas viel getan haben – Übersetzer wie Edwin Muir und Bearbeiter wie André Gide, auch Leser, die, nicht selten angeleitet von Max Brod, an Kafka erinnerten und ihn würdigten. Thomas Mann hat für dessen Rezeption, selbst die frühe posthume, zweifellos nicht dieselbe Bedeutung gehabt wie Brod. Sein „Homage“ überschriebenes Vorwort für die amerikanische Ausgabe von The Castle, seine bis heute bekannteste Äußerung über Franz Kafka, dürfte jedoch nicht unwesentlich zu dessen Beachtung in den USA beigetragen haben, schon durch das Ansehen, das er im Land genoss.

Eine weniger offensichtliche, aber kaum geringere Bedeutung für die frühe Wahrnehmung Kafkas hat Hannah Arendt gehabt. Als Lektorin des New Yorker Schocken Verlags betreute sie die amerikanische Ausgabe der Tagebücher ebenso diskret wie sorgfältig. 1944 stellte sie Kafka, 20 Jahre nach seinem Tod, dem amerikanischen Publikum vor, in einem „A Re-evaluation“ untertitelten Essay, den sie 1947 auf Deutsch in der u.a. von Dolf Sternberger und Karl Jaspers herausgegebenen Zeitschrift Die Wandlung veröffentlichte. In ihrer berühmten Abhandlung über das ‚Pariatum’ der deutschen Juden Die verborgene Tradition ist Kafka das Schlusskapitel vorbehalten. Auch später ist Hannah Arendt in ihren Büchern immer wieder auf ihn zurückgekommen, durchweg mit dem ihr eigenen Scharfsinn, der sich mit einer für Philosophen nicht selbstverständlichen literarischen Sachkunde verband.

Kaum zu ermessen sind schließlich die Verdienste von Jorge Luis Borges um Kafkas Werk – auch wenn sie auf den ersten Blick vergleichsweise bescheiden anmuten. Vor allem mit dem kurzen Essay, mit dem er in den 50er Jahren die erste spanischsprachige Auswahl der Erzählungen Kafka versehen hat, leitete er dessen lateinamerikanische Rezeption ein, die bis in die Gegenwart reicht. Kaum ein südamerikanischer Autor hat sich an ihr nicht beteiligt, bis hin zu Carlos Fuentes, der Kafka in seinem ‚Alphabet des Lebens’ einen Essay gewidmet hat, und Gabriel García Márquez, der gelegentlich davon berichtet hat, welche Wirkung die erste Lektüre der Verwandlung auf ihn gehabt hat.

5.

Die Beschäftigung mit Kafka hat zur Entstehung einer eigenen Literatur geführt, die gelegentlich als ‚Kafka-Literatur’ bezeichnet wird. Gemeint ist damit zunächst Literatur über Kafka, dann auch Literatur in der Art oder in der Nachfolge Kafkas. Zur Literatur über Kafka zählen nicht nur die zahllosen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, sondern auch die Bücher und Essays, die vor allem Schriftsteller und Philosophen über ihn geschrieben haben: Interpretationen, Analysen und Porträts. Sie lassen sich grob danach ordnen, ob sie ihn religiös, historisch, philosophisch, soziologisch oder ästhetisch würdigen. Für alle diese Versuche gibt es bedeutende Beispiele.

Die Versuche, in Kafka mehr oder noch etwas anderes als einen Schriftsteller und in seinem Werk mehr oder noch etwas anderes als Literatur zu sehen, haben mit der Zeit immer häufiger einen kulturhistorischen, schließlich auch einen politischen Akzent erhalten. Die Aufmerksamkeit richtete sich zunehmend auf das, was ihn mit einer bestimmten Zeit besonders zu verbinden scheint. W.H. Audens frühe Bemerkung über Kafka: er sei „the artist who comes nearest to bearing the same kind of relation to our age that Dante, Shakespeare and Goethe bore to theirs”, steht am Anfang dieser Sicht. Sie ist getragen von der Überzeugung, dass Kafka über ‚seine’ Zeit – die oft auch noch als unsere begriffen wird – mehr zu sagen habe als andere, auch andere Autoren. Auf den Punkt gebracht hat diese Ansicht Jean-Paul Sartre in seinem berühmten Essay Was ist Literatur?

Über KAFKA wurde schon alles gesagt: er wollte die Bürokratie darstellen, das Fortschreiten der Krankheit, die Lage der Juden in Osteuropa, die Suche nach der unerreichbaren Transzendenz, die Welt der Gnade, wenn die Gnade ausbleibt. Das ist alles richtig; ich möchte noch sagen: er wollte die menschliche Situation beschreiben. Besonders spürbar für uns war aber, daß wir in diesem ewigen ‚Prozeß’, der brüsk und böse ausgeht und dessen Richter unbekannt und unerreichbar bleiben, in dem vergeblichen Bemühen des Angeschuldigten, die Hauptankläger kennenzulernen, in dieser geduldig aufgebauten Verteidigung, die sich gegen den Verteidiger wendet und als Belastungsmoment figuriert, in dieser absurden Gegenwart, die die Figuren so angelegentlich leben und deren Schlüssel anderswo zu suchen ist […], daß wir in all dem die Geschichte erkannten und in der Geschichte uns selber.

Diese summarisch-knappe Deutung eines großen Werks, die wohl Susan Sontags Unwillen auf sich gezogen hätte, ist ein paradigmatisches Beispiel für den Versuch, in Kafkas Texten ein Dokument zu sehen, das in besonderer und besonders ergiebiger Weise Auskunft über seine oder unsere Zeit zu geben vermag.

Solche Versuche schließen meist eine Deutung der Person und der Persönlichkeit, des Lebens und der Lebensumstände des Autors ein, denen dabei ein gewisses Eigenrecht verliehen wird – über die Tatsache hinaus, dass er Künstler war und literarische Texte geschaffen hat. In dieser Sicht wurde aus dem scheuen und zurückgezogen lebenden Schriftsteller Franz Kafka eine heimliche Hauptfigur seiner Zeit. Seine unscheinbare, nach außen wenig bemerkenswerte Existenz erhielt eine Bedeutsamkeit, an die er selbst nie gedacht hätte. Kafka wurde, wie Saul Friedländer schreibt, „eine kulturelle Gestalt des vergangenen Jahrhunderts“, die dabei jedoch „so vielfältig deutbar ist wie keine andere“: etwa als osteuropäischer Jude, der entweder seiner Herkunft entfremdet ist oder sie sucht und schließlich findet; als Jurist und Verwaltungsbeamter, der ein Fachmann, auf jeden Fall aber ein Zeuge für die Verrechtlichung wie für die Bürokratisierung des modernen Lebens ist; als Junggeselle und Verlobter, als Bruder und Sohn, schließlich als unheilbar Kranker, der jeweils eine für viele Zeitgenossen typische Existenz führte. 

6.

Von all den religiösen, historischen, philosophischen und soziologischen Auslegungen unterscheiden sich die Versuche der Schriftsteller, die Kafka vor allem Künstler würdigen. Nicht ohne Grund ist er oft ein Autor für Autoren genannt worden. Schriftsteller haben viel zu seinem Nachruhm beigetragen; unter ihnen hat er einige seiner anhänglichsten und klügsten Leser gefunden. Wie die anderen Anstrengungen, sein Werk zu verstehen, ergeben allerdings auch ihre Bemühungen weder ein einheitliches noch ein abschließendes Bild von ihm. Das ist nicht nur in seiner literarischen Individualität begründet, die nicht auszuschöpfen ist, sondern auch in ihrer: Ihr Zugang zu Kafka und seinem Werk ist jeweils selbst im Letzten wieder individuell. Adorno hat bemerkt, dass sich ein Werk wie das Kafkas „in der Zeit“ ‚entfalte’. Dabei entfaltet es sich immer in Individuen, die etwas Neues, noch nicht Gesehenes in ihm zu erkennen vermögen.

Auch die Reihe der literarischen, zumeist essayistischen Versuche über Kafka ist lang – unüberschaubar lang. Einige in ihrer Zeit, aber nicht nur in ihrer Zeit bemerkenswerte ragen allerdings aus der Menge heraus. Zu ihnen gehören Essays von Milan Kundera, Jorge Luis Borges, Hermann Broch, Thomas Mann und André Breton ebenso wie zum Teil recht anders geartete Arbeiten von André Gide, Elias Canetti und Peter Handke.

Zur ‚Kafka-Literatur’ gehört aber nicht nur, was auf die eine oder andere Weise über ihn, sondern auch was in seiner Art oder Nachfolge geschrieben wurde und wird. Lang ist die Reihe der Werke, die, vorgeblich in seiner Art, von Bürokratien und Schlössern, Prozessen und Prokuristen, Angeklagten und Gerichten, Landärzten und Landvermessern, Ungeziefern und Vätern handeln. Viele Texte geben sich dabei ausdrücklich und umstandslos als Literatur in der Nachfolge Kafkas zu erkennen – so etwa Peter Handkes ungefähr 20 Seiten lange Nacherzählung Der Prozeß (für Franz K.)in seinem Prosaband Begrüßung des Aufsichtsrats von 1967. Zwei seiner Romanfiguren aus den 70er Jahren tragen, fast genauso deutlich, Namen, dieandas Personal Kafkas erinnern: Josef Bloch (Die Angst des Tormanns beim Elfmeter) und Gregor Keuschnig (Die Stunde der wahren Empfindung).

Ähnlich deutlich in die Nachfolge Kafkas gestellt hat sich zunächst auch Peter Weiss. Wie John M. Coetzee in Elisabeth Costello hat Weiss in Fluchtpunkt und Die Ästhetik des Widerstands von Kafka-Lektüren, und zwar jeweils der Hauptfigur erzählt. Sich in die Nachfolge Kafkas zu stellen, stellt allerdings nicht zuletzt ein ästhetisches Risiko dar. „Unzählige Versuche, wie Kafka zu schreiben (die alle traurige Fehlschläge waren)“, hat Hannah Arendt bemerkt, „haben nur dazu gedient, Kafkas Einzigartigkeit herauszustellen, jene absolute Originalität, für die kein Vorläufer zu finden ist und die unter keinem Jünger leidet“. In der Tat ist es nicht originell, einen originellen Autor nachzuahmen, ja in dieser Hinsicht verfehlt man ihn notwendig, wenn man ihm nachfolgt. Der Abstand zu ihm wird so vielmehr gerade unverkennbar. In jedem Fall aber muss ein literarischer Text, der beansprucht, einem Kafkas nachzufolgen, den Vergleich mit ihm aushalten können, in seiner Güte wie in seiner Eigenart.

Das mag lyrischen leichter fallen als epischen oder dramatischen. Tatsächlich scheinen die Gedichte, die an Kafkas Werke anschließen, sich von ihnen weiter und souveräner zu entfernen. Sie können nicht nur, ohne die Bindung an Figuren und Geschichten, mit den Motiven und Themen freier umgehen – sie etwa nur als Ausgangspunkt für eigene Vorstellungen nehmen wie Günter Grass in seinem Gedicht K. der Käfer, das Strophe für Strophe frei über die Zeile „K., der Käfer liegt auf dem Rücken“ assoziiert. Lyriker können einen anderen Autor und seine Texte auch radikal subjektiv darstellen wie Paul Celan in seinem Gedicht In Prag, in dem er Momente aus Kafkas Leben und Werk weniger verschlüsselt, als in seine ganz eigene (Welt-)Wahrnehmung hineinnimmt. Schließlich kann ein Dichter über einen anderen auch in seiner Sprache sprechen und schon dadurch sein Eigenes deutlich gegen ihn setzen wie Lawrence Ferlinghetti im 16. Gedicht seines Zyklus A Coney Island of the Mind.

Das gilt, alles in allem, auch für einige Erzählungen und Romane, die auf ihre gleichfalls freie und eigenständige Weise Kafka nachfolgen. Zwei Beispiele, ein europäisches und ein lateinamerikanisches, stehen dafür. Das eine stellt ein Drama von Peter Weiss dar, das andere ein Roman von Mario Vargas Llosa. Für beide ist unter anderem ein Gattungswechsel kennzeichnend: vom Roman zum Drama im einen, von der Novelle zum Roman im anderen Fall. Er geht jeweils einher mit deutlich anders gesetzten thematischen und stilistischen Akzenten.

7.

„Ich bin Ende oder Anfang“, hat Kafka sich 1918 notiert. Wenn es eine Frage war – eine Frage für ihn –, so ist sie entschieden, und zwar durch die Nachwelt. Kafka war ein Ende. Zunächst kulturell: sofern er einer Welt angehörte, die im europäischen Totalitarismus untergegangen ist, der Welt des deutschsprachigen Prager Judentums vor 1933. Dann aber auch literarisch: weil er wesentlich dazu beigetragen hat, die Macht des realistischen Erzählens, die das 19. Jahrhundert beherrschte, zu schwächen. Kafka ist aber auch ein Anfang: eine zentrale Figur der Moderne, von einer Ausstrahlung, die weit über die Literatur hinausgeht – aber eben in der Literatur besonders wirksam ist und neuen künstlerischen Verfahren, neuen Vorstellungen und neuen Wahrheiten den Weg bereitet hat. Nichts davon hat er geahnt. Nichts davon war vorherzusehen. Es verdankt sich der einzigartigen poetischen Kraft dieses Autors, die, zu Lebzeiten den Lesern weitgehend verborgen, erst nach seinem Tod ihre Wirkung gezeitigt hat.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag übernimmt mit freundlicher Genehmigung des Autors und des J.B. Metzler Verlags gekürzte und geringfügig veränderte Teile aus dem Kapitel „Die ,produktive Kraft’: Der Ruhm“ in Dieter Lamping: Kafka und die Folgen. Stuttgart 2017. S. 115-176.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz