Die Stadt am Pruth

Edith Silbermann feiert in einer aufwendigen Edition nicht nur die Verklärung von Czernowitz

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Wahrnehmung von Czernowitz scheint im westlichen Europa seit den 1980-er Jahren an die Erforschung von Leben und Werk Paul Celans gekoppelt zu sein: Dessen Jugendbiografie und die damit verbundene Beschreibung seines Herkunftsmilieus eröffnete einem interessierten Publikum in der BRD allmählich den geistesgeschichtlichen Horizont jener Bukowiner Metropole, die noch nach dem Untergang der k.u.k-Monarchie eine Reihe herausragender deutschsprachiger Poeten hervorgebracht hatte. Dabei verschwand die Realität der Stadt hinter dem Bild von der vermeintlichen Blüte jüdischer Literatur in der rumänischen Zwischenkriegszeit, die ja zugleich auf eine wie auch immer geartete Blüte des jüdischen Lebens zu verweisen schien. Diese Literatur gab es jedoch nur mit großen Einschränkungen: Während Celan erst nach dem Zweiten Weltkrieg als Autor durch Publikationen hervortrat, verstreuten sich die ihre Werke oft unter größten ökonomischen Schwierigkeiten im Eigenverlag produzierenden Poeten in alle Welt. Rose Ausländer und Alfred Margul-Sperber gingen zeitweise in die USA, der jiddische Fabeldichter Elieser Štejnbarg nach Brasilien, der jiddische Poet Itzig Manger lebte in Warschau und Bukarest; viele der in der von Margul-Sperber geplanten Anthologie deutschsprachiger jüdischer Dichter der Bukowina (erst 2009 als „Die Buche“ postum ediert) Vertretenen hatten die Stadt längst verlassen, als ihre Gedichte die Aufmerksamkeit des späteren Mentors Celans errangen.

Der Zweite Weltkrieg und die Deportation der jüdischen Bewohner zerstörten endgültig das frühere Milieu, dem die Gedichtbände abgerungen worden waren. In den Jahren nach Celans Freitod blühte allerdings die Forschung zur Czernowitzer Szenerie und auch das öffentliche Interesse daran auf und brachte eine Reihe von wissenschaftlichen Studien hervor, die zudem von zahlreichen autobiografischen Texten ergänzt wurden.

In die letzte Kategorie fällt der erste Teil des vorliegenden multimedialen Projekts, das um einen Text von Edith Silbermann (geborene Horowitz) herum Fotos der Familie, der Freunde und der Stadt und auf zwei CDs auch Audio-Material der literaturwissenschaftlich ausgebildeten Schauspielerin, Übersetzerin und Rezitatorin bereitstellt. Silbermann hat sich wiederholt mit dem osteuropäischen und Bukowiner Kosmos jüdischer Literatur beschäftigt und die Kenntnis dieser Dichterwelt mithilfe ihrer eigenen Anschauung und Erinnerung bereichert. In dem autobiografischen Text gibt die 2008 in Düsseldorf verstorbene Autorin eine intensive Darstellung ihres Lebens, bis sie Rumänien nach 1945 verlässt. Sie reproduziert in dieser „Lebenserzählung“ zahlreiche der von aus ähnlichen Verhältnissen stammenden jungen Frauen bereits thematisierten Merkmale einer (klein-)bürgerlichen jüdischen Kindheit in der von seiner k.u.k-Vergangenheit geprägten rumänischen Stadt. Verwandtschaftsverhältnisse, Schulerfolge, Freundschaften, Interesse für Literatur und Theater, Freizeitaktivitäten werden in einer gepflegten Sprache aufgerufen, die einerseits einem Dekorum des Bürgerlichen verpflichtet ist, andererseits im Gegensatz zu mancher Verklärung aber auch offen ist für die Wahrnehmung und Memorierung der weniger stimmigen Elemente des Bildes von Czernowitz als einer Kulturstadt. Einige Beispiele: Das Kind beginnt sich für die exotisch erscheinende Welt der Roma zu interessieren, gibt diese Faszination aber nach einem eher furchterregenden Erlebnis auf. Geprägt ist die Heranwachsende auch von dem den Vater tief beeinflussenden Raubmord, der an dessen Eltern und einer Angestellten in ihrem kleinen Geschäft verübt wurde. Ein weiterer Überfall, den das Kind in der Sommerfrische erlebt, verstärkt die durch die väterliche Traumatisierung ausgelöste Unsicherheit und lässt Silbermann bis ins hohe Alter psychische Zustände der Angst erleben. Meist armutsbedingte Kriminalität war in Czernowitz keine Seltenheit. Offen erzählt die Autorin auch von ihrer eigenen, sowie der von ihren Freundinnen drastisch erlebten Erfahrung mit Sexualität, sie erfährt, wie unerwünschte Schwangerschaften behandelt werden oder gar zu Selbstmorden der betroffenen Mädchen führen.

Andererseits hebt Silbermann Bildung und musische Interessen als in der bürgerlichen Schicht übliche Leitideen vor dem Hintergrund der politischen Verdüsterung Rumäniens hervor. Auch jene marxistisch-kommunistischen Schülerkreise, die im Klima des Antisemitismus und der rechtsradikalen Orientierung der rumänischen Politik die intellektuelle Widerstandshaltung von Teilen der Czernowitzer Jugend dokumentierten, kommen ganz selbstverständlich zur Sprache.

Wie dieser Text entstand, wann und in welchen Etappen, lässt die Herausgeberin leider offen. Es bleibt zu vermuten, dass er in fortgeschrittenem Alter begonnen wurde und aus mehreren Fragmenten bestand. Wie Silbermann in einer kurzen Episode erkennen lässt, hat sie bis auf einen gescheiterten Versuch nie Tagebuch geführt. Dennoch zeichnet sie etwa das Mobiliar der Wohnung, die diversen Moden der jungen Mädchen, die Verwandtschaftsverhältnisse und die Topografie der Stadt detailliert nach. Ein besonderes Augenmerk liegt auf ihrer emotionalen Entwicklung mit zahlreichen Verehrern, der gescheiterten Liebe, unter anderem zu Paul Celan, und der Heirat mit dem älteren Juristen Jacob Silbermann. Für Germanisten dürfte darüber hinaus der eine oder andere Hinweis auf poetische Zusammenhänge interessant sein, gehörte Edith Silbermann doch wie Celan, Immanuel Weissglas, Alfred Gong, Gustav Chomed und David Einhorn zu den Jahrgängen 1920/21.

Silbermanns Bericht endet mit ihrer Flucht nach Bukarest nach dem Zweiten Weltkrieg und der erst 17 Jahre später genehmigten Ausreise nach Westeuropa, wo sich die Familie in Düsseldorf niederließ, das ein kleines Zentrum ehemaliger Czernowitzer bildete. In Bukarest trat Silbermann im jiddischen Theater auf – wozu sie erst einmal Jiddisch lernen musste, das in ihrem am Deutschen orientierten Elternhaus verpönt war – und machte in den folgenden Jahrzehnten durch Rezitationsabende und jiddische Liedervorträge auf sich aufmerksam. Diesem Aspekt ihrer Biografie gelten die von der Herausgeberin in einem Apparat zusammengestellten Daten, die die auf zwei CDs gesammelten Tonaufnahmen möglichst genau zu beschreiben versuchen. Wenn auch die Stimmdynamik der Sängerin und Rezitatorin unter der rauschunterdrückenden technischen Manipulation leidet, so sind doch diese Aufnahmen von jiddischen Liedern in der meisterhaften Gitarrenbegleitung von Gerhard Richter und die Lesung der deutschen und jiddischen Gedichte Bukowiner Poeten ein weiteres Highlight dieser Edition. Es steckt sehr viel von der Atmosphäre und der Erfahrungswelt der Juden in Osteuropa in diesen jiddischen Liedern. Und die Rezitation der Bukowiner Dichter verlangt geradezu nach einem Vergleich etwa mit Celans eigenen Schallplattenaufnahmen seiner Gedichte. Leider erfährt man auch hier nur wenig, trotz umfangreichem Apparat im Buch, über den Zeitpunkt der Aufnahmen. Dennoch bleiben die zahlreichen Hinweise auf Autoren, Komponisten, Varianten in Anthologien und anderes mehr wertvoll für die Forschung.

Zum Apparat der Edition gehören auch eine ausführliche Personenbeschreibung der wichtigsten Protagonisten des autobiografischen Textes von Edith Silbermann sowie eine Sammlung von Presseausschnitten mit positiven Kritiken zu ihren Auftritten als Rezitatorin. Dass auf diese Art die Familie Horowitz in opulenter Präsentation erscheint, schließt die Herausgeberin mit ein: Sie ist die Tochter von Edith Silbermanns Schwester.

Als Fazit zu diesem multimedialen Projekts lässt sich festhalten, dass es ein interessanter autobiografischer Text zur Situation in Czernowitz in der Zwischenkriegszeit enthält, des Weiteren eine üppige Bebilderung durch historische und aktuelle Fotos, eine Reihe von Kurzbiografien Beteiligter und eine ausführlich kommentierte Liste von Tonaufnahmen Edith Silbermanns mit jiddischen Liedern und Rezitationen der wichtigsten deutschsprachigen und jiddischen Dichter jener Zeit wie Celan, Ausländer, Weissglas, Gong, Kittner, Manger, Štejnbarg und natürlich diese Tonaufnahmen selbst auf zwei CDs – ein großes Lese-, Seh- und Hörvergnügen und zu weiteren Forschungen anregendes Material.

Titelbild

Edith Silbermann: Czernowitz – Stadt der Dichter. Geschichte einer jüdischen Familie aus der Bukowina (1900-1948).
Mit 2 Audio-CDs.
Hg. von Amy-Diana Colin.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015.
401 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783770548439

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