Legende vom Glück ohne Ende

Kalifornische Ideologie in Pixars Animationsfilm „Alles steht Kopf“

Von Nils DemetryRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Demetry

Der Pixar-Film Alles steht Kopf (Originaltitel Inside Out) zählt zu den fünf erfolgreichsten Filmen des Jahres 2015 und wurde von der Deutschen Film- und Medienbewertung mit dem Prädikat „besonders wertvoll“ versehen. Was auffällt: Die Rezeption nimmt den Film über die elfjährige Riley zwar aus allen möglichen (etwa aus neurowissenschaftlichen, philosophischen oder genderwissenschaftlichen) Perspektiven in den Blick; auf den sozio-ökonomischen Hintergrund ist bislang jedoch kaum eingegangen worden.

Der Plot ist rasch zusammengefasst: Das Mädchen zieht mit seinen Eltern von Minnesota nach San Francisco und durchlebt dort die erste große Krise ihres bislang ausschließlich glücklich verlaufenen Lebens. Zwei Drittel des Films spielen im Inneren Rileys: Wie seine entfernte Verwandte, die französische Zeichentrickserie Es war einmal … das Leben (1986), wagt der Film die Expedition in den menschlichen Körper, genauer: in dessen metaphorisierte Psyche, deren Kern eine raumschiffartige Kommandozentrale ist, die von fünf personifizierten Emotionen (Freude, Kummer, Wut, Ekel und Angst) gesteuert wird. Rileys Innerstes wird dabei als überdimensionierter Vergnügungspark vorgestellt – verschiedene Inseln repräsentieren Teile der Persönlichkeit Rileys, wie etwa Familie, Freundschaft, Ehrlichkeit, Eishockey oder Quatschmachen. Freude erklärt gleich zu Beginn des Films: „Die Persönlichkeitsinseln sind das, was Riley zu Riley macht.“ Und wie die meisten Freizeitparks funktioniert auch dieser in erster Linie hydraulisch.

Riley ist unglücklich. In der Schule läuft es nicht, sie vermisst ihre alte Heimat und ihre Eltern haben seit dem Umzug kaum noch Zeit für sie. Kurz: Sie ist im „frühadoleszente[n] Dauerblues“ (David Steinitz in der SZ). Gleichzeitig wird dieser Blues – um im Bild zu bleiben – von einem Kraftwerk-Stück überlagert: Rileys Vater gibt das behütete Mittelschicht-Leben in Minnesota auf, um im hippen San Francisco ein Startup aufzubauen – zumindest legen das die Gesprächsfetzen in den Telefonaten, die sich seit dem Umzug häufen und in denen von „Investoren“ und „Entlassungen“ die Rede ist, sowie Andeutungen der Mutter nahe.

Da der Film aus der Sicht einer Elfjährigen erzählt wird, dringen solcherlei Hinweise nur verschwommen oder gedämpft zum Zuschauer durch. Doch es gibt noch mehr: Rileys karges Nachtlager (ein Schlafsack auf dreckigem Boden), das traurige Abendessen aus Nudelboxen und das Eishockeyspiel im leeren Wohnzimmer werden innerhalb des Films zwar mit der offenbar nicht endenden Odyssee des Umzugswagens erklärt, der immer noch irgendwo zwischen Minnesota und Kalifornien herumirrt; gleichzeitig handelt es sich hier jedoch eindeutig auch um moderne Symbole von Armut. Sie illustrieren, was für die Mittelschichtsfamilie aus Minnesota mit dem Schritt zur Unternehmensgründung auch verbunden ist: Die Gefahr des sozialen Abstiegs. Alles steht Kopf thematisiert damit sowohl das Klima des technikgläubigen Ökosystems des in direkter Nachbarschaft gelegenen Silicon Valley als auch die tatsächliche Zukunftsangst der US-amerikanischen Mittelschicht (deren Ursachen zum Teil in ebenjener Digitalisierung liegen).

Diese beiden Krisen, Rileys Erwachsenwerden und der sozio-ökonomische Hintergrund der Story, hängen in Alles steht Kopf eng zusammen: Zwar machen der Elfjährigen vordergründig der Umzug der Familie und die neue, bisweilen feindliche Umgebung in San Francisco zu schaffen, doch deutlich wird auch, dass ihre Eltern zu beschäftigt mit ihren Sorgen sind, um früh genug zu erkennen, worunter ihre Tochter leidet. Mehr noch: Auch wenn das Familienleben mit der Ankunft in San Francisco ständig von unheilvollen Geschäftstelefonaten oder Überraschungsbesuchen von Investoren unterbrochen wird, kritisieren weder Riley noch ihre Mutter den Vater für die immer häufigere Abwesenheit. Stattdessen bindet Rileys Mutter ihre Tochter in die emotionale Unterstützung des Vaters ein: „Dein Vater ist ein bisschen gestresst. Er muss die neue Firma zum Laufen bringen. […] Dein Dad steht ziemlich unter Druck. Aber wenn wir beide unser Lächeln nicht verlieren, würden wir ihm damit sehr helfen. Wollen wir das für ihn machen? Was sagst du?“

Auch im Innern bleiben diese Sorgen nicht unbemerkt. Freude, die lebhafte und gnadenlos positive („Man darf sich nicht darauf konzentrieren was schief geht, es gibt immer einen Weg, es anders zu betrachten und Spaß zu haben!“) Chefin der Kommandozentrale, fällt es immer schwerer, Riley glücklich zu machen. Das liegt auch an der Brillen- und Emo-Scheitel tragenden Figur Kummer: Ständig berührt sie Erinnerungen, die im Film durch Kugeln dargestellt werden, und verwandelt so aus positiven Erinnerungen negative. Zwischendurch legt sich Kummer auf den Boden und denkt an Regentage oder liest gedruckte Bücher, genauer gesagt: Handbücher. Handbücher sind in der Welt von Alles steht Kopf jedoch ungefähr so sinnvoll wie Telefonnummern (oder die Namen der sieben Zwerge oder Klavierunterricht), über die ein Löscharbeiter im Langzeitgedächtnis, einem „Gewirr aus Fluren und Regalen“, sagt: „Braucht kein Schwein, sind alle im Handy“: Ein sympathischer Anachronismus und höchstens noch in Ausnahmesituationen von Wert. Eine solche tritt nun ein, als Kummer und Freude aus der Kommandozentrale katapultiert werden und nun den Weg dorthin zurück finden müssen. Im Langzeitgedächtnis treffen die beiden auf die vielleicht spannendste und widersprüchlichste Figur des gesamten Films: Bing-Bong, einem Hybriden aus Katze, Elefant, Delfin und Zuckerwatte, der Karamell-Bonbons weint. Einst imaginärer Freund der jungen Riley, irrt er heute nur noch als trauriger, etwas verwirrter und homosexuell codierter Vagabund durch das Gedächtnis-Gewirr der Protagonistin – ohne dass diese sich jedoch an ihn erinnert. Zwar ist Freude ein „Riesenfan [s]einer Arbeit“, doch auch Bing-Bong muss zugeben, dass der „Bedarf“ an einem erfundenen Freund in letzter Zeit nicht gerade groß war.

Die Ambivalenz seines Charakters wird noch verstärkt, wenn er die beiden gegen Kummers Bedenken – sie erinnert sich an eine Stelle im Handbuch, in der vor dem Dunkel des „abstrakten Denkens“ explizit gewarnt wird –, durch ebenjene „Abkürzung“ zur Station des Gedankenzugs, mit dem es zurück in die Kommandozentrale gehen soll, ver-führt.

Bing-Bong ist der Gegenentwurf zu den Prinzipien, die ansonsten in Alles steht Kopf vorherrschen: Deutlich wird dies unter anderem auf einem Sportplatz im Phantasieland, dessen Vorzug gerade darin besteht, dass dort jeder „den ersten Platz“ gewinnt; oder dann, als selbst Kummer ihn irgendwann fragt, was eigentlich „seine Aufgabe“ sei. Eine solche Philosophie des Nichtstuns und Sich-treiben-lassens (er wirkt wie eine Figur aus dem alten, prädigitalen Disney-Kosmos, dessen ikonisches Schloss ganz nebenbei auch abgerissen wird) aber ist – genauso wie seine sexuelle Indifferenz – für Rileys Entwicklung und ihren „Job“ innerhalb der Familie keine Hilfe, vielmehr Hemmnis. Denn in der „richtigen“ Welt von Alles steht Kopf geht es darum, eine echte Aufgabe zu haben (und das legt schon das ökonomische Register nahe, in dem sich Freude, Kummer und Bing-Bong unterhalten). Und dass die Existenz dieses im wahrsten Sinne „Vergessenen“ innerhalb des metaphorischen Innenlebens keinen konkreten Zweck mehr erfüllen kann, ja: das seine Zeit abgelaufen ist – das ist dem erwachsenen Zuschauer schnell klar.

Doch nicht nur seine Zeit ist abgelaufen: Nacheinander stürzen die Quatschmach-Insel, die Freundschaftsinsel und die Eishockeyinsel in die bodenlose Tiefe des Vergessens, fast lautlos und so schwindelerregend wie die Traumwelten in Christopher Nolans Science-Fiction-Film Inception, werden Schlösser zum Einsturz gebracht, Köpfe von riesigen Teddy-Bären abgerissen und Bing-Bongs Raketenfahrzeug auf die „Deponie“ geworfen; teilt sich die Erde plötzlich auf und entgleisen Züge wie in Katastrophenfilmen. Die immer gewaltigeren Umwälzungen im Inneren Rileys spiegeln in erster Linie den schmerzhaften Prozess des Erwachsenwerdens wieder, der selbstverständlich mit Verlusten einhergeht. Oder mit Lacan gesprochen: Erst durch die Anerkennung des Verlustes kann ein Subjekt zu seinem eigentlichen Sein gelangen – eine Erfahrung, die auch Bing-Bong im Bezug auf Riley machen muss.

Doch es ist nicht nur die persönliche Entwicklungskrise, die hier in überdimensionierten Bildern von Umwälzung illustriert wird, sondern auch eine nicht-bewusste Spiegelung der ökonomischen Unruhe der Eltern. Denn in diesen Bildern wird derselbe nonchalante Gestus deutlich, mit dem auch die reale Digitalisierung (deren Epizentrum eben die San Francisco Bay Area ist) derzeit im Begriff ist, alte Industrien praktisch „über Nacht“ obsolet werden zu lassen. Das letzte prominente Beispiel ist der schwindelerregende Aufstieg der Taxi-App Uber, „perhaps the ultimate 21st-century corporation“ (fortune.com). Diese Nonchalance lässt sich vielleicht mit dem Grundgerüst des Silicon Valley-Narrativs, der sogenannten kalifornischen Ideologie erklären. 1995 von Richard Barbrook und Andy Cameron erstmals beschrieben, bezeichnet dieser Begriff eine merkwürdige Melange aus gegenkultureller Hippie-Bewegung und dem Ideal des freien Marktes. Sascha Lobo beschrieb anlässlich der Milliarden-Spenden-Ankündigung von Mark Zuckerberg erst kürzlich einen der wichtigsten Aspekte dieser Ideologie darin, dass die „Technologieelite überzeugt ist, Weltverbesserung mit den Mitteln des Marktes und der Allesvernetzung erreichen zu können. Da ist nicht einmal der Hauch eines Selbstzweifels, ob der eingeschlagene Weg nicht der richtige sein könnte. Ob die Bedingungslosigkeit des Fortschrittsglaubens nicht auch problematisch sein könnte.“

Auch Freude und Kummer, die beiden wichtigsten Figuren im Inneren, verkörpern diesen Fortschrittsglauben, in dem sie sich durchaus damit einverstanden zeigen, dass Altes und Ausgedientes – wie etwa Bing-Bong oder große Teile des Phantasielandes – sprichwörtlich auf den Müll der Geschichte geworfen wird, weil es dem Fortschritt im Weg steht. Bing-Bongs Plan, mit Riley zum Mond zu fliegen, erscheint interessanterweise von Beginn an als unzeitgemäß, da der Mond heute nicht mehr zu den Sehnsuchtsorten der Technik und Raumfahrt gehört, sondern seinen primären Platz eigentlich wieder im Poetischen hat (umgekehrt erlebt die Genie-Ästhetik derzeit ein Revival in Form von Biopics und fast kultischer Verehrung von Technologieunternehmern wie Steve Jobs, Mark Zuckerberg oder Jeff Bezos). Ohne die Dichotomie von Poesie und Technik zu weit treiben zu wollen, sei auf das kurze Aufeinandertreffen von Bing-Bong und seinem namenlosen Quasi-Nachfolger, einem phantasierten ersten Freund „aus dem Internet“, hingewiesen, dessen Tragweite vom traurigen Bing-Bong, dessen präindustrielles „Lebenswerk“ nun durch innovativere Techniken wie etwa die Fließbandproduktion verdrängt wird, schon nicht mehr verstanden wird.

Die in der Innenwelt Rileys herrschenden Mechanismen lassen sich so gespenstisch genau mit einem Zitat der profilierten amerikanischen Bildungswissenschaftlerin Audrey Watters beschreiben, die den Charakter des „Silicon Valley Narrative“ auf dem „International Council for Open and Distance Ecuaction“ Mitte Oktober in Südafrika wie folgt zusammenfasste: “It celebrates the new, is quick to discard anything it deems old as obsolete, and invokes themes of innovation and disruption. It is also often characterised by a hero. […] The Silicon Valley Narrative has no memory, no history, although it can invent or invoke one to suit its purposes.”

Bing-Bong ist das Gegenteil von all dem: Er ist alt, sammelt nutzloses Zeug in seinem Rucksack, steht nicht für Innovation und ist auch nicht wirklich ein Held. Die Szene, in der er sich gegen Ende des Films selbst opfert, um Freude die Rückkehr in die Kommandozentrale zu ermöglichen, ist nicht nur der bewegendste Moment in Alles steht Kopf, sondern löst gleichzeitig eine Vielzahl von offenen als auch verdeckten Konflikten, die die Story bis dahin mit sich herumtrug: Nicht nur kann die Binnen-Erzählung der Reise der Heldin Freude endlich weitererzählt werden, denn gleichzeitig wird mit (dem auch an Disneys Dumbo erinnernden) Bing-Bong symbolisch auch all das zu Grabe getragen, was der eigentlichen Protagonistin Riley in ihrer Entwicklung und der im Film transportierten Vorstellung von Fortschritt im Wege steht – und das, ohne dass Riley davon irgendetwas bewusst mitbekäme. Und zu guter Letzt bekommt Bing-Bongs Tod eine weitere Bedeutungsebene, wenn man seine homosexuelle Codiertheit mitdenkt: Werden hier womöglich Aussagen darüber getroffen, wie sich Riley – deren Kommandozentrale als einzige im ganzen Film noch von Männern und Frauen bevölkert wird – sexuell weiterentwickeln könnte?

Wenn nun beispielsweise Oliver Kaever auf SPIEGEL ONLINE in Alles steht Kopf einen Film sieht, der sich traue „eine ernste Geschichte darüber zu erzählen, wie Menschen mit einer Welt umgehen, deren Anforderungen sie sich immer wieder aufs Neue stellen müssen und die von ihnen verlangt, sich beständig zu entwickeln“, lohnt es sich, einmal zu fragen: Welche Anforderungen werden denn genau thematisiert? Und sind wir damit alle einverstanden?

Alles steht Kopf
Originaltitel: Inside Out
Erscheinungsjahr: 2015
Länge: 94 Minuten
Altersfreigabe: FSK 0
Regie: Pete Docter
Drehbuch: Pete Docter, Meg LeFauve, Josh Cooley
Produktion: Jonas Rivera
Musik: Michael Giacchino

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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