Weiter, immer weiter

„The Way Back“ (2010) – Eine Flucht, so existenziell wie das Leben selbst, kennt nur ein Ziel: Freiheit!

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Seit dem Ende der 1920er Jahre herrscht in der Sowjetunion das Stalinistische Terrorregime, dem 1939 auch der polnische Offizier Janusz (Jim Sturgess) zum Opfer fällt. Als angeblicher Spion wird er angeklagt und in ein sibirisches Gulag-Straflager deportiert. Dort ist, wie ein Aufseher warnt, die eisige Natur der wahre Kerkermeister. Gleichwohl wagt Janusz, der als Kavallerist die notwendigen Survivalkenntnisse besitzt, zusammen mit sechs anderen Gefangenen die Flucht. Ihr Ziel soll zunächst der Baikalsee sein, später die Mongolei: rund 6500 km zu Fuß durch Eiseskälte und Gluthitze, durch quälenden Hunger und unerträglichen Durst, durch Schmerz und Erschöpfung, durch Tragik und Tod hin zur Freiheit. Getragen von einem ungeheuren Überlebenswillen.

Eine seltsame Truppe hat sich da ohne nennenswerte Ausrüstung und Proviant versammelt: neben dem besonnenen Janusz der brutale Russe Valka (Colin Farrell), einziger echter Verbrecher unter unschuldig Verurteilten, der schweigsame Amerikaner Mr. Smith (Ed Harris), der nachtblinde junge Pole Kazik (Sebastian Urzendowsky), der künstlerisch begabte polnische Konditor Tomasz (Alexandru Potocean), der lettische Priester Voss (Gustaf Skarsgård) und der humorvolle Jugoslawe Zoran (Dragos Bucur), einstmals Buchhalter. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie das vom sowjetischen Staat für sie auserkorene Los nicht akzeptieren, sondern sich einer höheren Macht als der politischen stellen, nämlich der Natur. Nur dieses eine Schicksal werden sie annehmen, das aber mit allen Konsequenzen. Denn es wird ihr eigenes, selbstbestimmtes sein.

Entkommen durch die Wälder

„The Way Back“, inspiriert von Slavomir Rawicz` umstrittener, nie verifizierter Autobiographie „The Long Walk“, erweist sich in vielerlei Hinsicht als besonderes Werk. Nach sieben Jahren hat der australische Ausnahmeregisseur Peter Weir endlich wieder einen Film gedreht, und zwar einen, der sich nahtlos in sein Œuvre fügt und trotzdem wie künstlerisch-reifes Ausklingen hin zum erzählerischen Purismus wirkt. Stets gilt Weirs Interesse ungewöhnlichen Grenzsituationen, weniger emotional motiviert, sondern aus der Konfrontation zwischen kulturell („Der einzige Zeuge“), psychisch („Fearless“), gar mystisch („Picknick am Valentinstag“) divergierenden Welten entstehend, angesiedelt zwischen Systemen („Der Club der toten Dichter“) und Mentalitäten („Green Card“). Angesichts konkreter („Gallipoli“) oder auch anonymer Kräfte („The Truman Show“) erlebt der Mensch sich neu, hinterfragt seine Identität im Kontext des Fremden, geht gar unerwartete Allianzen mit diesem ein. Dabei mag er gewinnen oder verlieren; stets jedoch lässt er sich auf etwas ein, das größer ist als er.

Dementsprechend entziehen sich Weirs Filme klassischer Genreeinordnung, und auch „The Way Back“ reicht weit über ein typisches Abenteuerdrama hinaus. Schon der schlichte Titel, selbst dessen deutsche Verleihvariante „Der lange Weg“, weist mit minimalistischer Diskretion weder auf Sinn noch Ziel dieses Weges, stattdessen zurück auf dessen Essenz, nämlich die Bewegung. Tatsächlich bringt jeder Schritt der Sieben, zu denen in den sibirischen Wäldern noch das Flüchtlingsmädchen Irena (Saoirse Ronan) stößt, sie weiter weg von ihrer intentionalen, hin zu einer selbstzweckhaften Dynamik. Was als Ausbruch und Flucht begann, wird zu Überlebenskampf und Zwang, dann zum metronomhaften Automatismus, letztendlich zur ultimativen Gesinnung, zur Gewissheit von Existenz: Solange sie gehen, leben sie; solange sie wandern, sind sie frei.

Verloren in der Wüste

Zweifellos wird ihr Marsch von politischen Veränderungen beeinflusst, etwa wenn sie nicht in der ursprünglich anvisierten, mittlerweile aber schon kommunistisch unterjochten Mongolei verweilen können und stattdessen nach Tibet weiterwandern müssen. Trotzdem gewinnt ihr Weg mehr und mehr ahistorischen Charakter, führt er sie doch durch menschenleere, gewaltige Landschaften, die in ihrer Monumentalität völlig unberührt vom globalen Geschehen bleiben. Hier ist der Zweite Weltkrieg kaum mehr als eine Ahnung, hier wird der (ausgesetzte) Mensch auf das eigene physische wie ethische Dasein zurückgeworfen. Einmal, irgendwo in der unendlichen mongolischen Steppenwüste, hat die kleine Flüchtlingsgruppe scheinbar eine Vogelflugformation eingenommen. Denn das sind sie jetzt, Zugvögel, ewige Wanderer, deren Weg kein Anfang und kein Ende mehr kennt.

Dieser eigenständigen Bewegung passt Peter Weir Akzent und Rhythmus seiner unaufdringlichen Regie an, erzählt mal elliptisch, mal detailreich, verwehrt sich vollkommen einer episodischen Bebilderung. Nicht der Moment wird dramatisiert, sondern einer ebenso konzentrierten wie absichtslos wirkenden Dramaturgie von beherrscht-epischer Breite unterworfen. Allein die Flucht der Figuren bleibt konstitutiv, ihr Gang ist gleichzeitig der Fluss einer Geschichte, deren Spannung über ein ’Wer überlebt?’ hinausreicht. Weniger das Ziel, vielmehr die Flucht an sich trägt wie die Natur selbst die Kausalität des Geschehens. Passend hierzu legt sich Burkhard Dallwitz` symphonischer Score mit seinen Ethnonuancen wie schwerer Samt über die Landschaft, betont deren Unerschütterlichkeit, die sich nicht durch Wandel definieren muss.

Sterben im Sand

Ohne romantisierendes Pathos, dafür mit einer distanzierten Ruhe, welche die Natur in all ihrer gleichmütigen, wertfreien Dignität widerspiegelt, fängt Russell Boyds Kamera die grandiose Landschaft ein – als ein Gegenüber, das weder schützt noch verrät, nur da ist. Im Laufe ihrer Flucht werden Janusz und seine Begleiter, durch ihre gedeckt-erdfarbene Kleidung ohnehin der Umgebung angepasst, immer mehr zu einem Teil dieser Natur, während sie auf der Suche nach Freiheit, Güte und Vergebung sind. Tief graben sich die körperlichen Strapazen in ihre Gesichter ein, ihr Wanderrhythmus stimmt sich auf Wetter und Klima ab, ihre Konturen verschleifen sich gleich einer Fata Morgana im Flimmern der Wüstensonne. Je weiter sie gehen, desto weniger lehnen sie sich gegen die Macht der Elemente auf. Sie dulden sie wie den Tod, der drei von ihnen einholen wird.

So schwer das Überleben ist, so still und sanft ist das Sterben. Keiner stirbt allein, sondern ist von realen oder imaginierten Freunden umgeben, die nicht festhalten, nur halten beim Heimgang. Im Hinscheiden vollendet sich die ’unio mystica’ mit der Natur. Hochsensibel inszeniert Peter Weir jenen leisen, leichten Tod, rührt am Unfassbaren, um es ins zutiefst Menschliche zu lenken. Längst ist aus den Flüchtenden eine Gemeinschaft geworden, deren anfängliches Misstrauen kaum merklich in unausgesprochene Hingabe übergegangen ist. Im Leben wie im Sterben bleiben sie beieinander, teilen das einzige, was sie wirklich gewonnen haben: ihre Freiheit.

Frei-Sein jenseits von allem

Keine Sekunde kürzer dürfte der mehr als zweistündige Film sein, der erst über diese Länge sein Wesen voll entfalten kann. Wie in Peter Weirs letztem Werk „Master and Commander“ (2003) sind es Zeit und Raum, das heißt äußere Bewegung und Richtung, die die innere Geschichte etablieren, gleichzeitig mäandern lassen. Entsprechend relativieren sich die scheinbaren Schwächen von „The Way Back“, etwa die trotz durchweg ausgezeichneter Darsteller nur marginalen Charakterentwicklungen, fehlende psychologische Deutung oder ein wenig ausgeschöpftes Konfliktpotential. All dies lässt sich jedoch im Gesamtkonzept des Films, der trotz extensiver Dimension äußerst feinfühlig anmutet, vernachlässigen. Seine Qualität liegt stattdessen auf der internen Erzählebene, nämlich darin, Natur als Transformationskraft zu begreifen und ihr unbeugsames Gleichmaß in menschliche Bewegung umzudeuten, die sich territoriale wie geistige Autarkie erkämpft.

In einer der eindringlichsten Sequenzen des Films liegt Janusz, gerade eben der alles austrocknenden Wüste entkommen, nackt in einem Fluss, lässt mit geschlossenen Augen einfach das Wasser über seinen Körper rauschen. Es gibt kein Gestern und kein Morgen, nur das stille Jetzt als Augenblick intensivster Vitalität. Das ist jene Freiheit, für die es sich zu sterben lohnt. Und zu leben.

„The Way Back“ (U.S.A. 2010)
Regie: Peter Weir
Darsteller: Jim Sturgess, Colin Farrell, Ed Harris, Saoirse Ronan
Laufzeit: 128 Min.
Verleih: Splendid Film/WVG
Format: DVD / Blu-ray

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Weitere Filmrezensionen hier