Von Monstern und Mirabilien

Das mittelalterliche Weltbild in Literatur und Kartographie

Von Simone HackeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Hacke

In Zeiten globaler Vernetzung, in denen auch der entlegenste Ort nur einen Mausklick entfernt und fast jeder Winkel der Erde erkundet ist, erscheint die Existenz von Monstern und Mirabilien, wie Einhörnern, Drachen oder Völkern mit vier Augen, unvorstellbar. Trotzdem nimmt die Faszination für solche Wunderwesen auch in unserer Zeit nicht ab. Man denke nur an die Popularität von Vampiren und Werwölfen in Literatur und Film der letzten Jahre oder an die Vielzahl der Monster und Fabelwesen aus der Kinderbuchliteratur sowie anderer popkultureller Phänomene zum Beispiel in Computerspielen. Diese Faszination für das Andersartige und Kuriose entsprang bereits der Gedankenwelt der Antike. Die meisten Wundervölker und -tiere, die wir kennen, haben ihren Ursprung in dieser Zeit. Aus den überlieferten Weltbeschreibungen der Antike, unter denen die ‚Naturalis historia’ von Plinius dem Älteren sowie ‚De nuptiis Philologiae Mercurii’ von Martianus Capella im Mittelalter besonders verbreitet waren, speiste sich auch das mittelalterliche Weltbild. Es setzte sich demnach mehr aus überliefertem Buchwissen als aus dem Erfahrungsschatz der Zeitgenossen zusammen. Doch vereinzelt fanden auch zeitgenössische Geographie und neue Beschreibungen von Wunderwesen Eingang in die mittelalterliche Erdbeschreibung, wie sich im Folgenden zeigen wird.

Ein terminologisches Problem gilt es vorab zu klären: Die Begriffe Wunder-, wunderbar und wunderlich werden hier nach der mittelhochdeutschen bzw. mittelalterlichen und nicht nach der modernen Bedeutung verwendet. Wunder bedeutet im Mittelhochdeutschen ‚Merkwürdigkeit’, ‚Kuriosität’, ‚Neugier’ oder auch ‚Ungeheuer’. Das Adjektiv wunderlich/wunderlîche(n) kann sowohl mit ‚wunderbar’, ‚außergewöhnlich’, ‚unbegreiflich’ als auch mit ‚seltsam’, ‚sonderbar’, oder ‚merkwürdig’ übersetzt werden. Die Monster und Mirabilien waren also für das Mittelalter keineswegs phantastische, nur imaginierte Wesen, sondern Kuriositäten und außergewöhnliche Erscheinungen, für die es keine Erklärung gab. Sie waren keine Fiktion (res fictae), sondern für die Zeitgenossen real (res factae).

Die Weltbilder (imagines mundi) des Mittelalters liegen sowohl als Bilder – in Form einer Weltkarte (mappa mundi) – als auch in Textform als Welt- oder Reisebeschreibung vor. Die bekannteste und mit 3,58×3,56 Metern größte Weltkarte aus jener Zeit ist die um 1300 entstandene Ebstorfer Weltkarte. Das Original verbrannte während des Zweiten Weltkrieges, doch durch Fotografien und Abzeichnungen ist die Karte der Forschung und auch der Öffentlichkeit weiterhin zugänglich.

Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AEbstorfer-stich2.jpg, Beschriftungen von der Autorin.

In der Textform hatte sich das Weltbild der römischen Autoren vor allem über die Kirchenväter bis zur Naturlehre des Physiologus und den mittelalterlichen Schreibern Honorius Augustodunensis und Isidor von Sevilla weiter tradiert. Die Werke der beiden Letztgenannten wurden nachweislich für die Erstellung der Ebstorfer Weltkarte verwendet, wodurch sich automatisch eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen dieser lateinischen Gelehrtenliteratur und der mittelalterlichen Kartographie ergeben.

Daher ist es aber noch interessanter der Frage nachzugehen, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich im wissenschaftlichen Weltbild der Kartographie und der volkssprachigen Literatur zeigen, die sich seit dem Ende des 12. Jahrhunderts zunehmend ausbreitete und sich an ein ganz neues Publikum richtete: den höfischen Adel. Ist das Weltbild in der volkssprachigen Literatur und der Kartographie des Mittelalters vollkommen identisch oder gibt es Abweichungen? Welche Rolle spielt das neue Publikum? Passt sich das Weltbild der volkssprachigen Literatur seinen neuen Rezipienten an?

Zur Veranschaulichung des Weltbildes in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters soll hier das frühe mittelhochdeutsche Werk ‚Lucidarius’ in den Fokus rücken. Der deutsche ‚Lucidarius’ ist wie sein lateinisches Vorbild, das ‚Elucidarium’ des Honorius Augustodunensis, in drei Büchern als Lehrdialog zwischen einem fragenden iunger (Junge) und einem antwortenden meister (Meister) verfasst. Allerdings liefert der zwischen 1170 und 1190 entstandene deutsche Lehrdialog keine bloße Übersetzung des ‚Elucidarium’, sondern formt aus mehreren lateinischen Quellen sein eigenes, individuell zusammengestelltes Weltbild. Im ersten Buch widmet sich der Autor des ‚Lucidarius’ dem Aufbau der Welt und seinen naturkundlichen Phänomenen. Die Bücher zwei und drei behandeln die christliche Heilsgeschichte sowie die Liturgie und Eschatologie.

Durch seinen klerikalen Autor, der aber einen volkssprachigen Text verfasste, steht der deutsche ‚Lucidarius’ im Grenzbereich zwischen Latein und Volkssprache. Er wird somit in beiden Sphären – Kloster und Hof – rezipiert. Wie sich an der großen Anzahl der überlieferten ‚Lucidarius’-Handschriften ablesen lässt, erfreute sich das Werk vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit hinein großer Beliebtheit, wodurch ihm eine zusätzliche Bedeutung in der Gültigkeit seines propagierten Weltbildes zukommt.

Die erste Beschreibung des Erdkreises (orbis terrae) im ‚Lucidarius’ wirkt fast so, als säßen die beiden Gesprächspartner direkt vor der Ebstorfer Weltkarte und würden diese gemeinsam betrachten:

„Da sprach der junger: ‚wir sulen die rede lan bliben eine wile unde sulent mir sagen von der ordenunge dirre welte.’ / Der meister sprach: ‚dise welt ist sinewel, unde ist unbeslozen mit dem wendelmer, da inne suebet die erde alse der duter indem eige indem wisem. […] dú welt ist in drú geteilet, daz eine Asia, daz ander Europa, daz drite teil heizet Affrica.’“[1]

„Da sprach der Junge: ‚Wir sollten eine Weile aufhören, davon zu reden, und ihr solltet mir von der Einteilung der Welt erzählen.’ / Der Meister sprach: ‚Diese Welt ist kugelrund und vom Wendelmeer umschlossen, darin schwimmt die Erde wie der Dotter im Eiweiß. […] Die Welt ist dreigeteilt, der eine Teil ist Asien, der andere Europa, der dritte Teil heißt Afrika.’“

Die Erde wird im ‚Lucidarius’ wie auch auf der Ebstorfer Weltkarte, als sinewel beschrieben. Dieses mittelhochdeutsche Wort kann sowohl ‚kreisrund’ als auch ‚kugelrund’ bedeuten. In Kombination mit der Eimetapher, in welcher die Erde mit dem im Eiweiß schwimmenden Eigelb verglichen wird, ist jedoch die Übersetzung ‚kugelrund’ zwingend. Die Kugelform der Erde war im Mittelalter anerkanntes Wissen. Die kreisförmigen Abbildungen der Welt in den mappae mundi sind vermutlich auf die vereinfachte Darstellungsweise und das Fehlen von Dreidimensionalität in mittelalterlichen Zeichnungen zurückzuführen. Der moderne Irrglaube, dass sich die Menschen im Mittelalter die Erde als Scheibe vorstellten, kann durch mittelalterliche Quellen wie den ‚Lucidarius’ widerlegt werden. Neben der Eimetapher taucht etwa im ‚Buch Sidrach’ – einem dem ‚Lucidarius’ sehr ähnlichen Werk – der Vergleich der Erde mit einem Apfel auf. Zusätzlich zur kugelrunden Form beschreibt der meister im ‚Lucidarius’ auch die Einteilung der Welt in drei Teile. Diese Dreiteilung des orbis terrae findet sich sowohl in der Kapitelaufteilung der meisten Erdbeschreibungen als auch in den mittelalterlichen Weltkarten wieder und führte zu dem heute geläufigen Begriff der T-O-Karte.

Das O steht dabei für den runden Erdkreis, der durch das Mittelmeer sowie die beiden Flüsse Don und Nil T-förmig in drei Teile aufgeteilt wird. Asien nimmt den gesamten oberen Teil der T-O-Karte ein, die im europäischen Raum meist geostet war. Im unteren, westlichen Erdteil sind Europa und Afrika angesiedelt. In der Ebstorfer Weltkarte ist das T-O-Schema zu einem Y-O-Schema verformt, da Asien – insbesondere das Heilige Land – und Europa, einen überdimensionalen Teil einnehmen. Das für das Mittelalter eher unbedeutende Afrika wird durch die verschobene Symmetrieachse des Mittelmeeres stark verkleinert. Durch diese abgewandelte Form des T-O-Schemas wird auch der größte Unterschied zu unseren modernen Karten deutlich. Die mittelalterlichen mappae mundi hatten nicht die Aufgabe, den Erdkreis möglichst maßstabsgetreu und realitätsnah abzubilden. Vielmehr nahmen die Gegenden mit der größten Bedeutung, wie etwa Europa oder die Orte der Heilsgeschichte in Asien, auch den größten Raum auf der Karte ein. Die Wichtigkeit der Information bestimmte die Größe ihrer Darstellung auf der Karte.

Ein Punkt, der die bildliche Weltdarstellung im Mittelalter demnach stärker bestimmte als die textliche, war die Bedeutung der Heilsgeschichte. Auf der Ebstorfer Weltkarte wird dies besonders deutlich. Durch die Ostung der Karte steht das irdische Paradies – die Wiege der Menschheit nach christlicher Vorstellung – oben und stellt den Beginn der Heils- bzw. Weltgeschichte dar, die nun von Ost nach West über die Karte abläuft. Unter anderem sind Szenen wie die Arche Noah, Sodom und Gomorrha, der Turmbau zu Babel oder auch der Berg Sinai eingetragen. Das Haupt von Jesus Christus thront über allem. Seine Gliedmaßen sind jeweils am nördlichsten, südlichsten und westlichsten Punkt der Ökumene zu erkennen, wodurch der Leib Christi zum orbis terrarum selbst wird. Auch der ‚Lucidarius’ präsentiert sein Weltbild „von der gescóphede dez himels, unde der erde“ („von der Erschaffung des Himmels und der Erde“) bis zum „ende der welte“ („Ende der Welt“) und stellt somit die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft unter den Einfluss Gottes. Allerdings ist die Heilsgeschichte in der Beschreibung der einzelnen Kontinente hier nicht so präsent wie auf der Ebstorfer Weltkarte.

Die starke Orientierung an der Heilsgeschichte offenbart eine Problematik des mittelalterlichen Weltbildes, wenn man es aus unserer heutigen Sicht betrachtet. Die mappae mundi und Erdbeschreibungen bilden nur bedingt den Ist-Zustand der Welt ab, sie konzentrieren sich stärker darauf, ihre Gegenwart in den heilsgeschichtlichen Zusammenhang einzugliedern. Die Karten und Weltbeschreibungen konnten also nicht zur räumlichen Orientierung genutzt werden, da die Anordnung der Orte zueinander keine präzisen Schlüsse auf deren reale geographische Lage zuließ. Daher ist es eine erstaunliche Besonderheit der Ebstorfer Weltkarte, dass hier in einer Seitenlegende neben den Betrachtern (legentibus) auch die Reisenden (viantibus) direkt angesprochen werden. Auch wenn die Karte, aufgrund ihrer Größe und des fehlenden Maßstabes, nicht wirklich als Reisekarte geeignet war, konnte sie einem Pilger doch die grobe Richtung (directio) und einen gewissen Überblick über seinen Standort und die Städte in der Umgebung liefern. Neben die vermutete Funktion der Ebstorfer Weltkarte als Unterrichtsmittel für die Ausbildung von Klerikern tritt somit die Absicht der geographischen Orientierung, wenigstens für den europäischen und den Jerusalem umgebenden Raum.

In diesem Raum finden auf der Ebstorfer Weltkarte im Gegensatz zum ‚Lucidarius’ auch zeitgenössische, geographische Angaben ihren Platz. So fällt der detailliert abgebildete Herrschaftsbereich der Welfen im heutigen Niedersachen ins Auge, in dem Lüneburg und Braunschweig besonders hervorgehoben wurden. Der Altgermanist Hartmut Kugler, der einen umfangreichen Faksimile-Band zur Ebstorfer Weltkarte herausgab, bezeichnet diesen Ausschnitt als „die früheste Deutschlandkarte der Geschichte“[2] und stellt damit gezielt die Besonderheit des Detailreichtums auf der Ebstorfkarte heraus. Ein weiteres Beispiel für den Eingang von zeitgenössischem Wissen in das Ebstorfer Weltbild ist der Eintrag zur Stadt Riga, die erst zu Beginn des 13. Jahrhunderts gegründet wurde. Der ‚Lucidarius’ hingegen hält sich, was die Aufzählung europäischer Städte, Länder und Regionen betrifft, strikt an seine lateinisch-antiken Vorlagen und lässt kein zeitgenössisches Wissen einfließen.

Auch die Kreuzzüge beeinflussten zunehmend das Weltbild des Mittelalters. Durch sie wurden immer neue Gegenden in der östlichen Halbkugel entdeckt und fanden durch Kaufleute und Pilger auch Eingang in die Weltkarten. Zudem brachten die Kreuzfahrer zum Teil unbekannte, orientalische Märchenerzählungen von ihren Reisen mit, die ebenso wie die antiken Überlieferungen von Monstern und Mirabilien geprägt waren. Diese neuen orientalischen Wundergeschichten flossen insbesondere in die volkssprachige, erzählende Literatur ein, wie die Reiseabenteuer des ‚Herzog Ernst’ eindrucksvoll belegen.

Um weiße Flecken auf dem Kartenbild in noch unbekannten Ländern (terra incognita), vorwiegend Gebiete in Indien und Afrika, zu vermeiden, wurden dort vielerlei Wundervölker und -tiere eingezeichnet. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Kartenzeichner und die Autoren von Werken wie dem ‚Lucidarius’ selbst nie diese Gegenden bereist und die wunderliche Tierwelt mit eigenen Augen gesehen hatten. Dies ist nicht zuletzt an der stark vereinfachten, fast kindlich wirkenden Darstellung von Tieren wie dem Elefanten, dem Krokodil oder dem Tiger zu erkennen, der nach unserem heutigen Verständnis stärker an einen Marder erinnert.

Der sogenannte vierte Erdteil, der sich nach den mittelalterlichen Geographen auf der Rückseite der Ökumene, der bewohnten Welt, befand, wurde von den Antipoden (Gegenfüßlern) besiedelt. Dieser vierte Kontinent ist weder auf der Ebstorfer Weltkarte eingezeichnet, noch wird er im ‚Lucidarius’ erwähnt. Allerdings wird er auf der Karte in der sich ganz im Süden am Rande des Orbis befindenden Monstrengalerie angedeutet. Dort sind die wunderlichsten Völker aufgereiht, die sich in ihrer körperlichen Absonderlichkeit gegenseitig übertrumpfen. Es gibt ein Volk, dessen Münder zusammengewachsen sind und das deshalb Nahrung nur über ein dünnes Schilfrohr aufnehmen kann. Daneben ist eine Reihe von Wundervölkern abgebildet, denen verschiedenste Körperteile fehlen. Die einen besitzen keine Nase oder keine Ohren, den anderen fehlt die Zunge, sodass sie sich nur mit Hilfe von Gebärdensprache verständigen können. Auch gibt es Völker mit besonderen Fähigkeiten, wie Schnelligkeit oder Immunität gegen Schlangengift und natürlich dürfen auch die obligatorischen Menschenfresser nicht fehlen.

Als hätte der ‚Lucidarius’-Autor einen ähnlichen Monstrenkatalog wie der Zeichner der Ebstorfer Weltkarte vor sich gehabt, beschreibt er die hunt hóbete, ein Volk mit Hundeköpfen oder die Armarspi, „die hant nuwen ein ouge vor ander stirnen“ („die nur ein Auge vorne an der Stirn haben“). Die Cynocephali (Hundsköpfigen) finden sich auf der Ebstorfer Weltkarte gleich zweimal. Eine Eintragung lokalisiert sie zusammen mit den anderen Wundervölkern in der Monstrengalerie; darüber hinaus wurden sie in Indien, der zweiten Heimat der absonderlichen Lebewesen, eingezeichnet.

Neben vielen Übereinstimmungen der Wundervölker auf der Ebstorfer Weltkarte und im ‚Lucidarius’, wie den Hundsköpfigen, dem mundlosen Volk der Astomi, den Riesen oder den Zwergen, gibt es auch eine Reihe von Unterschieden. So sind zum Beispiel die Skiapodes (Schattenfüßler) – ein einbeiniges Volk, das seinen übergroßen Fuß als Sonnenschirm umfunktioniert hat – nicht auf der Weltkarte aus Ebstorf eingetragen. Außerdem unterlief dem Autor der deutschen Wissensenzyklopädie ein Fehler bei der Zuordnung des Namens. Er nennt sie fälschlicherweise Ciclopes statt Skiapodes und schreibt dem charakteristischen Fuß dieses Volkes eine neue, europäisch orientierte Funktion zu: Der Fuß dient als Schutz vor Unwetter statt vor starker Hitze. Die Verwechslung des Namens dürfte auf einen simplen Abschreibfehler zurückzuführen sein. Die vom Autor hinzugedachte Funktion des Unwetterschutzes des Fußes hingegen zeigt, dass die aus der Antike stammende Monstrentradition des Mittelalters nicht vollkommen fest war, sondern auch angepasst werden konnte. Diese Anpassung der Funktion des Skiapodenfußes ist womöglich darauf zurückzuführen, dass der ‚Lucidarius’-Autor das Wundervolk an die europäischen Wetterverhältnisse angleichen wollte, um es für sein deutschsprachiges Publikum anschaulicher zu gestalten. Derartige Abweichungen könnten natürlich ebenfalls durch Missverständnisse, Übersetzungsfehler oder vom Text abweichende Bildillustrationen begründet sein. Außerdem waren Verschmelzungen der Eigenschaften verschiedener Wundervölker und -tiere im Mittelalter durchaus verbreitet.

Das mittelalterliche Weltbild bietet aber nicht nur eine Vielzahl von Wundervölkern, sondern auch von Wundertieren. Insbesondere die Drachen bzw. Lindwürmer und Greifen tauchen immer wieder auf. Während die Greifen, die den Körper eines Löwen, aber die Flügel und den Kopf eines Adlers besitzen, häufig in der Nähe der Goldenen Berge in Indien zu finden sind, gibt es Drachen sowohl in Asien als auch in Afrika.

Auffällig ist, dass Europa, die Heimat des Publikums der hier betrachteten Kartographie und Literatur, vollkommen frei von Wundervölkern und -tieren ist. In der eigenen Heimat schienen die wunderlichen Monster keinen Platz zu haben, da hier die weißen Flecken auf der Landkarte zum Großteil bereits ausgefüllt waren. Auch die terra incognita in Indien und Afrika verkleinerte sich im Laufe der Zeit durch das weitere Vordringen von Kreuzrittern, Kaufleuten oder Reisenden, wie etwa Marco Polo, mehr und mehr. Daher wurden die Wundervölker immer weiter an den Rand des orbis terrarum gedrängt, wie auch auf der Ebstorfer Weltkarte sichtbar wird. Allerdings verschwindet der Glaube an die Mirabilien im mittelalterlichen Weltbild nie, was ihre wichtige Rolle für diese Zeit unterstreicht.

Auf der Ebstorfer Weltkarte finden sich neben den Bildern und Einträgen zudem viele ausführliche Legenden an den äußeren Rändern des Pergaments, in denen vor allem die Tierwelt Afrikas beschrieben wird. Diese enge Verknüpfung von Bild und Text, von pictura und scriptura, ist für mittelalterliche mappae mundi charakteristisch. Meist diente die Karte zur Veranschaulichung des Textes und war auf einer freien Seite im Codex oder auch direkt in den Text eingefügt. Diese Form einer Brücke zwischen pictura und scriptura war auch im ‚Lucidarius’ vorgesehen. Freilassungen und Hinweise im Text sowie explizite Zeichnungen von Karten in einigen ‚Lucidarius’-Handschriften machen dies deutlich. Vor allem drei in verschiedenen ‚Lucidarius’-Handschriften überlieferte Karten weisen engste Bezüge zum Text auf. Auf der Ebstorfer Weltkarte ist der Text-Bild-Bezug genau gegenteilig. Dort bezieht sich der Text erläuternd auf die Bilder der Karte, Kugler nennt dies eine „Verräumlichung der literarischen Vorstellungswelt“[3]. Im ‚Lucidarius’ soll hingegen die Karte helfen, den Text zu veranschaulichen, was analog als Verschriftlichungen der bildlichen Darstellungswelt bezeichnet werden könnte.

Wie bereits angedeutet, war das Weltbild des Mittelalters trotz seines starken Bezuges zu antiken Traditionen nicht vollkommen statisch. Zeitgenössisches Wissen oder auch der Versuch einzelner Autoren, den Text an ihr Publikum anzupassen, führten zu leichten Veränderungen des Weltbildes, die wiederum von anderen Autoren aufgriffen oder vernachlässigt wurden. Welchen Einfluss die Rolle des Publikums auf das Weltbild nahm, wird insbesondere am ‚Lucidarius’ deutlich. Im Laufe der Bearbeitungen des Werkes durch unterschiedliche Redaktoren wurde fast das gesamte dritte Buch und große Teile des zweiten Buches des ‚Lucidarius’ gestrichen, wodurch das erste Buch, das die Weltbeschreibung beinhaltet, in den Fokus rückte. Durch das Streichen der liturgischen und eschatologischen Bücher zwei und drei wurde der deutsche ‚Lucidarius’ immer stärker zu einem Naturbuch, das sich auf die Darstellung der Wunder der Welt konzentrierte.

Diese Verkürzung des Inhaltes des ‚Lucidarius’ könnte natürlich einen einfachen Grund haben: den zufälligen Verlust der Bücher zwei und drei. Möglicherweise hatte der ‚Lucidarius’-Bearbeiter diese Bücher aber auch bewusst weggelassen, um den Ansprüchen seines neuen höfischen Publikums, das sich zunehmend für die Beschaffenheit der Welt sowie die Mirabilien des Orients interessierte, zu entsprechen. Somit wäre denkbar, dass auch das rezipierende Publikum – klerikal oder höfisch – einen entscheidenden Einfluss auf die Weiterentwicklung des Weltbildes seiner Zeit hatte. Und nicht nur die klerikalen Leser, die die lateinischen Werke von Isidor von Sevilla und Honorius Augustodunensis rezipierten, sondern vor allem das neue volkssprachige Publikum trägt das mittelalterliche Weltbild über Werke wie den ‚Lucidarius’ bis in die Frühe Neuzeit weiter.

Es ist deutlich zu erkennen, dass das mittelalterliche Weltbild in der Kartographie und der volkssprachigen Literatur Parallelen aufweist. Selbst wenn es nicht immer wortwörtliche Übereinstimmungen sind, ist doch das propagierte Weltbild von Text und Bild im Mittelalter nahezu identisch. Es kann daher von einem einheitlichen mittelalterlichen Weltbild gesprochen werden, das sich nicht nur im gelehrt-lateinischen Diskurs manifestierte, sondern sich auch seit dem Ende des 12. Jahrhunderts in der Unterhaltungsliteratur fortsetzte. Hier sind neben dem ‚Herzog Ernst’ auch der ‚Alexanderroman’, die Geschichten von ‚König Rother’ oder der ‚Reinfried von Braunschweig’ zu nennen.

Darüber hinaus stehen Kartographie und Literatur – pictura und scriptura – in einem engen Wechselverhältnis: Eine Karte ist ohne den sie beschreibenden Text nur schwer zu verstehen und der Inhalt eines Textes kann wiederum durch eine Karte veranschaulicht werden. So ist die mittelalterliche Weltdarstellung nicht nur Karte, sondern auch Weltchronik, Naturbuch, Monstrenkatalog und heilsgeschichtliches Werk in Einem.

Anmerkungen:

[1] Lucidarius. Aus der Berliner Handschrift, hg. von Felix HEIDLAUF, (Deutsche Texte des Mittelalters 28), Berlin 1915, S. 8f.

[2] KUGLER, Hartmut: Hochmittelalterliche Weltkarten als Geschichtsbilder, in: Hochmittelalterliches Geschichtsbewußtsein im Spiegel nichthistorischer Quellen, hg. von Hans-Werner GOETZ, Berlin 1998, S. 185f.

[3] KUGLER, Hartmut: Die Ebstorfer Weltkarte. Ein europäisches Weltbild im deutschen Mittelalter, in: ZfdA 116 (1987), S. 27.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg