Lenz.Im.Kopf

Georg Büchners Erzählung als hochkünstlerisches und -künstliches Filmprojekt: „Büchner.Lenz.Leben“

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Klassiker sind gewissermaßen die gespaltenen Persönlichkeiten der Literatur. Ihr Ruf als Kulturgut ist makellos, gleichwohl werden sie jenseits von Kunstszene und Feuilleton nur innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen be(tr)achtet, etwa als Schullektüre oder Theaterstück. Die populäre Wahrnehmung steht diametral zum kulturell-ästhetischen Rang. So gesehen ist jeder Versuch begrüßenswert, einen neuen, vielleicht gar frischen Blick auf sie zu werfen. Der Film „Büchner.Lenz.Leben“ ist ein solcher Versuch einer (Wieder-)Belebung.

Seine künstlerische Verortung korrespondiert mit der Vagheit des Untertitels ‚Poetische Reise in einen Text‘. Als Hommage an die Dichtung, cineastisches Experiment und transdisziplinäres Projekt bezeichnet, kommt der Film daher wie eine szenische Lesung mit Bebilderung oder eine historisch-literarische Spurensuche mit darstellerischem Impetus. Dabei bleibt der Text stets die Dominante im ästhetischen Spiel, das ganz auf theatralen Minimalismus, sinnliche Regression wie dramaturgische Strenge setzt.

Wahnsinn und/oder Außenseitertum

„Lenz“ wurde posthum 1839 herausgegeben. Dieses gerne als Novelle klassifizierte, unvollendete Manuskript aus dem Nachlass von Georg Büchner (1813-1837) gilt als Schlüsseltext der modernen europäischen Prosa wie der literarischen Pathographie. Darüberhinaus ist es ein Beispiel für realistische Literatur. Für die eindringliche Schilderung der voranschreitenden Geisteskrankheit des Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792) greift Büchner nicht nur auf dessen Briefe, sondern auch auf Berichte von Pfarrer Johann Friedrich Oberlin zurück. Weil er bei aller wissenschaftlichen Präzision aber in langen Passagen eine figurale Erzähltechnik anwendet, erschließt sich die psychische Störung, nämlich paranoide Schizophrenie, aus der Innenperspektive.

In einer Gegenwart, die von Sigmund Freud geprägt ist und ihn gleichzeitig überwunden hat, mag das kaum provozieren. Zu Büchners Zeit freilich steckten Psychiatrie und Psychologie noch in den Anfängen. Als ‚Wahnsinniger‘ war Lenz damals vor allem als ein gesellschaftlicher Außenseiter zu betrachten. Eben jenen Aspekt nimmt Regisseurin Isabelle Krötsch zum Ausgangspunkt ihres Films. Die Leinwand erstrahlt noch im Weiß des Nichts, da erhebt sich eine Stimme aus dem Off und zitiert Lenz‘ Rede „Über Götz von Berlichingen“: „und was bleibt nun der Mensch anders als eine vorzüglich künstliche kleine Maschine, die in die große Maschine, die wir Welt, Weltbegebenheiten, Weltläufte nennen, besser oder schlimmer hineinpaßt. […] Aber heißt das gelebt?“ Das ist pures Sturm-und-Drang-Denken, gleichzeitig derart nah an aktueller Sozialkritik zur mechanisierten Anpassung des Menschen an eine industrialisiert-kapitalistische Gesellschaft, dass es auf raffinierte Weise ins Heute führt. Ein vielversprechender Beginn für eine Beschäftigung mit Büchner.

Literatur und/oder Bild

Das Umblättern eines Skripts ist zu hören, aus dem Weiß lösen sich die Konturen einer Schneelandschaft, die Kamera tastet sich in einem langsamen Panoramaschwenk am winterlichen Mittelgebirge entlang. Der Erzähler Hans Kremer beginnt mit seiner vollständigen, wortgetreuen Lesung von „Lenz“. Erst später sieht man ihn nachdenklich und textversunken in einer holzvertäfelten Nische sitzen. Im Verlauf des Films, wenn die pathologischen Stimmungsschwankungen von Lenz zunehmen, wird er sich stärker mit dieser Figur identifizieren, manchen Monolog schauspielerisch akzentuieren. Gleichzeitig driften Text und Bild auseinander.

Dabei hatte es zunächst den Anschein, als würde Hans Kremer die Novelle geographisch ablaufen, während sie vorgelesen wird. Mit Rucksack wandert er durch die Umgebung des elsässischen Städtchens Waldersbach (in „Lenz“ das fiktive Waldbach) in den Vogesen, besucht das Grab Oberlins oder sitzt in historischen Stuben und Dorfkirchen. Entwirklicht scheinen jene kargen Orte, sind menschenleer und von exquisiter Stille, die nur ein leises Schneeknirschen kennt. Die Stimme des Lesenden, mal On und mal Off, bleibt die einzige feste Größe. Prononciert ist das am Ende mit einer Weißblende, über der diesmal aus Goethes ‚Werther‘ zitiert wird. Sprache triumphiert über das Bild.

Eine gewisse poetisierende Kraft geht von dieser Darbietung aus, kann jedoch nicht gehalten werden. Wenn sich Kremer einen Kaffee erwärmt oder raucht, mag das noch als visuelle Vignette durchgehen. Schattenspiele mit der Hand, Schminken vor einem Spiegel, das Studieren einer Wanderkarte oder Zähneputzen kontrastieren hingegen zu auffällig mit dem Erzählten. Sie ähneln nur mehr eitler Kunstattitüde, die sich (über-)ambitioniert in Szene setzt zwecks Distanzierung von jeglichem Verdacht des populistischen Anbiederns. Tatsächlich ist „Büchner.Lenz.Leben“ kein Kino, sondern Konzept.

Weltentrücktheit und/oder Entfremdung

Isabelle Krötsch macht Ausgrenzung beziehungsweise Weltentrücktheit, die in Zerrissenheit und Entwurzelung kulminiert, zum thematischen wie inszenatorischen Leitmotiv. Verlassene und unbewohnt wirkende Schauplätze, kaum Hintergrundgeräusche, überhaupt wenig cineastische Reize entfremden vom Medium und vom Erzähler, der ebenfalls stetig grüblerischer wird. Ging Hans Kremer zu Anfang noch als Fremder aus dem Jetzt durch Räume des Gestern, fällt er zunehmend in die Rolle des Lenz hinein. Explizit bei der kunsttheoretischen Diskussion zwischen Lenz und Kaufmann gewinnt er an darstellerischem Furor. Das passt, transportiert doch jener Passus im Buch Büchners revolutionäres Kunstverständnis, nämlich die Abkehr vom Idealismus hin zu einem (nicht bürgerlichen, nicht verklärenden) Realismus. Damit greift er entscheidend in die Moderne voraus.

Im Gegenentwurf baut „Büchner.Lenz.Leben“ nicht auf Authentizität, stattdessen auf gedämpfte Suggestion. Hier Kerzen, dort offenes Feuer, da ein Schauspieler in sublimer Versenkung. Dass es in den Zimmern Steckdosen gibt, zuletzt mit einem Auto weggefahren wird und während des Abspanns ein Kirchenchor singt, impliziert beinahe Verstörung. Selbst die Kamera agiert mit somnambuler Schwere und wartet in langen Einstellungen ab. Nur einmal löst sie sich aus der Traumverlorenheit, nimmt mit leicht nervöser Handkameraästhetik den beobachtenden Standpunkt von Oberlin ein.

Ansonsten besitzt ihr Blick jene Ruhe, die intensives Nachspüren erst ermöglicht, aber auch ein Gefühl von Leere transportiert. Und diese ist keineswegs derart radikal wie sie sein möchte. Dazu mangelt es ihr am existenziellen Moment, weil eine Verknüpfung mit aktueller Problematik oder überzeitlicher conditio humana fehlt oder nur schemenhaft aufflackert. Die introspektive Performance von Hans Kremer in Kombination mit der kalkuliert reduzierten Inszenierung gerinnt zur synthetischen Pose, die das Wort würdigt, indem sie es seiner Erdung beraubt. Die Apotheose der Sprache wird zur Entfremdung von der ihr innewohnenden Vitalität.

Kunst und/oder Manieriertheit

Über dem Filmprojekt liegt der Hauch des Manierierten, des bewusst Vergeistigten. Der Pressetext beispielsweise besteht aus einem Essay des deutsch-indischen Philosophen Pravu Mazumdar. Mit gewichtigem Schwärmen geistert er durch Subtexte und analytische Möglichkeiten, die einer cineastischen Beglaubigung weitgehend schuldig bleiben. Tatsächlich bietet der Film keinen wirklich neuen Textzugang, ist die inszenatorische Konzentration auf den Leseakt als Handlungsraum und den nachempfindenden Lesenden als singulären Protagonisten noch keine Innovation per se. Eher dient das Werk als Projektionsfläche und Resonanzboden für Vorgebildete.

Zweifelsohne braucht Kunst keine Rechtfertigung, sondern sollte aus sich heraus beziehungsweise für sich bestehen. Deshalb ihren Effekt zu ignorieren, wäre fatal. Was die Wirkung von „Büchner.Lenz.Leben“ betrifft, so steht zu befürchten, dürfte sie rein akademischer Natur sein. Die Dramaturgie der Reduktion ist ein ebenso ästhetisch verfeinertes wie künstlich forciertes Konstrukt, das auf den Text zurückwirft, ohne ihn um unerwartete interpretatorische Impulse oder zeitgemäße Reflexionen anzureichern. Die Innenschau einer Psychose erscheint als Kopfgeburt. Bei Büchner war sie visionär: „Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins…“.

Büchner.Lenz.Leben.

Textgrundlage: Georg Büchner’s “Lenz” in der Marbuger Ausgabe /
hrsg. von Prof. Dr. Burghard Dedner und Hubert Gersch

Deutschland 2015

Regie: Isabelle Krötsch

Darsteller: Hans Kremer

Dauer: 108 Minuten

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