Indiepop goes Indiebook

52 Gründe, Jens Friebes „52 Wochenenden“ zu lesen

Von Emily JeuckensRSS-Newsfeed neuer Artikel von Emily Jeuckens

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ausgehkolumnen“ nennt Friebe das, was er auf 220 Seiten seinen LeserInnen und FreundInnen schlichter Gitarrenmusik präsentiert, und was 2009 als Kritische Ausgabe in Neuauflage erschien. Berlin, München, Tokio – die weite Welt wartet hinter der Haustür auf den Ausgehwilligen und sein Publikum: Freitagabends wird sie aufgestoßen, man lässt sich durch ein von Lesungen, Konzerten und Partys erfülltes Nachtleben treiben und zieht, müde aber glücklich, die Tür am Sonntagmorgen wieder hinter sich zu. 52 Wochenenden – so lautet der Titel, und 52 Gründe gibt es, sich nicht nur musikalisch mit Friebe zu beschäftigen:

1. Der freche, gelassene Ton, mit dem der Autor seine Leserschaft einlädt, ihm durch die Nächte zu folgen,

2. und der dabei ganz ohne den populären Kitsch der Verheißung eines angetrunkenen Sonnenaufgangs auskommt.

3. Die Abwesenheit von Wehleidigkeit und künstlich herbeigeredeter Melancholie und

4. die Fülle an kleinen und großen, glänzenden und kummervollen Alltagseinblicken.

5. Die trockenen Kommentare Jelenia Goras zur Kritischen Ausgabe, die den flapsigen, wenig Tiefgang bietenden Text mit geradezu zynischer Inbrunst vor den Augen des Lesers/der Leserin analysiert („Der Produzent […] taucht in den Schriften Friebes immer wieder auf und wird zumeist als ein dämonisches Kraftgenie an der Grenze zum Irrsinn karikiert“) – und ihn so um ein metaleptisches Spiel bereichert.

6. Die versteckten Wortspiele, die einen poetischen Hauch durch das ‚Referenzwerk‘ für Fans deutscher Indiemusik wehen lassen, z.B.: „Der Weg nach Kreuzberg war weit, und die Pferde schnauften zum Gotterbarmen, da sie durch den Schneematsch kaum die Equipage vorwärts bekamen, die bald schlingerte, bald stecken blieb“,

7. denn lyrischer wurde die Berliner Trambahn wohl noch nie beschrieben.

8. Die Ausgehtipps, die 52 Wochenenden zu einer Art Indie-Reiseführer der Republik machen: frische Calzone, morgens um fünf, für schlappe vier Euro in Berlin zu haben, Herr Friebe bittet zu Tisch.

9. Friebes zwischen zwei Bieren verlorene Kohärenz zwischen Szenen in zu Tonstudios ausgebauten Berliner Altbauküchen und solchen über den Kannibalen von Rothenburg: „Die Freude über die fertige Platte konnte ich später nie ganz von der Erleichterung trennen, nicht gegessen worden zu sein“.

10. Die Veröffentlichung im (nicht nur zum Indiebookday) beachtenswerten Verbrecher Verlag,

11. der seit 1995 herrlichen Unsinn treibt,

12. junge Autor*innen ins Programm aufnimmt,

13. u.a. die großartigen Tagebücher Erich Mühsams veröffentlicht

14. und obendrein Friebes Werk in dieser Kritischen Ausgabe

15. mit dem vor Sarkasmus triefenden Klappentext samt Hinweis auf die Besuche „in einem linken Jugendzentrum, in dem die Jeunesse dorée ihre Rhabarberlimonade schlürft“,

16. von Kiepenheuer & Witsch ins eigene Programm übernahm

17. und ihm zu neuem editorischem Glanz verhalf.

18. Der leuchtend türkisfarbene Einband, der im Bücherregal seinesgleichen sucht.

19. Der von Friebe schon in seinen Songtexten gepflegte Sprachsalat: „Die Jahre, die wir brauchen, bis wir uns davon erholen, ziehen vorbei wie fremde Koffer auf dem Band am Charles de Gaulle.“

20. Diese Affinität zum Vergleich und zur Metapher, die 52 Wochenenden zu einem Wimmelbild des uneigentlichen Sprechens machen.

21. Das Gefühl ungeheurer Aktualität, das trotz und wegen der wenigen Jahre, die seit der Veröffentlichung der ersten Kolumnen 2007 vergangen sind, noch immer vorherrscht

22. und dennoch wegen des Mangels an technischem Gerät auf der Handlungsebene anheimelnd  nostalgisch wirkt.

23. Die Lebensfreude und der Spaß am Unfug, die zwischen den Zeilen funkeln: „Wir waren in Sektlaune, aber das lag am Sekt.“

24. Die Ausflüge in die esoterische Welt der Traumdeutung: „Eine Gesellschaft voller Menschen in Overalls, die angehalten sind, in neutralem Ton mit einander zu reden. Jeder trug per Farbe das Muster seiner sozialen Resonanz spazieren.“

25. Dazu die Kommentatorinnenstimme aus dem Off: „Mir selbst berichtete er, bei einem unserer letzten Abendessen im Restaurant San Marco, das er wegen der Nähe zu seiner Wohnung […] schätzte, dass er von der Lektüre der Standardwerke ironischerweise Albträume bekomme“.

26. Der Verzicht auf die Ikonisierung der eigenen Künstlerfigur, wie sie beispielsweise Wir sind Helden in ihrer Band-Biographie Informationen zu Touren und anderen Einzelteilen betrieben.

27. „Ein Buch wie Schampus“, ließ einst ein Verlag auf einen Bestseller drucken – 52 Wochenenden ist ein Buch wie ein kühles Bier der Nachttankstelle.

28. Die durch viel im Internet versurfte Zeit verlorene und hier wiedergefundene Hoffnung, dass vor der Tür ein spannenderer Abend warten könnte als dahinter. „Nackte Angst zieh dich an, wir gehen aus“!

29. Die bei den Leser*innen daraus erwachsende Lust, in Schuhe und Jacke zu schlüpfen, hinauszulaufen und erst zurück zu kehren, wenn genügend Erzählstoff für eine eigene Ausgehkolumne zusammengekommen ist.

30. Die ostentative Unzuverlässigkeit, die das Geschehen zwischen Realität und Phantasie schwanken lässt („Ich scheine mir das wirklich ausgedacht zu haben“).

31. Der Versuch, ohne politische Positionierung eine gewisse bürgerliche Grundanständigkeit der stillen Empörung (was auch immer das sein mag), die in Songtexten wie: „Ein Nazi hat mein Bett aufgebaut und ich habe mal wieder nichts gesagt“ bereits durchschimmerte, durch unverfängliche incorrectness zu persiflieren: „Der Fahrstuhl kostet acht Euro, zu viel für eine Disko, aber nicht zu viel um Berlin aus einer Perspektive zu sehen, die einem erlaubt, sich als alliierter Bomberpilot zu fühlen, der unsere Eltern bei dröhnenden Düsenmotoren von den Nazis befreit.“

32. Die Vielfalt der Ideen, die hinter 52 sich niemals ähnelnden Kolumnen steckt.

33. Das ungeheure narrative Tempo, das Friebe in seinen drei- bis vierseitigen Abenteuergeschichten aufbaut.

34. Die langen Gedankenströme des Musikers beim Spielen,

35. die durch kurze Einschübe wie „Mist, verspielt“ wieder auf den Boden der Tatsachen (bzw. der dreckigen Clubbühne) heruntergeholt werden.

36. Der Humor, der zwischen charmant („Karneval ist für die Kölner kein zeitlich begrenztes Ereignis, sondern das Zentrum ihres Denkens.“)

37. und immerhin-nach-einer-gewissen-Anzahl-alkoholischer-Getränke-lustig changiert: „Als ich Punk war, hatte ich eine Ratte. Die durfte ich gar nicht haben, meine Mutter hasste Ratten. Aber ich sagte ihr einfach, es wäre eine Maus. Sie glaubte es nicht nur, sie hat das Tier richtig ins Herz geschlossen.“

38. Die aus seinen Songs vertraute angenehme Stimmfarbe Friebes, die bei der Lektüre mitklingt.

39. Die eingestreuten Zweitverwertungen anderer literarischer Gehversuche, wie beispielsweise eine Rezension aus einem Studentenmagazin: „Nach dem üblichen post-freudischen Phallus-Blabla kommt Zizek schließlich zum Schluss. […] Your brain turns to pudding.“

40. Überhaupt die Frage nach der Gattung des hier präsentierten Textes: Haben wir es mit 52 Kurzgeschichten zu tun? Oder mit einem zur Publikation angelegten Tagebuch?

41. Bilden die Kolumnen nicht erst unter dem Titel 52 Wochenenden – also denjenigen eines Kalenderjahres – ein ‚Gesamtwerk’ und gehören deshalb als Mosaiksteine eines Jahrbuchs des Nachtlebens unzertrennlich zusammen?

42. Das Fehlen jeglicher Literaturbetrieb-Labels als Geschenk an das Publikum: Ob Science-Fiction, Reiseführer oder Persiflage – 52 Wochenenden sind lang genug für eine Melange der Genres.

43. Die bekannten Gesichter aus der deutschen Indie- und Hamburger Schule-Szene, wie

44. der Produzent mit Appetit auf Menschenfleisch,

45. Rocko Schamoni und

46. Dietmar Dath (der im Buch stets Partys verlässt, um Bücher entweder zu lesen oder zu schreiben).

47. „Es geht darin ums Ausgehen und Rumstehen, um Drogen und Leben, um Ernst und Unernst“, schrieb die FAZ beim Versuch einer Inhaltsangabe, die Friebe folgendermaßen formulieren würde: „Aufbruch! Genug mit trashigem Bildungsfernsehen. Es gibt eine Party!“

48. Die tour-de-force durch Jahreszeiten, Namen und Städte, die aus 52 Wochenenden eine Art Faserland der deutschen Indieszene machen.

49. Es ist das ultimative Buch im Manteltaschenformat zum Warten auf den Nachtexpress, wenn das Auto in der Werkstatt ist. Denn wie Friebe-Fans dank des Titels seines vierten Albums wissen:

50. „Das mit dem Auto ist egal, Hauptsache dir ist nichts passiert“.

51. Die Tatsache, dass sich wahrhaftig 52 Gründe für die Lektüre ein schmales Bändchens über die deutsche Indieszene finden lassen.

52. Die Verheißung eines angetrunkenen Sonnenaufgangs.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jens Friebe: 52 Wochenenden. Kritische Ausgabe.
Mit Beiträgen von Dietmar Dath und Linus Volkmann.
Verbrecher Verlag, Berlin 2009.
160 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426222

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch