Solistin im Sand

John Curran hat Robyn Davidsons Abenteuerklassiker „Spuren“ in eine einzigartige Meditation über die Essenz des Wanderns verwandelt

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Füße, Pfoten, Hufe – Ihre Spuren faszinieren, sind sie doch Beweis einer Anwesenheit, die sich umgehend wieder verflüchtigt. Zugleich symbolisieren sie das Leben selbst, das zwar im Jetzt stattfindet, aber eigentlich eine stete Reise aus der Vergangenheit in die Zukunft ist. Nur anhand von Spuren, tatsächlichen wie sinnbildlichen, wird ein Moment für die Ewigkeit gerettet.

Als die Australierin Robyn Davidson (geb. 1950) 1977 von Alice Springs aus gen Westen aufbrach, um mit vier Dromedaren und einem Hund den Indischen Ozean zu erreichen, wollte sie jene Momente alleine für sich haben. Sie suchte weder Begleitung noch hegte sie Buchpläne. Damals war es noch nicht en vogue, beim Reisen sich selbst zu finden und darüber einen Bestseller zu verfassen. Wegen Geldmangels hatte Robyn Davidson allerdings einen Vertrag mit dem ’National Geographic Magazine’ eingehen müssen, der sie zu einem Artikel verpflichtete und den gelegentlichen Besuch eines Photographen mit einschloss. Ansonsten war der neunmonatige 1700-Meilen-Trip durch das australische Outback ein Ego-Projekt. In jeder Hinsicht und mit aller Konsequenz.

Schritte als Trance

Diese Radikalität hat Robyn Davidson etwas aufgebrochen, als sie sich nach dem Erfolg ihrer Reportage dann doch zum Schreiben eines Buches entschloss. „Tracks“ (1980) ist heute ein moderner Klassiker der Reiseliteratur. Die Verfilmung von Regisseur John Curran („Der bunte Schleier“, 2006; „Stone“, 2010) könnte zu einem Klassiker des Wanderfilms werden, gewissermaßen das Per-Pedes-Subgenre des Road-Movies. Schon die Drehbuchadaption von Marion Nelson besticht durch wortkarge Direktheit, die sich zu keinerlei Erklärungen verpflichtet. Wie Robyn (Mia Wasikowska) zu ihrem Entschluss kommt, woher sie die Kraft für die strapaziösen Vorbereitungen nimmt, warum sie so sehr die Einsamkeit sucht, all das bleibt im Vagen. Ihr Leben in der Stadt war durch eine gewisse Orientierungslosigkeit gekennzeichnet, ihre Arbeit im australischen Hinterland, wo sie zwei Jahre lang unter harten Bedingungen den Umgang mit Kamelen lernt, ist von Zielstrebigkeit geprägt. Mehr gibt es nicht zu wissen.

John Curran überführt solche Vagheit in die Trance der Bewegung. Unter dem Eindruck der meditativen Musik von Garth Stevenson gleitet die Geschichte aus der Bahn klassischer Dramaturgie, meidet jegliche Action bzw. das Entlanghangeln an Ereignissen. Stattdessen wird die äußere Dynamik einer Reise zum inneren Antrieb des Wandernden, kongenial von Kamerafrau Mandy Walker in immer wiederkehrenden hypnotischen Bildern von schreitenden Menschen-, Kamel- und Hundebeinen eingefangen – absichtslos und achtsam wie Zen. Ohne Hast drängen sie voran, ohne Verpflichtung bleiben sie im Rhythmus, ohne Zwang halten sie Kurs. Zugunsten des Raumes ignorieren sie die Zeit. Ihnen gehört der Moment.

Fährte zur Selbstbestimmung

„Spuren“ lässt das australische Outback in einem golden-warmen Glanz erstrahlen, ohne es zu verklären. Wüste ist Wildnis, wenn auch eine betörende. Einmal ist nur totales Weiß auf der Leinwand zu sehen, bis sich von links langsam die kleine Karawane in den Fokus schiebt: Das scheinbare Nichts war der Sand. Kaum treffender lässt sich akzentuieren, dass die Natur nicht auf den Menschen gewartet hat und jederzeit auf ihn verzichten könnte. Darin liegt vielleicht die eigentliche Grenzerfahrung einer kühnen Wander-Expedition – von außen lässt sich nichts einfordern, Härte muss gegenüber sich selbst und teils auch in der sozialen Interaktion entwickelt werden. Nur wer das begreift und die Stärke zum (Über-)Leben aus der eigenen Person zieht, ist der monumentalen Unverfügbarkeit von Weite gewachsen. Wie Robyn.

Sie wird von der exzellenten Mia Wasikowska mit jenem aufregend entschlossenen und letztlich unzugänglichen Eigensinn gespielt, den nur echte Außenseiter haben. Oder Abenteurer. Stur, störrisch und schroff, beinahe wie ihre Kamele, beharrt Robyn auf ihrem Ideal von Freiheit, nämlich auf vollkommener Autarkie. Das hat nichts mit politischem Feminismus, aber alles mit dem Mut zu persönlicher Emanzipation zu tun. Selbst die kleine Romanze mit Photograph Rick Smolan (Adam Driver) heißt noch lange nicht, dass er über sie und ihre Zeit verfügen dürfte. Nur den Aborigine Mr. Eddy (Rolley Mintuma) lädt Robyn ein, sie und ihre Kamele für einen Teil der Strecke zu begleiten. Die beiden verstehen sich trotz sprachlicher Barrieren prächtig, vielleicht, weil sie vom Dasein wenig mehr als das Sein verlangen. Das jedoch mit absolutem Ernst.

Abdrücke aus der Vergangenheit

Der rund 2700 km lange Marsch durch meist menschenleere, oft lebensfeindliche Wüstenregionen ist ebenso anstrengend wie gefährlich. Mal sind die Kamele über Nacht verschwunden, mal hat Robyn ihren Kompass verloren. Dennoch scheint nichts so sehr ihre Reserven anzugreifen wie die Begegnung mit photographierwütigen Touristen. Die sind das letzte Echo einer auf Sensationen versessenen, geistig und emotional zerstreuten Zivilisation. Robyn hingegen läuft immer weiter auf ihre eigene Mitte zu. Erinnerungen überfallen sie. Als sie noch ein Kind war, beging die Mutter Selbstmord, und Robyn wurde ohne ihren geliebten Hund zur Tante verfrachtet. In Rückblenden, die sich wie Halluzinationen in die vor Hitze flirrende Gegenwart der australischen Wüste einpassen, kommen diese Erlebnisse hoch. Bewusst verarbeitet werden sie nicht, dafür einfach mitgenommen und in die unveränderliche Dynamik des Wanderns umgesetzt. „Solvitur ambulando“, Augustinus’ kluger Spruch vom ’Lösen durch Gehen’, entfaltet hier seine ganze Wahrheit.

Ebenso klug von John Curran ist es, darin nicht auch den tieferen Sinn der außergewöhnlichen Kameltour zu suchen. Überhaupt enthält sich „Spuren“ jeder übertriebenen Erläuterung und setzt stattdessen auf etwas ganz Wunderbares: auf die Unergründlichkeit aller wirklich wichtigen Dinge. Als sich Robyns Hund tödlich vergiftet und sie ihn erschießen muss, empfindet sie zum ersten Mal abgrundtiefe Einsamkeit. Plötzlich kommt die Wanderung ihr absurd vor. Aber sie ringt sich dazu durch, den Weg Richtung Ozean weiter zu gehen, wo sie schließlich aus der Weite der Wüste in die Weite des Wassers tauchen wird. Sie hat der Welt die Stirn geboten und eine Antwort auf deren Unsinnigkeiten gefunden: Unabhängigkeit.

„Spuren“ („Tracks“, Australien 2013)
Regie: John Curran
Darsteller: Mia Wasikowska, Adam Driver, Rolley Mintuma, Rainer Bock
Laufzeit: 99 Min.
Verleih: Ascot Elite Home Entertainment
Format: DVD / Blu-ray

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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