Das Silberne Zeitalter und dessen bedeutendste Lyrikerinnen

Über Anna Akhmatova und Marina Cvetajeva

Von Alla SoummRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alla Soumm

Inhaltsverzeichnis

 

I.  Das Silberne Zeitalter

II.  Anna Akhmatova (1889-1966)

III. Marina Cvetajeva (1892-1941)

IV. Literaturverweise

 

I. Das Silberne Zeitalter

Das für Russland so ereignisreiche 20. Jahrhundert begann mit einer derartigen vielseitigen Dichte an literarischer Qualität und Innovationskraft, dass diese ersten zwei bis drei Jahrzehnte als eine eigene literarische Epoche in die Literaturgeschichte eingehen sollten: das Silberne Zeitalter (in Anlehnung an das Goldene Zeitalter um Pushkin und Lermontov). Die Liste der illustren Namen ist eindrucksvoll:

Angefangen bei den Symbolisten Aleksandr Blok und Andrej Belyj, über den sich im Gegensatz zum russischen Symbolismus auf das konkrete Diesseits fokussierenden Akmeismus, von Osip Mandel‘štam, Anna Akhmatova und Nikolaj Gumiliov mitbegründet, und der Bauerndichtung Sergej Jesenins hin zum russischen (Kubo-)Futurismus Velimir Khlebnikovs und Vladimir Majakovskijs und solchen keiner literarischen Schule angehörenden Dichterpersönlichkeiten wie Marina Cvetajeva und Boris Pasternak.

Zwischen den russischen Dichterinnen und Dichtern entspann sich aus dem Einander-zur-Kenntnis-Nehmen und dem Aneinander-Wachsen in dieser Zeit ein reger und fruchtbarer Dialog, der neben Begegnungen und Briefen, Hommagen und satirischen Porträts in Versen zur Bildung ganzer Traditionslinien und Einflusssphären genauso führte wie zur absichtlichen Meidung des fremden Einflusses zur Herausbildung der eigenen künstlerischen Handschrift:

So waren sowohl Akhmatova (vgl. Ja prishla k poetu v gosti [1914; Zum Dichter kam ich zu Besuch]) als auch Cvetajeva (vgl. ihren Gedichtzyklus Stikhi k Bloku [1916; Gedichte an B.]) glühende Anhängerinnen Bloks; so ging Akhmatova eine kurze Ehe mit Gumiliov ein (vgl. u.a. ihr Gedicht Kolybel’naja [1921; Wiegenlied]); so skizzierte Mandel‘štam ein knappes und prägnantes Bild Akhmatovas (Akhmatova; 1914); so huldigte Cvetajeva Mandel‘štam in Nikto ničevo ne otnial (1916; Nichts von niemandem geraubt) und Akhmatova u.a. in einem der Dichterkollegin gewidmeten Zyklus (Akhmatovoj [1916; An A.]) als der „Goldmund-Anna von ganz Russland“ (Zlatoustnoj Anne – vseja Rusi); so verband Majakovskij, der solche illustren Dichterkollegen wie Akhmatova oder Cvetajeva als ‚bourgeois’ und ‚überholt’ diffamierte und dem Selbstmörder Jesenin das zynische Gedicht Sergeju Jeseninu (1926; An S. J.) widmete, eine zaghafte Freundschaft mit Pasternak; so hegte Pasternak eine derartige Bewunderung für Majakovskij, dass er gegen dessen Einfluss in der eigenen Lyrik bewusst anzukämpfen hatte; so beschwor Pasternak eine kleine Gemeinschaft von Gleichgesinnten, die neben ihm Majakovskij und später auch Cvetajeva umfasste, in Nas malo. Nas mozhet byt’ troje (1921; Von uns gibt es wenige. Vielleicht nur drei) und fertigte dichterische Porträts von Akhmatova (Anne Akhmatovoj [1929; An A.A.]) und Cvetajeva (M.C.; 1929) an; so verfasste Akhmatova ihrerseits eine prägnante dichterische Charakterisierung Pasternaks (Boris Pasternak; 1936) und Majakovskijs (Majakovskij v 1913 godu [1940; M. im Jahre 1913]) und nahm Jahrzehnte später, nach dem Überleben aller Weggefährten, in einer Allusion an den von Pasternak evozierten Kreis den Faden wieder auf und benannte nun, neben Pasternak und sich, Mandel‘štam und Cvetajeva zu den ‚Auserwählten’ (Nas četvero [1961; Von uns gibt es vier]); so ignorierte Cvetajeva Majakovskijs Feindseligkeit und widmete ihm nach seinem Selbstmord einen ganzen Gedichtzyklus aus dem Pariser Exil (Majakovskomu [1930; An M.]); so entspann sich zwischen Pasternak und der nach der Revolution zunächst im Exil lebenden Cvetajeva eine innige Brieffreundschaft, die erst mit Cvetajevas Rückkehr in die Sowjetunion und ihrem baldigen Freitod endete.

Allein die dichterischen Nachrufe – u.a. Pasternaks auf Majakovskij (Smert’ poeta [1930; Der Tod des Dichters]) und Cvetajeva (Pamiati Mariny Cvetajevoj [1943; Zur Erinnerung an M.C.]); Akhmatovas auf Jesenin (Pamiati Sergeja Jesenina [1925; Zur Erinnerung an S.J.]), Mandel‘štam und Pasternak (Smert’ poeta [1960]) – bilden ein eigenes Kapitel des dichterischen Nekrologs in großer Lyrik. Als Traditionslinie hatte dieser im sog. Goldenen Zeitalter mit Lermontovs paradigmatisch gewordenem Nachruf auf den Tod Pushkins in Smert’ poeta (1837; Der Tod des Dichters) seinen Ausgang genommen. Mit dem Siegeszug der russischsprachigen Prosa seit den Tagen Pushkins und Lermontovs konnten dagegen im Silbernen Zeitalter auch Prosaautoren zu Widmungsträgern der Untergattung des lyrischen Nekrologs werden – vgl. u.a. Akhmatovas Nachruf auf Bulgakov Pamiati M. B-va (1940; Zur Erinnerung an M. B-v).

Dieser innerliterarische und zugleich zwischenmenschliche Dialog sollte jedoch nicht bloß innerhalb der russischen Literatur verbleiben:  In der Brieffreundschaft Cvetajevas und Pasternaks bildete Rilke bald den dritten Gesprächspartner (vgl. Briefwechsel Rilke, Zwetajewa, Pasternak, hg. v. Evgeny Pasternak, üb. v. Heddy Pross-Weerth. Frankfurt a.M. 1988).

Wenn der amerikanisch-russische Dichter und Nobelpreisträger für Literatur Joseph Brodsky auf diese an literarischen Ereignissen reiche Epoche in den 1980er Jahren zurückblickt, benennt er „Cvetajeva, […] Rilke, Akhmatova, Pasternak“ als Galionsfiguren, die Generationen von nachgeborenen Dichtern „geschaffen haben“ (Solomon Volkov: Dialogi s Iosifom Brodskim [Dialoge mit J.B.], 2. Aufl., Moskau 2004, S. 72).

Zwei dieser „Galionsfiguren“, die zwar außerhalb Russlands eine geringere Berühmtheit erlangen sollten als Pasternak oder Majakovskij, nehmen ob ihrer literarischen Bedeutung für die russischsprachige Lyrik des 20. Jahrhunderts eine herausragende Position ein: die Lyrikerinnen Akhmatova und Cvetajeva.

II. Anna Akhmatova (1889-1966)

Anna Akhmatova (eig. A. Gorenko), die von sich selbst mit Stolz behauptete, Frauen das (literarische) Sprechen beigebracht und den Weg in die Weltliteratur geebnet zu haben (Epigramma; 1960), ist die ‚Grande Dame’ und eigentliche Schlüsselfigur des Silbernen Zeitalters und darüber hinaus: Akhmatovas Schaffen umfasst, seit der Veröffentlichung des ersten Gedichtbandes Večer (1912; Abend), mehr als fünf Jahrzehnte und spiegelt neben den Jugendthemen Liebe, Trennung, beginnendes Künstlertum u.a. den Ersten Weltkrieg und die Oktoberrevolution, die junge Sowjetrepublik bis zu den Stalinrepressionen der 1930er Jahre, den Zweiten Weltkrieg und die Wiederkehr der Repressionen ab 1945 bis Stalins Tod 1953 wider – und dies fast ausnahmslos am Beispiel von ‚Akhmatovas Stadt’ St. Petersburg/Petrograd/Leningrad. Am Beispiel des sich angesichts der großen Umwälzungen verändernden Stadtbildes vermochte Akhmatova mit einer feinfühligen Verschmelzung von konkreter Dingbeschreibung und der darüber hinausweisenden schwermütigen Gedankenbewegung eine Lyrik der Erinnerung zu erschaffen. Die Poetik einer Literatur der Erinnerung ist bei Akhmatova jedoch keine Alterserscheinung am Lebensabend. Schon 1914 wusste die damals 25-Jährige im achten Gedicht ihres dritten Gedichtbandes Belaja staja (1917; Die weiße Schar) die öffentliche Tragödie des Kriegsbeginns mit dem Revuepassieren einer kleinen privaten Tragödie zu vermählen und damit der von den in den Krieg ziehenden Truppen geprägten Stadt das eigene Gesicht aufzuprägen:

Moróznoje sólnce. S paráda
idút i idút voiská.
Ja póldniu janvárskomu ráda,
I trevóga mojá lekhká.

Zdes’ pómniu kážduju vétku
I káždyj siluét.
Skvoz’ íneja béluju sétku
Málinovyj káplet svet.

Zdes’ dom byl počti shto bélyj,
Steklíannoje kryl’có.
Stol’ko raz rukój pomertvéloj
Ja deržála zvonók-kol’có.

Stól’ko raz…Igrájte, soldáty,
A ja moj dom otyshiú,
Uznáju po kryshe pokátoj,
Po véčnomu pliushiú.

No kto jevó otodvínul,
V čužíje uniós gorodá
Íli iz pámiati výnul
Navsegdá dorógu tudá…

Volýnki vdalí zamirájut,
Sneg letít, kak vishnióvyj cvet…
I, vídno, niktó ne znájet,
Shto bélovo dóma net.

Die Frostsonne [scheint]. Von der Parade
kommen und kommen die Truppen.
Ich freue mich des Januarmittags,
Und meine Unruhe ist leicht.

Hier erinnere ich mich jeden Zweiges
Und jeder Silhouette.
Durch des Raureifs weißes Netz
Tropft himbeerfarben das Licht.

Ein Haus stand hier, fast weiß,
Aus Glas das Vordach.
Wie viele Male habe ich mit halb erstorbener Hand
Den Türring gehalten.

Wie viele Male…Spielt, Soldaten,
Ich aber werde mein Haus finden,
Es erkennen am abschüssigen Dach,
Am ewigen Efeu.

Doch wer hat es verschoben,
In fremde Städte fortgetragen
Oder aus dem Gedächtnis
den Weg dorthin für immer entfernt…

Die Sackpfeifen ersterben in der Ferne,
Der Schnee fliegt wie Kirschblüten…
Und, wie es scheint, weiß niemand,
Dass es das weiße Haus nicht mehr gibt.                    
                         [hier u. im ff. üb. v. Verf.]

Als Angehörige der russischen Aristokratie und Absolventin des elitären, schon von Puschkin und dessen Freundeskreis besuchten Lyzeums Carskoje Selo bei St. Petersburg war Akhmatova seit der Veröffentlichung ihres ersten Gedichtbandes eine majestätische Erscheinung der russischen Literaturszene. Neben ihrem Werk, das als eine literarische Modeerscheinung zunächst zahlreiche dichtende Epigoninnen inspirierte, verfügte auch ihr mondänes Leben mit den ihr nachgesagten Liebschaften über eine hohe Ausstrahlungskraft. Nach einer regen Publikationstätigkeit zu Beginn ihrer Karriere – auf den ersten Gedichtband folgten Čiotki (1914; Rosenkranz); Die weiße Schar; Podorožnik (1921; Wegerich) und Anno Domini MCMXXI (1922) – konnte Akhmatova, wie viele ihrer Kollegen unter dem stalinistischen Regime, bis auf eine einzige Ausnahme 1940 (Iz shesti knig [Aus sechs Büchern]) nicht publizieren und musste sich mit Übersetzungsaufträgen über Wasser halten. 1946 wurde sie zudem bis 1958 aus dem Schriftstellerverband der UdSSR ausgeschlossen. Trotz dieser offiziellen Ächtung genoss Akhmatovas Dichtung eine auf die Vorkriegszeit zurückgehende Popularität, sodass ihre Gedichte im sog. Samizdát (illegal selbstverlegte und unter der Hand weitergegebene Literatur) eine rege Verbreitung erfuhren.

Zahlreiche der in der Zeit des Stalinistischen Terrors entstandenen Gedichte fasste Akhmatova nachträglich zu einem eigenen Band zusammen: Rekviem (Requiem) konnte erst 1987 innerhalb der beginnenden Perestroika und parallel zu Akhmatovas vollständiger Rehabilitierung posthum erscheinen. Diese Klage über den eigenen Sohn (neben Akhmatovas Lebenspartner wurde auch ihr einziger Sohn Lev Gumiliov im Zuge des Stalinistischen Terrors verhaftet, ‚durfte’ aber, was die Lyrikerin zum Zeitpunkt der Arbeit an Requiem nicht wissen konnte, am Leben bleiben) durchzieht wie ein roter Faden das monatelange Warten vor den Leningrader Gefängnissen auf eine Hoffnungsnachricht, wahrscheinlicher aber das Todesurteil.

Von der Aufgabe der Dichtung, die Vergangenheit vor dem Vergessen zu bewahren, kündet die nachträglich im Jahre 1957 in Prosa verfasste Schilderung einer Begegnung, die Akhmatova als Anstelle eines Vorworts dem Gedichtband voranstellt: In jenen 17 Monaten des Ausharrens in den Menschenschlangen vor den Leningrader Gefängnissen, unter den größtenteils weiblichen Angehörigen der Opfer des Stalinistischen Terrors sei die Dichterin von einer Leidensgenossin erkannt und im Flüsterton gefragt worden, ob sie „das hier“ beschreiben könne. Das Erzähler-Ich antwortet mit dem lakonischen „Ich kann“.

In Requiem, der 1940 verfassten versifizierten Widmung an jene Leidensgenossinnen und „unwillkürliche Freundinnen“, kleidet Akhmatova ihr persönliches Leid in ein kollektives Gewand. Dies gelingt etwa durch Anleihen bei dem volkstümlich vierhebigen paargereimten Trochäus, den schon Pushkin in seinen Märchen und Märchenbearbeitungen in die Literatur einzuführen und dem Ohr des russischen Lesers ‚anzuerziehen’ wusste (Skazka o Care Saltane [1832; Das Märchen vom Zaren Saltan]; Skazka o miortvoj carevne i o semi bogatyriakh [1833; Das Märchen von der toten Zarentochter und den sieben Recken]; Skazka o zolotom petushke [1834; Das Märchen vom goldenen Hahn]).

Vgl. hierzu das zweite Gedicht aus Requiem mit der den Eindruck von Volkstümlichkeit und Mündlichkeit steigernden klaren und einfachen Syntax, mit Vers- und Wortwiederholungen, mit märchenhaften Personifizierungen und bäuerlichen Attributen. Umso entwaffnender ist die Wirkung des  Schlussverses – durch die unverhoffte Wendung ins Persönliche mit dem Wechsel der Erzählperspektive und der direkten menschlichen Ansprache, die den Lesern zu gelten scheint:

Tíkho ljótca tíkhij Don,
Žióltyj mésiac vkhódit v dom,

Vkhódit v shápke nabekrén’,
Vídit žióltyj mésiac ten’.

Éta žénshina bol’ná,
Éta žénshina odná,

Muž v mogíle, syn v tiur’mé,
Pómolítes’ óbo mne.

Stille fließt der stille Don,
Der gelbe Halbmond tritt ins Haus,

Tritt herein mit der Mütze auf einem Ohr,
[Da] Sieht der gelbe Halbmond einen Schatten.

Diese Frau ist krank,
Diese Frau ist allein,

Der Mann im Grab, der Sohn im Zuchthaus,
Betet/ beten Sie für mich.

Das Individuelle zum Allgemeinen, ja zum charakteristischen Merkmal einer gesamten Epoche zu erheben, gelingt Akhmatova auch über den im Schlussvers des vorigen Gedichts evozierten christlichen Volksglauben. Vertieft wird dies im Laufe des Gedichtzyklus mit zahlreichen Anspielungen an die Kreuzigung Jesu und das buchstäblich unbeschreibliche Leid der schmerzensreichen Mutter. Vgl. das zehnte Gedicht mit dem Titel Raspiatije (1943; Kreuzigung) mit der für das Russische unüblichen substantivischen Großschreibung im vorletzten Vers:

[…]
Magdalína bílas’ i rydála,
Učeník liubímyj kamenél.
A tudá, gde mólča Mat’ stojála,
Tak niktó vzglianút i ne posmél.

[…]
Magdalena zuckte und schluchzte,
Der Lieblingsschüler versteinerte.
Aber dahin, wo die Mutter schweigend stand,
Wagte bis zum Schluss niemand hinzusehen.

Die Erinnerung an den Sohn verdichtet sich im Schlussgedicht Epilog (1940) schließlich explizit zum kollektiven Klagegeschrei:

[…] moj izmúčennyj rot,
Kotórym kričít stomil’jónnyj naród,
[…].
A jésli kogdá-nibúd’ v étoj strané
Vozdvígnut’ zadúmajut pámiatnik mne,

Soglás’je na éto dajú toržestvó,
No tól’ko s uslóv’jem – ne stávit’ jevó

Ni ókolo mória, gde ja rodilás’,
Poslédniaja s mórem razórvana sviáz’,

Ni v cárskom sadú u zavétnovo pniá,
Gde ten’ bezutéshno íshet meniá,

A zdes’, gde stojála ja trísta časóv
I gde dliá meniá ne otkrýli zasóv.
Zatém, shto i v smérti blažénnoj bojús’
[…]

Zabýt’, kak postýlaja khlópala dver’
I výla starúkha, kak ránenyj zver’.

[…] mein gequälter Mund,
Mit dem das Hundertmillionen-Volk schreit,
[…].
Und falls irgendwann in diesem Land
Beschlossen werden sollte, mir ein Denkmal zu errichten,

Gebe ich zu dieser Feierlichkeit meine Zustimmung,
Aber nur unter der Bedingung – dass es

Weder am Meer aufgestellt werde, wo ich geboren bin [Odessa],
Die letzte Verbindung zum Meer ist gerissen,

Noch im Garten des Carskoje Selo, beim geheimen Baumstumpf,
Wo der untröstliche Schatten nach mir sucht,

Sondern hier, wo ich dreihundert Stunden gestanden habe
Und wo mir der Türriegel nicht geöffnet ward.
Darum, dass ich noch im seligen Tode zu vergessen
[…]
fürchte, wie die abscheuliche Tür knallte
Und eine alte Frau heulte wie ein verwundetes Tier.

Die Wichtigkeit des Nicht-Vergessens, des Bewahrens einer längst untergegangenen Epoche, der früheren, noch St. Petersburg genannten Stadt und der längst verstorbenen Weggefährten und Dichterkollegen sowie die Analyse des Gedächtnismechanismus zeichnet bis zuletzt Akhmatovas Handschrift aus. Man denke etwa an die zweite der Nordelegien (Severnye Elegii; 1943-53) mit dem vielzitierten Anfangsvers: „Jest’ tri epókhi u vospominánij“ (Drei Epochen gibt es bei Erinnerungen).

Als Akhmatovas Hauptwerk gilt neben Requiem die Verserzählung Poema bez geroja (Poem ohne Held), an der die Dichterin seit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges bis 1965 gearbeitet hatte und die 1967 in den USA posthum erscheinen konnte. Dem Titel zum Trotz verfügt das Poem über eine Hauptfigur: St. Petersburg. Im Zuge des Krieges nach Taschkent evakuiert, porträtiert Akhmatova zu den im Poem evozierten Klängen der sog. ‚Leningrader Sinfonie’, der 7. Sinfonie Dmitri Shostakovičs, ‚ihre’ Stadt, der noch die Leningrader Blockade bevorstehen wird, nach dem Gedächtnis. Zugleich lässt sie innerhalb dieses Stadtporträts kaleidoskopartig mehrere Epochen aufeinanderprallen und längst verstorbene (Neben-)Figuren wie den Schatten Majakovskijs vor dem inneren Auge vorbeiziehen. Aussagekräftig operiert Akhmatova in ihrem großen Poem mit Andeutungen und – Pushkin zitierend – Zeilenauslassungen, um so mit verdeckter Schreibweise das Nichtaussprechliche sagen zu können: 

I prokhódiat desiatilét’ja:  
   Pýtki, ssýlki i kázni – pet’ ja,
      Vy že vídite, ne mogú.
[…]
A ne stávshij mojéj mogíloj,
   Ty, granítnyj, kroméshnyj, mílyj,
      Poblednél, pomertvél, zatíkh.
Razlučénije náshe mnímo:
   Ja s tobóju nerazlučíma,
      Ten’ mojá na stenákh tvoíkh […].

Und es vergehen Jahrzehnte,
   Folter, Verbannungen und Hinrichtungen – singen kann ich,
      Sie sehen es doch, nicht mehr.
[…]
Aber nicht zu meinem Grab geworden,
   Bist du, der granitene, stockfinstere, liebe,
      Verblasst, erstorben, verstummt.
Unsere Trennung ist eine Scheintrennung:
   Ich bin von dir untrennbar,
      Mein Schatten liegt auf deinen Mauern […].

III. Marina Cvetajeva (1892-1941)

Marina Cvetajeva, die neben Akhmatova zweite große russische Dichterin, die der vier Jahre älteren und bei den Zeitgenossen weitaus berühmteren Kollegin in den scherzhaften Versen an Akhmatova (Stikhi k Akhmatovoj; 1921) als Moskauerin kurzerhand St. Petersburg überließ – „I podelíli my tak prósto:/Tvoj – Peterburg, mojá –  Moskvá“ (Wir teilten einfach auf:/Dein – Petersburg, mein – Moskau) – gilt nicht zuletzt dem Literaturnobelpreisträger Brodsky als „der größte [russischsprachige] Dichter [sic!] des 20. Jahrhunderts“ (Dialoge, S. 104).          

Anders als das von Schwermut und elegischer Rückwärtsgewandtheit durchzogene Universum Akhmatovas, der von Cvetajeva gepriesenen „Muza plača“ (Muse der Wehklage; in: An Akhmatova), schäumt Cvetajevas Dichtung von Energie und Dynamik, von volkstümlichen Idiomen, von Mut und Kraft zeugenden ‚Pinselstrichen’ des Wortschatzes der Straßen und Stadtplätze. Im Gegensatz zu den meisten ihrer Dichterkollegen stand Cvetajeva trotz ihrer Bewunderung für den Futuristen Majakovskij, für den Symbolisten Blok oder die (zunächst) Akmeisten Akhmatova und Mandel’štam keiner literarischen Bewegung nahe. In dem Mandel’štam gewidmeten Nichts von niemandem geraubt verneigt sie sich vor dem Widmungsträger, indem sie die eigenen Verse als „unerzogen“, als regellos und undiszipliniert beschreibt. Cvetajevas Handschrift liegt über mehrere Schaffensphasen ihres 48 Jahre währenden Lebens hinweg in der dynamischen Bewegung des Verses mithilfe der großzügigen Verwendung von Enjambements und virtuoser Rhythmik, die im Gegensatz zur Rhythmik Majakovskijs weitaus vielfältiger und abwechslungsreicher gestaltet ist.

Die Tochter des Universitätsprofessors und Begründers des späteren Puschkin-Museums für bildende Künste I. Cvetajev und der Pianistin M. Mejn begann bereits mit fünf Jahren zu schreiben und beherrschte mit sieben Jahren neben der russischen die deutsche und die französische Sprache. Nach einem kurzen Literaturstudium an der Sorbonne erschien 1910 ihr erster Gedichtband Večernij al’bom (Abendalbum). Es folgten Volshebnyj fonar’ (1912; Magische Laterne) und Viorsty (1921-22; Werstpfähle). Nach dem Tod ihrer zweiten Tochter in den Hungerjahren des Bürgerkriegs und der anschließenden Emigration 1922 erst nach Prag, dann nach Paris konnte Cvetajeva noch zwei Gedichtbände veröffentlichen (Remeslo [1923; Handwerk], Posle Rosii [1928; Nach Russland]), bevor sie, ihrem Mann und der älteren Tochter folgend und wie diese den wahren Ausmaß des Stalinistischen Terrors verkennend, 1941 mit ihrem Sohn in die Sowjetunion zurückkehrte. Nach der Verhaftung und Erschießung ihres Mannes sowie der Verhaftung ihrer Tochter wurde Cvetajeva zusammen mit ihrem Sohn aus Moskau in das Städtchen Jelabuga in Tatarstan verbannt. Dort beging sie noch im gleichen Jahr in vollkommener Isolation Selbstmord – wie bereits Jesenin (1925) und Majakovskij (1930) vor ihr, deren Wiedersehen im Jenseits sie in ihrem Majakovskij-Zyklus satirisch prophezeit hatte. 

Neben den wenigen zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichtbänden verfasste Cvetajeva zahlreiche Gedichtzyklen und Verserzählungen: neben dem o.g. Zyklus An Majakovskij und weiteren Zyklen an Dichterkollegen u.a. den der einstigen Geliebten Sofia Parnok gewidmeten Zyklus Podruga (1914-15; Freundin), den – Akhmatovas Besingung St. Petersburgs fortführenden – Stikhi o Moskve (1916; Gedichte über Moskau) oder den ein Ding im weitesten Sinne besingenden Zyklen oder Verserzählungen (Stol [1933; Der Tisch]; Poema lestnicy [1926; Das Poem von der Treppe]; Avtobus [1934-36; Der Bus]).

Als Cvetajevas Hauptwerk gilt die mit der ihr eigenen emotionalen wie künstlerischen Kompromisslosigkeit zu Ende gedachte, schonungslos entworfene Anatomie einer Trennung in Poema gory (1924; 1939; Das Poem vom Berg) und das dieselbe Thematik fortführende Verspoem Poema konca (1924; Das Poem vom Ende). Die Kulisse der einstigen Liebesbeziehung, den (damals) unbebauten, ‚wilden‘ Smichower Berg am Stadtrand von Prag, erhebt die Dichterin im ersteren Poem zur Hauptfigur: 

[…]
Zvuk…Nu kak búdto by któ-to prósto
– Nu…pláčet vblizí?
Gorá gorevála o tom, shto vroz‘ nam
Vniz, po takój griazí –

V žizn’, pro kotóruju znájem vsió my:
Sbrod – rýnok – barák…
Jeshió govoríla, shto vse poémy
Gor – píshutsia – tak.

[…]
Ein Geräusch…Nun, so als würde jemand einfach –
Nun ja…weinen in der Nähe?
Der Berg trauerte darum, dass getrennt wir
Herab müssen, im solchen Schlamm –

Ins Leben, über das wir alles wissen:
Mob – Markt – Baracke…
Auch sagte er, dass alle Poeme
Der Berge – geschrieben werden – auf solche Weise.

Beide Poeme bilden eine nummerierte Folge einzelner unbetitelter Gedichte wie in einem Gedichtzyklus, sind jedoch der Thematik der Trennung und dem groben narrativen Bogen bis zum endgültigen Abschied unterworfen. Neben den Cvetajeva noch in größerem Maße als Majakovskij eigenen Rhythmisierungen und Rhythmuswechseln und der fragmentierten, zerrissenen, wie stoßweise gesprochenen Syntax mit einer Fülle an Halbzeilen, Enjambements, Hyperbata, Parenthesen und Ausrufen, die das Klangbild einer sich überstürzenden, temperamentvollen Diktion kreieren, strotzen beide Texte von biblischen wie griechisch-mythologischen Allusionen, Periphrasen und elaborierten, virtuosen Metaphern. Vgl. Das Poem vom Berg, worin das lyrische Ich den Geliebten bittet, vor der endgültigen Trennung alle Orte der kurzen gemeinsamen Geschichte zum letzten Mal aufzusuchen – bis zur Uferstraße, bis zur letzten Brücke:

[…]
Po – slédnij most.
(Rukí ne otdám, ne výnu!)
Poslédnij most,
Poslédniaja mostovína.

Vo – dá i tverd’.
Vykládyvaju monéty.
Den’ – gá za smert’,
Kharónova mzda za Létu.


[…]


Most.


[…]
Letz – te Brücke.
(Die Hand nehme ich nicht weg, lasse nicht los!)
Letzte Brücke,
Letztes Brett des Brückenbelags.


Was – ser und Feste.
Ich reiche die Münze.
Sil – bermünze für den Tod,
Charons Lohn für Lethe.

[…]

Brücke.

Pasternak, bereits seit dem Gedichtzyklus Werstpfähle ein begeisterter Cvetajeva-Leser, war nach der Lektüre des Poems vom Berg derart erschüttert, dass er Rilke von dessen Verfasserin schrieb und damit die Weichen für die Brieffreundschaft zwischen Cvetajeva und Rilke stellte. Pasternak empfahl Rilke das Poem als „so wahr und echt geschrieben, wie hier in der USSR jetzt keiner von uns schreiben wird“ und Cvetajeva als „eine Dichterin von Geburt“ (zitiert in: Rainer Maria Rilke/Marina Zwetajewa: Rainer Maria Rilke und Marina Zwetajewa. Ein Gespräch in Briefen, hg. v. Konstantin M. Asadowski. Frankfurt a. M./Leipzig 1992, S. 19).

Joseph Brodsky, der dasselbe Poem im Samizdát kennen lernte, bekannte, nie etwas Beeindruckenderes in russischer Sprache gelesen zu haben, und begründete mit diesem Werk die These, bei Cvetajeva gelte das Primat des Klangs und des Rhythmus (Dialoge, S. 72f.).

IV. Literaturverweise

IV.1 Literaturverweise Akhmatova

Text:

Anna Akhmatova: Sočinenija, hg. v. Gleb Struve/Boris Filippov. Paris 1965.

Anna Akhmatova: Sobranie sočinenij v shesti tomakh. Moskau 1998-2005.

Übersetzung:

Anna Achmatowa: Requiem, üb. v. Rosemarie Düring. Berlin 1987.

Anna Achmatowa: Poem ohne Held. Späte Gedichte, hg. v. Fritz Mierau, üb. v. Heinz Czechowski u.a. 6. Aufl., Leipzig 1993.

Anna Achmatova: Ich lebe aus dem Mond, du aus der Sonne. Hundert Gedichte über die Liebe, üb. Alexander Nitzberg. Frankfurt a. M. 2000.

Forschungsliteratur:

Susan Amert: The Later Poetry of Anna Akhmatova. Stanford (CA) 1992.

Christine Gölz: Anna Achmatova – Spiegelungen und Spekulationen. Frankfurt a. M. 2000.

Daniel Henseler: Texte in Bewegung. Anna Achmatovas Spätwerk. Frankfurt a. M. 2004.

Sonia I. Ketchian (Hg.): Anna Akhmatova. 1889-1989. Papers from the Akhmatova

Centennial Conference. Berkland 1993.

Roberta Reeder: Anna Akhmatova. Poet and Prophet. New York 1994.

 

IV.2 Literaturverweise Cvetajeva

Text:

Marina Cvetajeva: Sobranije sočinenij, hg. v. Anna Saakjanc. Moskau 1994-1995.

Übersetzung:

Rainer Maria Rilke/Marina Zwetajewa: Rainer Maria Rilke und Marina Zwetajewa. Ein Gespräch in Briefen, hg. v. Konstantin M. Asadowski; üb. v. Angela Martini-Wonde/Felix Philipp Ingold. Frankfurt a. M./Leipzig 1992.

Zwetajewa, Marina: Gedichte, Prosa [russisch und deutsch], hg. v. Fritz Mierau, üb. v. Rainer Kirsch u.a. Leipzig 1987.

Zwetajewa, Marina: Ausgewählte Werke, hg. v. Edel Miriwa-Florin. Berlin 1989.

Forschungsliteratur:

Ulrike Hepp: Untersuchungen zur Psychostilistik am Beispiel des Briefwechsels Rilke – Cvetaeva – Pasternak. Wiesbaden 2000.

Michael Makin: Marina Tsvetaeva. Poetics of Appropriation. Oxford u.a. 1993.Viktoria Schweitzer: Tsvetaeva, üb. v. Robert Chandler/H.T. Willetts. London 1993.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz