Prärie der Heimatlosen

Ein Western, so herb wie das Land: Tommy Lee Jones hat Glendon Swarthouts Roman „The Homesman“ verfilmt

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Heimat und Zuhause – im Englischen sind sie in einem einzigen Wort vereint: Home. Nichts schenkt mehr Sicherheit und begründet ein tieferes Vertrauen als die Gewissheit, irgendwohin wirklich zu gehören. Ein Heim, eine Heimat zu haben. Eben solch eine geographische wie emotionale Garantie fehlte den Pionieren, die im 19. Jahrhundert in den nordamerikanischen Westen vordrangen, um dort zu siedeln. Später wurde diese Ära durch die Kunst, speziell den Film als ’Wild West’-Epoche verklärt. Die Realität hingegen sah ganz anders aus. Sie war unerbittlich hart. Zu hart für jene, die eine fragile Seele hatten.

Nebraska, vor rund 150 Jahren: In einer winzigen Grenzstadt haben drei Frauen (Miranda Otto, Grace Gummer, Sonja Richter) ihren Verstand verloren. Zermürbt von Einsamkeit, familiären Verlusten, barbarischen Ehemännern, kurz: von der Anti-Zivilisation. Mary Bee Cuddy (Hilary Swank), eine alleinstehende, robuste Farmerin, erklärt sich bereit, die drei nach Iowa zu bringen, wo eine Methodistengemeinde sich um sie kümmern will. Als Begleiter verpflichtet sie den Herumtreiber Briggs (Tommy Lee Jones), dem sie kurz zuvor das Leben gerettet hat. Auf dem Treck gen Osten wird klar, dass Bedrohungen wie Indianer, Hunger oder Kälte auch zur persönlichen Grenzerfahrung werden können, die das eigene Dasein in Frage stellen. Davor kann sich nicht jeder in den Wahnsinn flüchten. Manche wählen Endgültigeres.

Keine Mythen

Kein Genre dürfte so oft für tot erklärt worden sein wie der Western. Und kein Genre hat so regelmäßige wie fulminante Wieder- und Neubelebungen erfahren. Tommy Lee Jones ist als Darsteller und Regisseur mit dem Genre bzw. dessen Abwandlungen verbunden. 1988, als es keinen Serienhype wie heute gab, spielte er schon in der großartigen, authentischen TV-Westernsaga „Lonesome Dove“. Seine erste Kino-Regie „The Three Burials of Melquiades Estrada“ (2005) wiederum beeindruckt als innovativer Neo-Western. Mit dem lakonisch-ruhig erzählten, sperrigen „The Homesman“ geht er nun scheinbar zu den Ursprüngen des Genres zurück, nämlich der Konfrontation zwischen Individuum und Wildnis. Doch wie die Protagonisten entgegen der traditionellen ’Go West’-Route reisen, weichen auch ihre Charaktere von den vertrauten Western-Klischees ab.

Sich selbst inszeniert Tommy Lee Jones als gesetzlosen, ungehobelten Taugenichts mit Tendenz zur Lächerlichkeit. Bei seinem ersten Auftritt rennt er rußgeschwärzt und gewandet in einen ’Long John’ aus einer Hütte; während seiner zweiten Szene bekommt er einen peinlichen Heulkrampf. Das sind also die Männer, auf denen der Gründungsmythos der U.S.A. beruht! Briggs besitzt zwar Outdoor-Qualitäten, freilich nicht das Charisma eines aufrechten Westerners wie John Wayne oder das ehrfurchtgebietende Format eines Clint Eastwood. Dieser Typ ist zunächst vor allem seinem eigenen Vorteil verpflichtet. Sogar als er Rache nimmt für ein an den drei verrückten Frauen begangenes Unrecht, ist das ein grimmiger Akt ohne mythische Überhöhung.

Ganz anders wirkt dagegen Mary Bee, die Hilary Swank eindrucksvoll zwischen spröder Entschlossenheit und beherzter Mildtätigkeit oszillieren lässt. Mary Bee ist diszipliniert, gottesfürchtig, rechtschaffen und träumt von Bäumen und einem Klavier. Beides hatte sie in ihrer Heimatstadt New York. Gleichwohl versucht sie auch in Nebraska, ein Maß an Kultiviertheit zu wahren, wovon saubere Tischdecken und kleine Blumensträuße im Haus zeugen. Nur einen Ehemann konnte sie, die sehr einsam ist, trotz ihrer erfolgreich geführten Farm nie finden. Sie gilt nämlich als ’bossy’. Im Wilden Westen jedoch sollen Pioniersgattinnen besser nicht(s) denken. Und schon gar nichts bestimmen.

Keine Helden

Ohnehin sind die Frauen beim ’nation building’ von der Geschichtsschreibung und später vom Kino vernachlässigt worden. Im Gegensatz zu Männern, gerne als ikonographische ’Mountain Men’, Revolverhelden, Sheriffs oder Cowboys gefeiert, wurden weder ihre Taten noch ihre Leiden als legendenwürdig betrachtet. Filme wie „Westward the Woman“ (1951; Hauptdarsteller ist freilich Robert Taylor) oder „The Missing“ (2003; mit Cate Blanchett und Tommy Lee Jones) bilden nach wie vor Ausnahmen. Umso bemerkenswerter, dass „The Homesman“, der keineswegs ein feministischer Western ist, drei Frauen, auch noch mental und emotional zerbrochene, in den narrativen Fokus stellt. Sie sind nie Mittel zur Handlungsmotivation, vielmehr echte, zwischen brutalen Lebensumständen und ebensolchen Gatten aufgeriebene Menschen. Fragmenthafte Rückblenden enthüllen ihr trostloses Schicksal, den körperlichen Missbrauch durch Männer, den geistigen durch Ödnis und Isolation, den seelischen durch das Sterben ihrer Kinder. Darüber sind sie verstummt, katatonisch oder unberechenbar aggressiv geworden. Beinahe erleichtert lassen ihre Ehemänner sie ziehen.

Regie und Drehbuch behandeln sie indes mit Respekt, sind sie doch ein Teil des (viel zu?) hohen Preises, der für die Eroberung des Westens gezahlt wurde. So schnörkellos und unsentimental Tommy Lee Jones zu inszenieren weiß, so sehr legt er Wert auf die kleinen Momente der Achtung. Ganz vorsichtig wäscht Mary Bee die drei nackten Frauen in einem Fluss; und einmal gibt sie der Puppe, die eine der Frauen als Ersatz für ihre an Diphterie verstorbenen Kinder herumschleppt, mit einem Fingerhut Wasser. Eine eigentlich nutzlose Tat, aber eine zutiefst berührende Geste des Mitgefühls.

Letzteres ist ein ebenso kostbares wie seltenes Gut in einer Zeit des Durch- und Standhaltens, die kein soziales Netzwerk für die vom unbarmherzigen Dasein Geschwächten kennt. Humanes Handeln bleibt eine individuelle Gewissensfrage, von Mary Bee zugunsten eines Pflichtgefühls für andere beantwortet. Eigentlich ist sie der titelgebende ’Homesman’, gewissermaßen einer, der Heimat für sich und andere schafft. Briggs hingegen gefällt sich als Drifter. Erst in der Konfrontation mit Mary Bee, teils von einem Humor so staubig und trocken wie die Prärie geprägt, lernt er Verantwortung.

Keine Legenden

Der dem Film zugrunde liegende Roman stammt von dem amerikanischen Schriftsteller Glendon Swarthout (1918-1992), der unter anderem auch die Vorlage für John Waynes letzten Leinwandauftritt, den Spätwestern „The Shootist“ (1976), lieferte. „The Homesman“ (1988) wiederum überzeugt als zwar stilistisch konventionelle, dafür rau-lebensnahe und bildhaft-klare Story, die (Groß-)Mut auf schmucklose Weise würdigt, gleichzeitig seziert. Tommy Lee Jones, Kieran Fitzgerald sowie Wesley Oliver haben daraus ein karges, tendenziell düsteres Drehbuch gemacht, das in der Tradition klassischer Westerndramen steht und dennoch völlig eigene Wege einschlägt.

Tatsächlich bedient sich „The Homesman“ typischer erzählerischer Standards, nur um sie allesamt abzuwandeln oder gleich zu negieren. Ein Indianerüberfall etwa ist schon erledigt, bevor er überhaupt begonnen hat. Eine Prügelei unter Männern wird kurzerhand von einer Frau entschieden. Die Naturgewalten sind zwar präsent, werden allerdings nie ausgestellt. Damit nähert sich das Genre einem authentischen Realismus, verweigert sich gleichzeitig jeglicher Westernromantik oder Mythenbildung. Die Extremsituation ist hier das Leben selbst, die Herausforderungen des ’Alltags’ – wenn man den Kampf der amerikanischen Siedler denn so bezeichnen möchte – sind bereits dramatischer Höhepunkt. Nur die phantastische Kamera von Rodrigo Prieto (u.a. „Brokeback Mountain“) beschwört noch einmal die Faszination des Weste(r)ns herauf. Cinemascope-Bilder der bis zum Horizont reichenden Great Plains, Supertotalen eines über zwei Drittel der Leinwand einnehmenden Himmels, Panoramaeinstellungen der weiten Landschaft im Sonnenuntergang lassen Freiheit und Fremdheit eins werden: eine Feier erhabener, minimalistischer Schönheit.

Doch die Filmmusik von Marco Beltrami, die sich orchestral an dieses gewaltige Territorium schmiegt, geht immer wieder in frappant verfremdende Soundeffekte über. Tragisches kündigt sich an. Sobald die Handlung eine geradezu schockierend unerwartete Wende nimmt, ist die traurige Wahrheit über den Westen endgültig enthüllt: Das Einzelschicksal des Menschen bleibt unvollendetes Beiwerk im Weltenlauf, die Taten eines Individuums sind im Wind der Prärie verweht. Selbst ein für die Toten angefertigter Grabstein wird achtlos in den Fluss geworfen. Die Erinnerung ist entschwunden, die Legenden übernehmen ihren Platz. Und Heimat wurde von den meisten nie gefunden.

„The Homesman“ (USA 2014)
Regie: Tommy Lee Jones
Darsteller: Hilary Swank, Tommy Lee Jones, Miranda Otto, Grace Gummer, Sonja Richter
Ab 18.12. im Kino

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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