Wie ein herrenloser Hund

Kindheit als Sozialdrama: „Jack“ ist ein erschreckend authentischer, zugleich tiefbewegender Film über einen vernachlässigten Jungen in Berlin

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Er könnte ein ganz normaler 10-Jähriger sein mit dem ausgeleierten T-Shirt, den Bermudas, dieser roten Sportjacke und den zertretenen Schuhen. Aber in seinen Augen liegen zuviel Ernst, Schmerz und Verlorenheit für sein Alter. So blicken nur jene, die vielleicht Zuneigung, aber keine Fürsorge kennen. Die zu klein sind für die unerhörte Last, die das Dasein ihnen aufbürdet.

Jack (Ivo Pietzcker) lebt mit Mutter Sanna (Luise Heyer) und jüngerem Halbbruder Manuel (Georg Arms) in einer heruntergekommenen Berliner Mietwohnung. Den Vater kennt er nicht, die Mutter ist zu jung und verantwortungslos, um für ihre Kinder zu sorgen. Also schmeisst Jack den Alltag, bis ein häuslicher Unfall das Jugendamt eingreifen lässt. Jack muss in ein Heim. Bedrückt wartet er auf die Sommerferien, um zu seiner Familie zurückzukehren. Als die Mutter ihn jedoch kurzfristig vertröstet und er während eines Streites einen Mitbewohner verletzt, läuft Jack weg. Zuhause ist niemand, weshalb er seinen Bruder bei einer Freundin abholt, um gemeinsam nach der Mutter zu suchen. Tagelang streifen die Jungs durch die Stadt, allein gelassen in und von der Welt.

Unter dem Radar

Der knappe Filmtitel ist gewissermaßen dramaturgisches Programm. Konsequent wird die Binnensicht von Jack eingenommen, es gibt keine Szene ohne ihn. Eine soziologische oder psychologische Ausdeutung der Lage fehlt ebenso wie explizite Gesellschaftskritik. Das macht „Jack“ zu einem buchstäblich ’starken Stück’, ist doch die quasi-dokumentarische Darstellung einer sozialen Verwahrlosung in dieser sachlich anmutenden Radikalität bereits Botschaft und Kommentar zugleich. Völlig zu Recht wurde der außerordentliche Film in den Wettbewerb der diesjährigen Berlinale eingeladen.

Regisseur Edward Berger und Nele Mueller-Stöfen haben ein präzis konzentriertes, nuanciert tiefenscharfes Drehbuch jenseits von Klischees verfasst, das sich nicht durch Sentimentalität auf die Seite von Jack schlägt, sondern über ehrliche Aufmerksamkeit. Indem die Geschichte auf temporärer wie affektiver Augenhöhe des Jungen bleibt, wird aus Wahrheit langsam Wahrhaftigkeit, aus Teilnahme an seinem Schicksal schließlich Anteilnahme. Da hätte es der ohnehin nur wenige Male eingesetzten Filmmusik überhaupt nicht mehr bedurft. Selbst die Kamera von Jens Harant begibt sich auf die niedrigere Position von Jack. Als der einmal durch einen Underground-Club irrt, werden den ihn umgebenden Erwachsenen optisch die Köpfe abgeschnitten. Kein Zufall, ist doch ein Junge wie Jack für sie unsichtbar. Seine Einsamkeit, seine Hilf- und Heimatlosigkeit, ja dieses Herausgefallensein aus familiärer Geborgenheit bzw. gesellschaftlicher Obhut machen ihn zu einem Outlaw. Freilich zu einem ungeheuren tapferen mit unerschütterlicher Kraft.

In ständiger Hetze 

Wenn Jack durch Berlin streift, ähnelt er einem ausgesetzten Hund. Er lebt nur im bzw. für den Moment. Sein pragmatischer (Über-)Lebenswille hält ihn am Laufen, sein physisches wie emotionales Unbehaustsein macht daraus eine Hetze. Eingefangen wird dies in Plansequenzen, die Echtzeit imitieren. Immer ist Jack am Rennen und Schnaufen, unermüdlich setzt er seine Suche fort, ständig muss er Mut für zwei aufbringen. Denn sein kleiner Bruder ist total auf ihn angewiesen, eine Verpflichtung, die der niemals klagende Jack mit Hingabe erfüllt. Tatsächlich besitzt er jenes Verantwortungsgefühl, das seiner liebevollen, aber juvenilen, zwischen zahlreichen Männern, Partys und Gelegenheitsjobs haltlos herumstolpernden Mutter abgeht. Im Gegensatz zu solcher Instabilität denkt Jack permanent an Andere. Zärtlich streicht er Manuel übers Haar, wenn sie in einem verlassenen Autowrack zur Nachtruhe kommen. Und als er einmal ein Fernglas stiehlt, ist selbst das ein echter Freundschaftsdienst.

Der kleine/große Hauptdarsteller Ivo Pietzcker macht aus dieser sozialrealistischen Studie ein Charakterdrama. Die traurige Ernsthaftigkeit seiner Figur geht mit jener speziellen, eindringlichen Würde einher, die nur Kindern manchmal zu eigen ist. Vor allem dann, wenn ihnen keine Kindheit zugestanden wird. Jack lächelt fast nie, und nur einmal gestattet er sich ein paar Tränen, während sein Bruder schläft. Als der erwacht, ist Jack schon wieder in seine übergroße Rolle als Beschützer geschlüpft.

Auf dem Weg

Genaue Beobachtungsgabe und Einfühlungsvermögen machen „Jack“ zu einem stillen Meisterwerk. Mit ihrer unaufdringlichen Direktheit, die sich vom Sujet nie eine Ablenkung erlaubt und auch dem Zuschauer keine Abschweifung zubilligt, spürt die Inszenierung einem gesellschaftlichen Problem nach und lässt es anhand eines Einzelfalls zur leisen Tragödie werden. Die bekommt so gut wie keiner mit, weil alle Erwachsenen, denen Jack begegnet, mit sich selbst beschäftigt sind. Sogar seine Mutter. Als Jack sich darüber endgültig klar wird, trifft er eine schwerwiegende Entscheidung für sich und seinen Bruder. Aber es ist die einzige, die etwas wie Hoffnung verspricht.

Jack, dessen ständige Anspannung sich als narrative Spannung der Handlung einschreibt, lebte bislang konsequent in der Gegenwart ohne Blick nach vorne. Anders hätte er dem Druck auch nicht standhalten können. Seine viel zu früh gewonnene Lebenserfahrung macht ihm aber die Aussichtslosigkeit dieser Situation bewusst. Er lässt los und geht. Das ist kein Happy-End, doch eine Chance auf Zukunft. Wenn schon keiner an ihn denkt, muss er es eben selbst machen. Sein letztes Wort ’Jack’ führt ihn zum ersten Mal auf die eigenen Bedürfnisse, auf die eigene Person zurück. Auf einen Jungen mit viel zu großer Belastung, der nur eine einzige Sache dagegen setzen konnte: ein (viel zu) großes Herz.

„Jack“ (Deutschland 2014)
Regie: Edward Berger
Darsteller: Ivo Pietzcker, Georg Arms, Luise Heyer, Odine Johne
ab 9.10.2014 im Kino

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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