Tyrannenmord und Widerstandsrecht

Das letzte Werk des Literaturwissenschaftlers Walter Müller-Seidel: „Friedrich Schiller und die Politik“

Von Gert SautermeisterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gert Sautermeister

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Klassik Friedrich Schillers – das war für Walter Müller-Seidel seit jeher ein Feld wissenschaftlicher Selbsterprobung, aber auch ein Medium eigenen Bewusstseinswandels. Seit seiner Schiller-Dissertation im Jahre 1949 bis zu seiner Schiller-Monographie von 2009, die ein Jahr vor seinem Tod erschien[1], zählt dieser Schriftsteller zu seinen bevorzugten Lektüre- und Forschungsgegenständen. In einer Vortragsreihe mit dem Titel „Dichter, den ich meine“ in der „Bayerischen Akademie der Wissenschaften“ hat sich Müller-Seidel 1996 erinnert an seinen „jahrzehntelangen Umgang mit dem Werk Schillers, die wiederholte, durch Forschung, Lehre und Liebhaberei bedingte Einkehr bei ihm“[2] und im Laufe des Vortrags hat er einen der Gründe für seine Liebeserklärung hervorgehoben: dass die „Moderne im deutschen Sprachgebiet“ insbesondere in Schiller „ihren Ursprung“ habe.[3] Manche Überlegung aus diesem Vortrag wie auch aus anderen Schiller-Aufsätzen Müller-Seidels haben in sein letztes Werk Eingang gefunden – und dennoch ist es ein Werk sui generis, mit unverwechselbarem Profil, interdisziplinär, aufklärend und bekenntnishaft, vielerorts einer terra incognita zugewandt.

I

Eine Schlüsselerfahrung Müller-Seidels ist die Entdeckung, wie nachhaltig Schiller während der Französischen Revolution durch die Hinrichtung Ludwig XVI (1793) und anderer revolutionärer „Blutexzesse“ erschüttert wurde, wie nachdrücklich dieses Erlebnis seine Korrespondenz prägte, aber auch seinen Blick auf die Zeitgeschichte wach hielt und sein dramatisches Schaffen beeinflusste.

Sichtlich bewegt von dieser Entdeckung, widmet sich der Autor der Frage, inwiefern Schillers politische Erschütterung einem übergreifenden Allgemeininteresse in seiner eigenen Zeit korrespondiert. Welche Stellung, so lautet die Frage, beziehen repräsentative Geister der Zeit, Kant und Kantianer wie Friedrich von Gentz oder unabhängige Intellektuelle wie Johann Benjamin Erhard zum Tyrannenmord? Von diesem zeitphilosophischen Befund ausgehend, schreitet Müller-Seidel zu einem gedanklichen Dreischritt fort. Er verallgemeinert sein Thema in Gestalt einer kurzgefassten Theoriegeschichte über Tyrannenmord und Widerstandsrecht von Plato und Aristoteles bis zu Macchiavelli und John Locke; er konkretisiert sodann dieses Panorama staatsrechtlicher und politischer Theorien durch die Verknüpfung mit Werken der europäischen Literatur, beispielsweise dem Drama Shakespeares, und er verleiht schließlich dieser Konkretion eine Schiller-spezifische Wendung, indem er an dessen klassischen Balladen paradigmatisch sein Thema erläutert.

Dieser Dreischritt gliedert Müller-Seidels Gedankenfolge rhythmisch und setzt dergestalt Akzente im Gedächtnis des Lesers. Mehr noch: Indem Schillers Auseinandersetzung mit dem Tyrannenmord im revolutionären Frankreich als eines der Grundprobleme europäischer politischer Theorie transparent wird, kann der Leser zwanglos seinen Wissens- und Bildungshorizont erweitern. Er hat die Chance, das „Weltereignis einer Hinrichtung“, wie Müller-Seidel das unerhörte Geschehen in Frankreich nennt (S. 9), in seiner Genese analytisch nachzuvollziehen. Es entspricht, so scheint mir, dem politischen Bildungsinteresse des Autors, dass er das in Frage stehende Problem bis zu seiner modernen Erscheinung im Nationalsozialismus verfolgt. Wenn Müller-Seidel im Hinblick auf Carl Goerdeler und Dietrich Bonhoeffer bemerkt, dass sie, Gerhard Ritters These zufolge, die „Widerstandspflicht des Christen“ im Dritten Reich verfochten haben (S. 41), so bringt er damit auch eine persönliche lebensgeschichtliche Erfahrung zum Ausdruck.

II

Müller-Seidels zeitpolitische und philosophiegeschichtliche Eingangskapitel begründen die Fragestellung seiner anschließenden Dramenanalysen. Ich beziehe mich vor allem auf einige Werke aus Schillers klassischer Epoche, „Wallenstein“, „Maria Stuart“, „Die Jungfrau von Orleans“ und „Wilhelm Tell“, verweise aber vorweg auch auf die „Räuber“, die Schillers frühzeitiges Interesse an der Thematik des Tyrannenmords bekunden.

Auffällig ist die einlässliche Diskussion des Forschungsstandes, die Müller-Seidel von Werk zu Werk entwickelt. Angesichts der viel beklagten Fülle an Publikationen ist das wahrlich keine Selbstverständlichkeit, zumal nach der reichen Ernte des Schiller-Jahres von 2006. Müller-Seidel hält in diesem Punkt an einem Ethos fest, das auch seine Tätigkeit als Lehrer prägte. Neue Wege, so besagt dieses Ethos, eröffnen sich zwingend nur im engen Kontakt mit bereits Erforschtem. So reicht seine Rezeptionsgeschichte der „Räuber“ bis in die Weimarer Republik zurück, wobei die auf der Theaterbühne erprobten revolutionären Deutungen des Stücks sich scharf abheben von späteren, literaturwissenschaftlichen Interpretationen, die etwa das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn zum Dreh- und Angelpunkt des Schauspiels erheben. Als kennzeichnend für das von Schiller entwickelte Gesellschaftsbild der „Räuber“ hebt Müller-Seidel das tyrannische Machtbegehren des Franz Moor hervor. Es basiert auf einer Körper- und Seelenkunde, deren neueste Erkenntnisse er zur Tötung des eigenen Vaters einsetzt. Insofern nimmt er, Müller-Seidel zufolge, den Werte-Nihilismus Nietzsches vorweg und ist Vorläufer des „literarischen Nihilismus im 19. und 20. Jahrhundert“ (S. 75). Moderne Züge dieser Art im Drama Schillers freizulegen, gehört zu den Erkenntnisinteressen Müller-Seidels. –

Für die Katastrophe, die der Tyrann Franz Moor verschuldet, büßt er durch Selbstmord. Dessen Ursache ist die Last des peinigenden Gewissens, die der Pastor Moser ihm aufbürdet. Darin spiegelt sich offensichtlich Schillers Stellung zum Problem einer Tyrannis, die sich jeder moralischen und religiösen Legitimität beraubt hat – und gerade deshalb von religiöser Gewissensmacht hingerichtet wird, nicht etwa durch physische Gewalt. Bei dieser beruhigend anmutenden Theodizee lässt es Müller-Seidel keineswegs bewenden, er lässt sie vielmehr in Anthropologie übergehen. In Anthropologie? Ja, insofern er die Anmaßung der Macht verallgemeinernd als „Machttrieb im Menschen“ auffasst (S. 84), „als das Tyrannische in uns“ (ebd.). „Kein Wertesystem der Welt“, so sein abschließendes Resümé, „bleibt von diesem Trieb verschont. Glaube, Kunst und Wissenschaft können in den Sog dieses Triebs geraten.“ (ebd.) Hier äußert sich eine weitreichende Skepsis, die in eine existentielle, den Leser herausfordernde Fragestellung mündet.

Es zeichnet Müller-Seidels Interpretation der „Räuber“ aus, dass sie auch unterschätzte und verkannte Nebenfiguren wie Spiegelberg und Amalia würdigt, deren Existenz er als die von sozial „Ausgegrenzten“ in einer „gespaltenen“ Gesellschaft begreift (S. 71f.). Es zeichnet seine Figurenanalyse ferner aus, dass sie die ältere Forschungsthese von der grundlegenden Verschiedenheit der Brüder Moor souverän zurückweist, aber auch die neuere Auffassung ihrer weitreichenden Verwandtschaft behutsam differenziert.[4] – Angesichts der Idee des geschichtlichen „Wandels“, die Müller-Seidel wiederholt für Schillers Schaffen namhaft macht (vgl. S. 133), scheint es mir sinnvoll, diese Idee auch auf die Entwicklung der Brüder selbst zu beziehen. Auf diese Weise kann ihre Sozialisation mit ihren verheerenden Folgen transparent werden. Wenn Karl Moor die von seinem jüngeren Bruder angeblich auf Geheiß des Vaters verfasste schriftliche Verstoßung aus der Familie unreflektiert für bare Münze hält, wenn er darauf mit Todeswünschen gegen den Vater reagiert und als Rache eine Räuberbande ins Leben ruft, deren despotischer Anführer er wird: so spiegeln sich darin seine Erziehung und sein privilegierter sozialer Status. Verwöhnt vom Liebesüberfluss seines Vaters und seiner Umwelt, von den Vorrechten, die er als erstgeborener Sohn genießt, schließlich auch von der Gunst der „Natur“, der er seine einnehmende Gestalt verdankt, ist er Liebesentzug nicht gewohnt. Narzisstisch gekränkt, überlässt er sich gedankenloser Raserei und dehnt, nach Schillers Wort, seine „Privaterbitterung“ despotisch zum „Universalhaß“ aus. Der Lieblingssohn und Familienerbe wandelt sich zum Vater-Rebellen und Räuberhauptmann.

In spiegelbildlicher Umkehrung zur Sozialisation Karls hat Schiller die des jüngeren Bruders entworfen. Franz Moor erleidet — als hässlicher Zweitgeborener — die Ungunst der Natur, der sozialen Umstände und der Familie. Von väterlicher Liebe vernachlässigt, konnte er eigene „Liebenswürdigkeit“ nach eigenem Bekunden kaum entwickeln und wurde zwangsläufig zum Konkurrenten des von Liebe überschütteten älteren Bruders. Er bildete, kompensatorisch zu seinem Leiden an familialer und sozialer Benachteiligung, eine unterkühlte Denkkraft aus, die ihn zu einem Schreckbild bürgerlichen Konkurrenzwesens macht. Um den Vater aus der Welt zu schaffen und sich an die Stelle des Bruders zu setzen, missbraucht er kalkuliert die aufgeklärte Psychologie und Heilkunde seiner Zeit zum Zweck der Gewaltherrschaft. Er greift dem modernen totalitären Experiment einer Gewaltherrschaft durch pervertierte Wissenschaft vor, um sich einen Ersatz für versagte Anerkennung und Liebe zu verschaffen. – Das prononcierte Interesse Müller-Seidels am geschichtlichen Wandel und an den „Wandlungen“ der Hauptfiguren Schillers, das er den klassischen Dramen entgegen bringt, kann auch maßgebliche Figuren des Frühwerks erhellen, namentlich aus der Perspektive einer folgenreichen, die Entwicklung eines Menschen offenlegenden Sozialisation. Und es kann die „modernen“ Züge in den Räubern ergänzen, zumal im Hinblick auf Franz Moor, der sich vom vernachlässigten Stiefsohn zum wissenschaftlich operierenden Gewaltherrscher wandelt, ehe er von seiner christlichen Erziehung und dem religiösen Zeitgeist eingeholt wird.

III

„Wallenstein“

Es entspricht dem erwähnten wissenschaftlichen Ethos Müller-Seidels, dass seine Deutung der „Wallenstein“-Trilogie, vielleicht des bedeutendsten deutschen Geschichtsdramas, ihren Ausgang von der neueren Wallenstein-Forschung nimmt. So kann er die „partielle Rehabilitation“ (S. 122) des lange Zeit vorherrschenden düsteren Wallenstein-Bildes auf jene Umwertung beziehen, die Schiller selbst vorgenommen hatte, als er sich von seiner „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“ zur dramatischen Gestaltung des großen Feldherrn wandte. Angesichts der nach wie vor düsteren Zeichnung, die Peter-André Alt in seiner imponierenden Schiller-Monographie von Wallenstein entwarf, hat Müller-Seidels Gegenentwurf besonderes Gewicht. Die Herausforderung der philologischen Forschung besteht unter anderem darin, dass der Verfasser das historische Drama und seinen Protagonisten energisch in der Zeit um 1800 verankert, so zielgerichtet und einlässlich, wie dies bislang noch nicht geschehen war. Es sind namentlich zwei Ideen Wallensteins, die Müller-Seidel auf die politische Situation Deutschlands und der europäischen Verhältnisse um 1800 offensiv bezieht: die Idee eines Reiches, das anstelle von Fremdherrschaft auf nationale Selbstbestimmung pocht, und die Idee des Friedens, die Wallenstein ursprünglich vertritt und die namentlich sein jugendlicher Weggefährte Max Piccolomini verkörpert: Angesichts des von Napoleons Kriegen und von unsoliden Friedensschlüssen gepeinigten Europa zeichnet sich hier die zeitpolitische Signatur des Dramas ab. Solange die Forschung, wie Müller-Seidel schreibt, „mit der individuellen Person Wallensteins befaßt“ war ( S. 132), konnte die „Zeitgeschichte“ kaum Profil gewinnen (ebd.). Während die Schiller-Forschung den „Charakter“ Wallensteins vorzugsweise in wechselnden Festlegungen umkreiste, richtet Müller-Seidel den Blick auf die Wandlungen des Protagonisten (S. 132f.) – Wandlungen, die er als Analogon zum „Wandel in Geschichte und Gesellschaft“ begreift, wie er durch die Französische Revolution ausgelöst wurde (S. 133f.).

Zur Sprache kommt vor allem der „Bewußtseinswandel“ Wallensteins, den Müller-Seidel als einen „Erkenntnisprozeß“ versteht (S. 130). In diesem Prozess lassen sich, so seine These, „Stufen und Stationen“ ausmachen, die dem großen Feldherrn ein höheres Maß an „Menschlichkeit“ verbürgen als bisher angenommen wurde (S. 129f.). So einsichtsvoll diese Überlegung vom Finale des Dramas her ist, wenn Wallensteins bewegende Todesklage um Max Piccolomini anhebt, so setzt er selbst doch, scheint mir, seinem Bewusstseins- und Erkenntnisprozess beunruhigend enge Grenzen. Obgleich er im Monolog und Dialog das drohende Bündnis mit dem Reichsfeind, den Schweden, unnachsichtig kritisiert, verfällt er dennoch der Versuchung, dieses Bündnis letztendlich zu rechtfertigen und damit einen Bürgerkrieg im Reichsinneren auszulösen, der seiner ursprünglichen Friedensidee den Boden entzieht. „Ich muß Gewalt ausüben oder leiden“, so formuliert Wallenstein seinen tragischen Konflikt und entscheidet sich ‑ für die Gewalt. Die Gegengewalt freilich, die er erleidet, ein schäbiger Mord, ist der Größe seiner Persönlichkeit ganz und gar unangemessen. Dieser aus politischem Kalkül in Auftrag gegebene Mord entspringt kaltblütiger Staatsraison. Deren historische Wurzeln legt Müller-Seidel in einem staatsrechtlich orientierten Rückblick bloß. Er kann mit der Tradition der Staatsraison auch jene Tötungsexzesse verknüpfen, die Schiller als Auswuchs des revolutionären Geschehens in Frankreich wahrnahm. Die Wallenstein-Trilogie gewinnt so einen bislang unerkannten zeitpolitischen Charakter.

Als Gegenpol zum geschichtlich-dramatischen Verhängnis zeichnet Müller-Seidel das menschlich bezwingende Bild Theklas, der Geliebten Max Piccolominis, ein Bild, das durch Selbständigkeit und Eigenwilligkeit fesselt. Solchen von der Forschung bislang vernachlässigten Frauenbildern Schillers gilt auch in anderen Dramen das Interesse Müller-Seidels.

„Maria Stuart“ – „Die Jungfrau von Orleans“

Verfolgt man Müller-Seidels Analysen der klassischen Dramen, so fällt immer wieder Licht auf die “doppelte Optik der zeitlichen Bezüge” (S. 152), die im Medium vergangener historischer Ereignisse Schillers eigene Zeit kritisch spiegelt. Wirkt in dem Mord an Wallenstein das Entsetzen nach, das Schiller bei den ’mörderischen‘ Ereignissen im Umfeld der Französischen Revolution empfunden hatte, so ist diese Optik auch in “Maria Stuart” federführend, wenn dort vom “Königsmord” die Rede ist. Beredt entzieht Müller-Seidel den Deutungen dieses Dramas als eines “Läuterungsdramas” den argumentativen Boden und macht es transparent als ein “Drama der Rechtskritik”, einer Rechtskritik aus Schillers zeitgenössischer Perspektive: „In ‘Maria Stuart’ wird dem französischen Königsmord-Prozeß in literarischer Form der Prozeß gemacht. Im Gewand des historischen Dramas versteckt Schiller hochbrisante Zeitbezüge.” (S. 153) – So fällt denn auf die Rechtsprechung, der Maria Stuart unterworfen, und auf die Hinrichtung, zu der sie verurteilt wird, ein erhellendes und überraschendes Schlaglicht. Selbst ein mit dem Drama vertrauter Leser sieht sich mit der „doppelten Optik“ in eine bislang verdeckte „Geheimsprache” des Dramas eingeführt (ebd.), deren detaillierte Entzifferung ein Akt der Aufklärung ist und zugleich eine Quelle des Vergnügens für die Lektüre bildet.

Von den klassischen Dramen Schillers dürfte die „Jungfrau von Orleans“ das widersprüchlichste sein. Schillers Einfall, das Sendungsbewusstsein der Hauptfigur als religiöses darzustellen und ihm durch mancherlei Wunder, die Johanna vollbringt, den Anschein der Glaubwürdigkeit zu geben, birgt einige Klippen für den Interpreten, der gar noch das Liebesverbot für die Jungfrau als „göttlich“ akzeptieren soll, was doch der Bestimmung des Menschseins widerspricht. Es ist daher ein wegweisender Fingerzeig, wenn Müller-Seidel auf den „Synkretismus“ des Religiösen hinweist und seine Ungereimtheiten hervorhebt (S. 163), die zum Teil mehr dem naiven Figurenbewusstsein als der Intention Schillers geschuldet sind. Letztere lässt sich abermals als die „doppelte Optik der zeitlichen Bezüge“ bestimmen. Der im Frankreich des Hundertjährigen Kriegs spielende Kampf gegen die tyrannische Fremdherrschaft der Engländer wird auf zeitgenössischen deutschen Bühnen präsentiert: als Appell an die Deutschen, sich die Selbstbestimmung der Franzosen von damals zueigen zu machen und der aktuell drohenden französischen Fremdherrschaft entgegen zu treten.

Schillers geschichtlich-politische, von Müller-Seidel nachdrücklich offengelegte Paradoxie, dass für eine befristete Zeit unmenschliches Handeln nötig ist, damit die höhere Menschlichkeit der nationalen Selbstbestimmung möglich wird, verknüpft ideelle Zielsetzungen mit einer realistischen Sehweise. Eine derartige Paradoxie, so würde ich ergänzen, hat er auch der Erscheinungsweise Johannas eingezeichnet. Die Schönheit ihrer Schreckensgestalt ist bezwingend. Sie bannt damit den Feind und macht ihn kampfunfähig; so rächt sie zugleich die Schmach, die er ihren Geschlechtsgenossinnen angetan hat. Mit dem Auftreten Johannas entwirft Schiller auch einen Geschlechterkampf, der eine zeitgeschichtlich bedeutsame, noch patriarchale Konstellation in Zweifel zieht. Das spricht für die interessanten, noch unausgeschöpften Seiten des Dramas – und für die Polyvalenz seiner weiblichen Hauptfigur. Solche Polyvalenz zeigt Müller-Seidel an früheren Frauengestalten auf – an Amalia in den „Räubern“ und an Thekla in „Wallenstein“. Bei Johanna richtet sich sein psychologisches Interesse mehr auf den zeitgenössischen Prozess des „Sicherblickens“ (S. 168). Indem Johanna und ihr Feind, der Engländer Lionel, sich wechselseitig erblicken und davon „im Innersten getroffen“ werden (ebd.), verwandelt sich ihr Feindbild in Liebe und damit in den Appell zu menschlicher Selbsterkenntnis. Aus ähnlichen Vorgängen bei Kleist und E.T.A. Hoffmann schließt Müller-Seidel auf eine zeitgenössische „Poetik des Sicherblickens“ (ebd.); es sind „Wahrnehmungen des Unbewußten“ (S. 169), die im „Sicherblicken“ hervortreten. Diese Wahrnehmungen entwickelt Johanna in selbstgewählter Einsamkeit zur Erkenntnis ihrer bisherigen „Schuld“, die im „unmenschlichen“, wenn auch unvermeidlichen Töten des Feinds bestand (ebd.). Gleichwohl will der Schluss nicht recht überzeugen, den Müller-Seidel daraus zieht: dass dank dieser Erkenntnis der Kampf mit dem „Schwert“ und das „Tötungsgebot“ (…) keine Geltung mehr“ für Johanna besitzen (ebd.). Johanna greift ja erneut noch einmal zum Schwert und besiegt durch ihr wundersames Eingreifen das bedrohlich vordringende feindliche Heer, so dass Müller-Seidel zuletzt eine etwas andere, von tragischer „Schuld“ hinwegführende Erkenntnis formuliert: Johannas auf „Abschüttelung von Fremdherrschaft“ gerichteter Krieg mache aus ihr „am Ende eine eher heroische als tragische Gestalt, die in Fragen des Widerstands durch ihr Handeln Vorbild wird“ (S. 170), also auch durch das von ihr realisierte „Tötungsgebot“.

„Wilhelm Tell“

Obgleich der jakobinische Königsmord den übergreifenden Ausgangspunkt für Müller-Seidels Analysen der klassischen Dramen Schillers bildet, fördert er gleichwohl Werk für Werk Neues über Tyrannenherrschaft und Widerstandsrecht zutage. Schillers letztes vollendetes Drama „Wilhelm Tell“ wird in eine Perspektive gerückt, die den Leser überrascht und frappiert. Konventionen des Deutens und Interpretierens zu verabschieden, ist Müller-Seidels erklärtes Ziel – und Schillers populärstes Bühnenstück ist dafür ein ideales Demonstrationsobjekt. Haben nicht Interpreten vom Rang Hans Mayers die These vertreten, dass der jakobinische Königsmord durch Schillers Schauspiel und seinen Protagonisten eine literarisch-theatralische Rechtfertigung erhalten habe? (vgl. S. 207) So unüberhörbar jedoch in Schillers Drama Ideen der Französischen Revolution Eingang fanden, namentlich die Idee der republikanischen Selbstbestimmung eines Volkes, so unbestreitbar ist Müller-Seidel zufolge die Praxis der Eidgenossen bewusst antijakobinisch ausgerichtet. Sie vollzieht nämlich die Abschüttelung der habsburgischen Fremdherrschaft in der Schweiz ohne Blutvergießen. Es bedarf jedoch der blutigen Gewalttat eines Einzelnen, Wilhelm Tells, um das Ende der Fremdherrschaft zu besiegeln; es bedarf des von Tell ausgeübten Mords an dem Tyrannen namens Geßler. Müller-Seidel führt das Zeugnis eines namhaften Strafrechtlers an, der die von Tell vollzogene Tötung aufgrund ihrer bewussten Vorsätzlichkeit nicht als „Notwehr“, sondern in der Tat als „Mord“ einstuft, wenngleich als die legitime Ausübung eines „Widerstandsrechts“ gegen unmenschliche Fremdbestimmung (S. 200f.). Ist Tell trotz seines „Widerstandsrechts“ durch seine Tat „tragisch schuldig geworden“ (S. 203), und bleibt er von dieser Schuld für immer gezeichnet, wie Müller-Seidel geltend macht? Ironisch vermerkt er die interpretatorischen „Festgesänge“ derer, die den Protagonisten und die Eidgenossen insgesamt in eine höhere Idylle und den „ästhetischen Staat“ einkehren lassen. Stattdessen macht er auf das „Ungeheuerliche“ auch eines legitim scheinenden Tyrannenmords aufmerksam (S. 204). Ich habe selbst zu den ‚Festsängern’ des Tell-Finales gehört.[5] Beruhte Schillers Idee des „ästhetischen Staates“, so Müller-Seidels weitergehende Überlegung, nicht auf einer „ästhetischen Erziehung“ der Menschen, die von ihrer politischen Praxis jegliche Gewalt fernhalten und einzig und allein durch unblutige Reformen sich bewähren würden? Dann wäre das festlich schöne Schlusstableau des Schauspiels, das einen Tyrannenmord voraussetzte, nicht länger mit dem „ästhetischen Staat“ kongruent. (S. 204f.) Müller-Seidel macht das angeblich „leichteste“ und volkstümlichste Drama Schillers zu seinem „tiefsinnigsten und schwierigsten“; er deckt im Weimarer „Humanitätszeitalter“ „geschichtspessimistische“ Töne auf (S. 205) – und veranlasst dadurch seine Leser, Schillers Drama einer neuen Lektüre zu unterziehen und die „ultima ratio“ eines Tyrannenmords (S. 201) erneut zu diskutieren, anstatt sich in harmonisierenden „Festgesängen“ zu ergehen. Müller-Seidels Widerspruchsgeist, der aus hingebungsvoller Lektüre und fachübergreifenden Kontexten erwächst, ist das Salz der Schiller-Forschung, eine Verlockung zu neuen Kontroversen.

Es sind nicht allein Ideen der Französischen Revolution wie Freiheit, Selbstbestimmung und Brüderlichkeit, die in Schillers „Wilhelm Tell“ Eingang finden, es ist auch nicht allein die Thematik des Tyrannenmords, die dem Schauspiel zeitgeschichtliche Konturen verleiht, es ist nicht zuletzt der konkrete Bezug dieses Dramas zur „Helvetischen Republik“, der seine Geschichtlichkeit ausmacht. Entstanden 1797 als eine Nachbildung der Französischen Revolution, wurde die Helvetische Republik von Napoleon zunächst als freies Staatswesen anerkannt, dann im Zuge seines Expansionsdrangs von seinen Soldaten besetzt, ausgebeutet und schließlich 1803 ihrer Autonomie beraubt. Mit der Wandlung des Revolutionärs Napoleon Bonaparte zum Eroberer fremder Länder und zum Diktator wird der Kaiser der Franzosen auch zur verdeckten Zielscheibe des Dramas.

Napoleon Bonaparte

Für Müller-Seidel ist diese kritische Wendung des „Wilhelm Tell“ der Ausgangspunkt zu einer weitergehenden Präsentation des französischen Feldherrn aus der Perspektive Schillers. Ein schwieriges, heikles Unternehmen, nennt doch Schiller den großen Korsen absichtsvoll nie beim Namen. Er spielt auf ihn zwischen den Zeilen seiner Briefe an und bringt ihn verdeckt zur Erscheinung in den Vorgängen und Themen seiner Dramen. Die politisch dominierende Figur in Schillers Epoche muss gleichsam aus indirekten Zeichen und Allusionen erschlossen werden. Es kennzeichnet die interdisziplinäre Geisteshaltung Müller-Seidels, dass er dieses Verfahren der Erschließung in Anlehnung an die Jurisprudenz einen „Indizienbeweis“ (S. 212) nennt. Zwar ist ein derartiger Indizienbeweis in der frühen Schiller-Philologie erprobt, dann jedoch über längere Zeitstrecken ignoriert worden, erst in der neueren Schiller-Biographik, bei Peter-André Alt und Rüdiger Safranski, spielt er wieder eine (sporadische) Rolle. Diese nachlässige Rezeption veranlasst Müller-Seidel, einer rühmenswerten Ausnahme in der Forschungsgeschichte zu gedenken: jener DDR-Literaturwissenschaft, die seit den fünfziger Jahren die Napoleon-Kritik Schillers zu entziffern suchte. Daran zu erinnern, so Müller-Seidel, sei eine Sache „historischer Gerechtigkeit“ (S. 224); es handelt sich, so darf man hinzufügen, um eine noble Geste, auf diesem Weg eine gemeinhin geringgeschätzte Literaturwissenschaft ins Spiel zu bringen und sie gegenüber der geschichtsfernen „Werkimmanenz“ der Nachkriegsjahre aufzuwerten (S. 222).

Weiteres Gewicht erhält die kritische Präsentation der Napoleon-Gestalt aus dem Blickwinkel der „Gesinnungsfreunde“ Schillers (S. 227ff.): der Frau von Staël, Benjamin Constants und namentlich des Freiherrn von Gentz, des Kantschülers und späteren Diplomaten. Von ihm entwirft Müller-Seidel ein scharf umrissenes Porträt (S. 229ff.), ehe er Wilhelm von Humboldts Geistesverwandtschaft mit Schiller aufzeigt, in Form eines Essays, der in die These mündet, Schiller habe an der Seite Humboldts eine „Verlagerung“ der Weimarer Klassik nach Berlin im Sinn gehabt (S. 245), zumindest sei der Geist der Klassik produktiv in die Gründung der Berliner Universität eingegangen, und hier vor allem in das universitäre Bildungskonzept Humboldts. Darüber hinaus sei das preußische Reformwerk des Freiherrn von Stein, dem der Gedanke eines allgemeinen Widerstands gegen die napoleonische Fremdherrschaft zugrunde liege, mit Schillers Idee nationaler Selbstbestimmung in wesentlichen Zügen verwandt. Der seinen Wirkungskreis von Jena und Weimar nach Berlin ausdehnende Klassiker – ein faszinierendes, durch die tödliche Krankheit Schillers desillusioniertes Wunschbild!

Während Schiller in den „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“ der individuellen Selbstbestimmung Profil verleiht, gewinnt die Idee der „kollektiven“ Selbstbestimmung (S. 268) schon vor dem „Wilhelm Tell“ klaren Umriss in der „Jungfrau von Orleans“. Damit geraten Themen wie Vaterland, Patriotismus und Friedenssehnsucht ins Zentrum klassischer Dramen Schillers. Müller-Seidel zeigt nicht nur die republikanische Tradition dieser Themen auf, er macht auch die literarischen Zeugen dieser Tradition in Schillers Epoche namhaft: Wieland, Ernst Moritz Arndt, Kleist, E.T.A. Hoffmann (S. 272ff.). Mit ihrer Kritik an der tyrannischen Fremdherrschaft des nachrevolutionären Napoleon Bonaparte gesellen sie sich zwanglos zu den philosophisch-politischen „Gesinnungsfreunden“ Schillers, dem Freiherrn von Gentz und Wilhelm von Humboldt. Hölderlin hingegen erblickt im Feldherrn der Franzosen den Stifter einer neuen menschenwürdigen Ordnung. Müller-Seidel überlässt sich dem Vergnügen an literarhistorischen Digressionen und entwirft ein weitläufiges Panorama pro- und antinapoleonischer Zeugnisse um 1800. Während Hölderlin den charismatischen Feldherrn als „Friedensfürst“ feiert (S. 258), entzaubert ihn Schiller als Kriegsfürsten. Die Friedenssehnsucht als ein Ferment in Schillers utopischem Denken, wovon seine klassischen Geschichtsdramen zeugen, erfährt durch die napoleonischen Kriege eine tiefreichende Enttäuschung. Um 1800, als die schmählichen oder labilen Friedensverträge von Rastatt (1798) und Lunéville (1801) geschlossen werden, vertieft sich diese Enttäuschung Schillers zu einem „Geschichtspessimismus“ (S. 265), den Müller-Seidel mit deutlichen Konturen, ohne Konzessionen an hergebrachte optimistische Schiller-Bilder vergegenwärtigt. Seine unbeschönigte Darstellung dieser disharmonischen Spannung von Utopie und Geschichtspessimismus wird, so ist zu hoffen, ein Stein des Anstoßes für das Verständnis des späten Schiller sein.

IV

Mit den letzten drei Kapiteln seiner Monographie knüpft Müller-Seidel an die ersten drei an und aktualisiert sie. Erneut geht es um politische Philosophie und um theoretische Prämissen der Geschichtsschreibung, also um eine wissenschaftsgeschichtliche und wissenschaftskritische Beweisführung.

Es zeigt sich, dass die Rezeption der Dramen Schillers, insbesondere des „Wilhelm Tell“, von der Mentalitätsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts mitgeprägt wird. Eine Eigenart dieser Geschichte ist die Fixierung auf große Persönlichkeiten. Von Hegel und Ranke über Treitschke und Theodor Mommsen bis Max Weber sind politische Philosophie, Geschichtsschreibung und Soziologie daran interessiert, die historische Größe, heiße sie Julius Cäsar oder Napoleon, als treibende Kraft der Geschichte zu verklären, ganz gleich, welchen Antrieben, egozentrischen, amoralischen, machtbesessenen, tyrannischen, sie gehorcht. Parallel zu dieser Mythisierung der epochemachenden Größe erblickt Müller-Seidel, gestützt auf die einschlägige Forschung, in den Köpfen maßgeblicher Denker „einen Prozeß zunehmender Erblindung gegenüber dem Phänomen (…) des Tyrannentums und des Widerstandsrechts“ (S. 282), eine Erblindung, die gefördert wird durch die traditionelle Obrigkeits- und „Staatsfrömmigkeit“ in Deutschland (vgl. ebd.). Die Diagnose ist wahrhaft erhellend für den „deutschen Sonderweg“ in die politische Katastrophe des 20. Jahrhunderts (vgl. ebd.). Die erblindende Mentalität affiziert auch das Verständnis der Literatur. Müller-Seidel demonstriert an der Rezeptionsgeschichte des „Wilhelm Tell“ paradigmatisch das erlahmende Interesse an „Widerstandsrecht und Tyrannenmord“ (S. 286). Über den politischen Sprengstoff des Schauspiels wird durch Aufführungsverbote und durch Elimination aus den Lehrplänen der Gymnasien der Mantel des Schweigens gebreitet. Die Nationalsozialisten erspüren Schillers unversöhnlichen Widerstand gegen jede Form von Tyrannenherrschaft und setzen das Drama auf den Index. Angelangt an diesem Tiefpunkt der Rezeptionsgeschichte formuliert Müller-Seidel eine pointierte These. Der „Vergleich“ des vom Grafen Stauffenberg versuchten Attentats auf Hitler „mit der Tat Wilhelm Tells drängt sich auf“, lesen wir. „Beide Male hat man Grund, trotz Mord vom Ethos einer solchen Tat zu sprechen“ (S. 290). Vom „tragisch schuldig gewordenen“ Tell wie bei der Interpretation des Dramas ist hier nicht mehr die Rede. Müller-Seidels Optik hat sich um eine maßgebliche Nuance verändert – ein Bewusstseinswandel auch dies. Aus der Perspektive der neueren Geschichte und der deutschen Katastrophe haftet am tödlichen Widerstandsakt nicht länger die Schuld des „Blutvergießens“. Davon abgesehen, richtet sich Müller-Seidels Erkenntnisinteresse mehr und mehr auf den leidenden Menschen im Drama Schillers. Anders als die Geschichtsschreibung und die politische Philosophie des 19. Jahrhunderts stellte Schiller, so seine These, der epochemachenden politischen Größe kritisch die Opfer des geschichtlichen Prozesses entgegen. In dieser Hinsicht nehme Schiller die Perspektive Jacob Burckhardts vorweg, der großen Ausnahmeerscheinung unter den Historikern des 19. Jahrhunderts. Die „politische Macht herrschender Völker und Einzelner“, so Burckhardt, „sei erkauft worden durch das Leiden von Unzähligen“ (S. 304).

Zweifel an einer konsequenten humanen Ethik des Geschichte machenden Politikers sät Schiller schon im „Fiesko“, wo der Protagonist im Verlauf zweier Monologe dem „Verzicht“ auf politische „Größe“ das egozentrische Plädoyer für sie folgen lässt (S. 307). Zweifel an staatspolitischer Größe nährt Schiller auch im „Don Karlos“, wenn dort der Marquis Posa, ein für die Selbstbestimmung des niederländischen Volkes tätiger Republikaner, despotische Züge der Selbstherrlichkeit entwickelt, zum Nachteil seines Freundes Don Karlos (S. 308f.). Indem Posa für einige Zeit der Versuchung zu politischer „Größe“ anheimfällt, verrät er die „Größe des Menschlichen“, um Müller-Seidels antithetisches Begriffspaar zu verwenden (vgl. das Kap. IX „Zur Kritik menschlicher Größe“). Just diese befremdliche Wandlung Posas vertieft die „psychischen Störungen“, an denen Don Karlos aufgrund einer „krankmachenden Familienkonstellation“ seit jeher leidet – und die er sich selbst als Schuld zuschreibt (S. 311). An diesem Punkt betritt Müller-Seidel ein Feld, dessen Anziehungskraft auf ihn unverkennbar ist: das Feld der „Psychiatrie“ (ebd.), die dem Leiden in den Formen der Melancholie und der Schwermut zugewandt ist. Es ist der „Arzt im Dichter“, den Müller-Seidel mit Schillers Darstellung des Leidens heraufruft (S. 312), und es steht für ihn außer Zweifel, dass der in „Seelenkunde“ bewanderte Dramatiker seine „Solidarität“ (S. 310) mit den Opfern geschichtlicher und familialer Prozesse in weit höherem Maße bezeugt als mit den treibenden Kräften dieser Prozesse. An Maria Stuart, der schottischen Königin, demonstriere Schiller diese Solidarität ganz entschieden, sei sie doch ein Opfer englischer Staatsraison, auf der Elisabeth, die Königin Englands, zum Nachteil ihrer Menschlichkeit beharre, während Maria Stuart an „Größe der Menschlichkeit“ und an „Selbstbestimmung“ im Verlauf der Handlung gewinne (vgl. S. 314f.). Eben dieser Antagonismus von politischer Größe, die das Gesetz des Handelns selbstherrlich-tyrannisch bestimmt, und „Größe im Menschlichen“ (S. 321), die sich im Leiden bewährt, konstituiert den tragischen Vorgang im „Dramenwerk“ Schillers. Die „Unauflöslichkeit seiner Widersprüche“ ist es, die seine Signatur ausmacht (S. 324).

Müller-Seidel zieht aus diesem Befund weitreichende Schlüsse für die Humanitätsidee der Weimarer Klassik. Als konkretes Beispiel für die Überzeugungskraft dieser Idee führt Müller-Seidel ein Flugblatt der Geschwister Scholl an, das unter Berufung auf Schiller und auf seine Idee der freien Entfaltung aller menschlichen Kräfte zum Widerstand gegen die nationalsozialistische Staatsgewalt aufrief, die den Geist der Freiheit mit Haft im Konzentrationslager oder mit Tötung bedrohte. Widerstandskräftige Humanität, so Müller-Seidel, sollte nicht nur das Thema der Todesarten in sich aufnehmen, wie das in der Dichtung von bis Ingeborg Bachmann geschehen ist, sondern auch das der Tötungsarten(S. 334). Die Inhumanität eines Zeitalters muss integrales Element einer Kunst sein, die im bewussten Widerspruch dazu ihre humanen Gegenkräfte aufbietet. Sie setzt sich kritisch mit „Fehlentwicklungen“ auseinander, die bereits Schiller wahrnahm, unter anderem mit der wachsenden Rationalität des „wissenschaftlich-technischen Fortschritts“ (S. 340), aber auch mit der „Zurücksetzung psychisch Kranker“ und der Glorifizierung „großer Menschen“ oder mit dem „Sozialdarwinismus“ einer „modernen Erfolgsgesellschaft“ (S. 339). „Literatur“, so  resümiert Müller-Seidel, „erhält damit eine kulturpolitische wie kulturkritische Funktion, die Schiller in Ansätzen vorwegnimmt.“ (S. 137) In diesem Resümé kristallisiert sich die von sozialem und politischem Ethos durchpulste Bildungsidee Müller-Seidels. Sie mündet in eine Hoffnung, die Ausdruck findet in dem dringenden Wunsch Max Piccolominis, der den Untertitel dieser Monographie bildet: „Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe“.

V

Erlauben Sie mir abschließend einige Bemerkungen zur Darbietungsform dieses Schiller-Monographie. Sie ist auf abwechslungsreiche Weise unkonventionell. Anders als die hergebrachte wissenschaftliche Untersuchung bietet sie eine Pluralität von Darstellungsarten auf. Entsprechen faktisch-politische Berichterstattung und Werkanalysen mit kritischen Forschungsberichten durchaus den Gepflogenheiten literaturwissenschaftlicher Untersuchungen, so kennen diese nur ausnahmsweise den von Müller-Seidel erprobten Essay, der eine philosophisch-politische Theorie resümiert, oder den fachübergreifenden Dialog mit Werken der europäischen Literatur. Dazu gesellt sich eine Rezeptionskritik, die hier, wie das Beispiel „Wilhelm Tell“ zeigt, einen ungewohnt offensiven, auf politische Zuspitzungen zielenden Charakter gewinnen kann. Scharf umrissene Porträts wie das des Freiherrn von Gentz sorgen für die individuelle Engführung der wissenschaftlichen Argumentation, für ihre repräsentative Erweiterung sorgen ausladende literarhistorische Tableaus, wie das dem Mythos Napoleon gewidmete. Einen eigentümlichen Reiz besitzt der von Müller-Seidel geführte „Indizienbeweis“. Da Napoleon in zeitgenössischen literarischen Zeugnissen nie beim Namen genannt wird, erschließt Müller-Seidel die Gestalt des Feldherrn aus einer Kette von „Indizien“, ähnlich wie bei einer gerichtlichen Urteilsfindung. Von Fall zu Fall fordert ein bekenntnishafter Kommentar des Verfassers, der sein soziales und kulturkritisches Ethos bekundet, den Leser zur Stellungnahme auf: Tua res agitur.

Verschafft der Reichtum der Darstellungsarten dem Werk formale Vielfalt und Beweglichkeit, so bürgt eine kompositorische Eigenart für eine ausgesprochen dialogische Erkenntnisvermittlung. Müller-Seidels letztes Werk besitzt, so möchte ich es metaphorisch formulieren, den Charakter einer doppelten Stimmführung. Ist in den ersten drei Kapiteln die Stimme der philosophisch-politischen Theorie die Dominante, die des literarischen Werks hingegen eine Nebenstimme, so übernimmt mit den Dramenanalysen die literaturbezogene Stimme die Führung, während die theoretische Stimme als Begleiterin die Fragestellung mitträgt. Mit dem Auftreten Napoleons durchdringen sich die beiden Stimmen wechselseitig und verknüpfen das theoretische Thema des Tyrannenmords und des Widerstandsrechts mit literarischen Quellen. Die letzten drei Kapitel sind eine weiterführende Reprise der ersten drei. Erneut beansprucht die Stimme der politischen Theorie die Führung; sie handelt von der politischen Größe im neuen 19. Jahrhundert, eine kritisch kommentierte Größe, ehe kontrapunktisch dazu die Stimme des leidenden Menschen zur dominanten wird. Diese variable doppelte Stimmführung des Buchs ist geeignet, die dargestellten Erkenntnisvorgänge durch Wiederholung, Weiterführung und Verknüpfung dem Bewusstsein des Lesers einzuprägen.

Nachbemerkung des Verfassers: Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, den ich am 5. Juli 2014 an der LMU München bei einem Symposium zur Erinnerung an Walter Müller-Seidel gehalten habe. Die Vortragsform habe ich beibehalten. Dem Vortrag lag ein Brief zugrunde, in dem ich Walter Müller-Seidel für die freundliche Zusendung seines Buchs meinen Dank ausgesprochen habe. Nach Abschluss des Vortrags stieß ich auf eine vorbildliche und ausführliche Rezension des Werks, die ich zur Lektüre nachdrücklich empfehle. Wulf Segebrecht hat sie für das „IASL online“ verfasst.[6]

Anmerkungen:

[1] Walter Müller-Seidel: Walter Müller-Seidel: Friedrich Schiller und die Politik. „Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe“. München 2009.

[2] Walter Müller-Seidel: Schiller, Klassik und Modernität. In: Bayerische Akademie der Schönen Künste. Jahrbuch 10 (1996), S. 73-99; hier S. 73.

[3] Ebd., S. 75.

[4] Vgl. dazu Gert Sautermeister: Die Räuber. Ein Schauspiel (1781). In: Schiller Handbuch. Leben – Werk –Wirkung. Hg. v. Matthias Luserke-Jaqui. Stuttgart 2005/2011. S. 1-45.

[5] Gert Sautermeister: Dramatik und Idyllik im Werk Friedrich Schillers. Zum geschichtlichen Ort seiner klassischen Dramen. Stuttgart 1971.

[6] Wulf Segebrecht: Schiller – ein Dramatiker des Widerstands. (Rezension über: Walter Müller-Seidel: Friedrich Schiller und die Politik. „Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe“. München: C. H. Beck 2009.) In: IASLonline [26.01.2011].

Titelbild

Walter Müller-Seidel: Friedrich Schiller und die Politik. Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe.
Verlag C.H.Beck, München 2009.
400 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783406572845

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