To be, or not to be

Shakespeare war nicht Shakespeare, sondern ein anderer!? – „Anonymus“ (2011) macht aus einem literarischen Rätsel großes Kino

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Auf teils etwas zweifelhaften Nebenpfaden der akademischen Shakespeare-Forschung geistert seit über 150 Jahren die Idee herum, der gute alte Will, ein historisch verbriefter Schauspieler und Theaterbesitzer, wäre nicht Urheber der unter seinem Namen veröffentlichten Werke. Was manchen Anglisten in wissenschaftliche Schockstarre versetzt, ist als Theorie durchaus von Reiz. Vertreter jener These, sogenannte „Anti-Stratforder“, argumentieren hierbei gerne mit den seltsamen Brüchen in Shakespeares Biographie, der Tatsache, dass fast nichts Konkretes über sein Leben bekannt ist und es eigenartigerweise so gut wie keine Originaldokumente von ihm gibt. Dergleichen muss zwar nicht unbedingt etwas heißen, bietet allerdings Raum für Spekulationen – und ist geradezu eine Initialzündung für cineastische Phantasien à la ,Who’s Who’. Umso überraschender, dass erst der deutsche Regisseur Roland Emmerich kommen musste, um die Frage nach der Identität des bedeutenden englischen Dichters für die große Leinwand zu entdecken. Wer genau hinter dem Pseudonym ,Shakespeare’ stecken soll, ist freilich noch nicht entschieden. Zu den heißesten Kandidaten zählt der englische Aristokrat Edward de Vere (1550-1604), im historischen Thrillerdrama „Anonymus“ als wahrer Shakespeare enttarnt.

Er, der als Earl of Oxford (mit arroganter Attitüde und weicher Seele: Rhys Ifans) im elisabethanischen England gelebt hat, wird als ein getriebenes Genie präsentiert. Er schreibt, muss schreiben, weil, wie er einmal seiner verständnislosen Ehefrau erklärt, die Stimmen in seinem Innern erst dann schweigen, wenn er sie zu Papier gebracht hat. Da er allerdings seiner Adelsstellung und puritanischen Familie verpflichtet ist, kann er nichts von seinem Werk unter eigenem Namen veröffentlichen. Er bittet den Dichter Ben Jonson (wunderbar widerspenstig zwischen Verehrer und Verräter changierend: Sebastian Armesto), dies an seiner statt zu tun. Durch einen kuriosen Zufall wird aber der Schauspieler William Shakespeare (herrlich prahlerisch: Rafe Spall) als Verfasser der sich zu sensationellen Publikumserfolgen entwickelnden Theaterstücke gefeiert. Unterdessen gerät der Earl of Oxford in eine mörderische Palastintrige, die ihn zwingt, sich mit seiner delikaten Vergangenheit auseinanderzusetzen, war er doch einst Liebhaber von Queen Elisabeth I. und hat einen Sohn mit ihr.

„All the world’s a stage“

Der Film beginnt in der Gegenwart auf einer New Yorker Bühne, wo ein Sprecher (pure Theaterexzellenz: Derek Jacobi) Shakespeares geheimnisvolle Identität erörtert, bis die Kamera in das Geschehen hinter ihm in der Dunkelheit schwebt und sich sogleich auf den Londoner Straßen Anfang des 17. Jahrhunderts wiederfindet. Vom Prolog im 21. Jahrhundert zurück zur englischen Hochrenaissance: Dieser trickreiche Zeit- und Raumsprung offenbart Roland Emmerichs künstlerisch anspruchsvolle Intention: Der Mann, der sich auf die meisterhafte Zerstörung mit teils klugem Subtext („2012“ (2009); „The Day After Tomorrow“ (2004)) versteht, erzählt hier über das Theater, und er erzählt wie das Theater, das heißt, er bekennt sich zu üppiger Intimität. Die glänzende Feinheit der Ausstattung, des Lichtdesigns, der Mise-en-scène oder die phantastische Dramaturgie, all das atmet zwar auch echtes, stimmungsvolles Kino und wirkt doch nie demonstrativ oder ausgestellt. Stattdessen bereitet es einen ästhetisch belebten Raum für den wahren Meister von „Anonymus“: das Wort.

Dies gilt einerseits für das intelligent-spannende Drehbuch von John Orloff, andererseits für Sprache an sich. Wenn die Zuschauer im Globe Theatre derart mitgerissen vom neuesten ,Shakespeare’ sind, dass sie auf die Bühne stürmen, wenn Ben Jonsons Verachtung gegenüber den Werken eines adligen Schreiberlings in ungläubiges Staunen ob deren Vollkommenheit umschwenkt, wenn der Earl of Oxford sich eine Audienz bei der Königin dank seiner Versdichtung herbeischreibt, dann offenbaren sich Schönheit und Macht von Sprache in Reinform. Mit großer Lust sind jene Sequenzen ausgemalt, so als wollte man daran erinnern, dass die Feder tatsächlich mächtiger ist als das Schwert. Und nebenbei wird noch enthüllt, dass Shakespeare das Stagediving erfand. Der Autor als Rockstar!

„Such stuff as dreams are made on“

Inszenatorische Sorgfalt und eine wachsende dramatische Dynamik lassen „Anonymus“ scheinbar mühelos durch seine in zwei Zeitebenen aufgefächerte, komplexe Handlung gleiten, die vom Ende der Ära Elisabeths I. rund 40 Jahre zurückreicht. Stilvolle Eskorte findet diese fließend-konzentrierte Intensität im stimmigen Renaissance-Sound von Thomas Wander und Harald Kloser, dem weichen Schnitt von Peter R. Adams und Anna J. Foersters sanft-atmosphärischer Kamera. Ihr in dezentem Grau gefilmtes London ist zwar präsent und gelegentlich in schönen Totalen eingefangen, dient aber mehr als Hintergrund für ein fesselndes, dichtes Vexierspiel, das hauptsächlich im architektonischen wie politischen Innern stattfindet.

Eben dort werden Ränke geschmiedet, ob im Palast der offiziell kinderlosen Elisabeth I. (höchst eigen und dennoch würdevoll: Vanessa Redgrave), wo ihr enger Berater Robert Cecil (ausdrucksvoll ver- und geschlagen: Edward Hogg) um deren königliche Nachfolge bangt, oder in den Schänken der Stadt, wo die Londoner Künstler ihre eigenen Interessen verfolgen. Theater und Realität, Maske und Gesicht, Wahrheit und Lüge greifen dabei ineinander, sind Ausdruck einer Welt zwischen Kunst und Politik, in der Spiel und Ernst als Eckpfeiler der Conditio Humana ihre Position zugewiesen bekommen – wie in Shakespeares Werken.

So betrachtet bleibt es ohne Belang, ob „Anonymus“ historisch korrekt ist oder als höchst unterhaltsame, gleichwohl abenteuerliche literarische ,Whodunit’-Verschwörungsphantasie gelten muss. Viel wichtiger ist, daß ein Künstlerbild im Sinne des romantischen Geniekults offeriert und mit ihm zusammen Kunst an sich gefeiert wird, explizit die gespielte sowie gedruckte. Welch verwegener Genuss in Zeiten von Lesemüdigkeit und E-Books …

„Let every man be master of his time“

Was den Film endgültig zum Ereignis macht, sind die Schauspieler. Selten sieht man ein solch umwerfendes Ensemble, das geradewegs von den englischen Bühnen rekrutiert sein könnte (aber nur zum Teil ist). Jeder der Darsteller verfügt über individuelle Präsenz, zeigt subtile Klarheit in der Rolle, die sich nicht verschleift und dennoch keine Eindeutigkeit anstrebt, dabei als filmische Verbeugung vor dem Theater, und zwar nicht nur dem elisabethanischen, betrachtet werden darf. Vor allem die prächtig ausgebildeten, wohlklingenden Stimmen faszinieren, ist doch ihr mit bestechender Intonation vorgetragenes Englisch eindrucksvolles Indiz für die Kraft von Sprache.

Zuletzt findet die Kamera aus der Dunkelheit wieder den Weg auf die Bühne der Gegenwart. Ein Film hat sich vollendet, dem es nicht um geschichtliche Wahrheit geht, vielmehr um die Wahrhaftigkeit von Dichtung. Während die Zuschauer langsam den Theatersaal verlassen, scheint noch der Epilog Derek Jacobis nachzuklingen, der von der Unsterblichkeit Shakespeares handelt, also von der Ewigkeit der Literatur. Sie wird so lange im kulturellen Bewusstsein bestehen „as long as words are made of breath and breath of life”.

Anonymus” (Deutschland, Großbritannien 2011)
Regie: Roland Emmerich
Darsteller: Rhys Ifans, Sebastian Armesto, Vanessa Redgrave, Derek Jacobi
Laufzeit: 125 Min.
Verleih: Sony Pictures Home Entertainment
Format: DVD / Blu-ray

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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