Ins Herz der Finsternis

Über Marisha Pessls „Die amerikanische Nacht“

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Buch, das wie kaum ein zweiter jüngst veröffentlichter Roman die Frage aufwirft: Rechtfertigt der Zweck die Mittel? Muss man vordergründige konzeptionelle und kompositorische Schwächen einfach hinnehmen, um dem erzählerischen Sog zu erliegen? Marisha Pessl galt nach ihrem ersten Roman „Special Topics In Calamity Physics“ als neues Wunderkind der amerikanischen Literaturszene; stets auch kritisch beäugt, da vielen Kritikern ihr gutes Aussehen dubios erschien, zumal diese Kritiker selbst (mit nicht unerheblicher Hilfe von Pessls Verlag/Agenten) auch nicht müde wurden, genau dieses medial so richtig auszuschlachten.

Der Plot von „Die amerikanische Nacht“ (ein mal wieder ziemlich einfallsloser deutscher Titel, bezieht sich doch das Original „Night Film“ auf genau die Art von Film, um die es in Roman geht) wirkt auf den ersten Blick verführerisch: Die Tochter eines enigmatischen, kultisch verehrten Regisseurs von düsteren Horrorfilmen wird tot aufgefunden, vermutlich Selbstmord. Ein Journalist, der bereits vor Jahren vergeblich versucht hatte, jenem Regisseur nachzuspüren und sich darüber seine Karriere ruiniert hat, greift den Fall auf; nicht zuletzt, weil ihm das Opfer Wochen zuvor als geisterhafte Gestalt im nächtlichen Central Park begegnet war. Der Leser erfährt nun in der Folge, dass es sich bei dem fiktiven Regisseur Stanislav Cordova um eine Art Thomas Pynchon der Filmbranche handelt. Nie hat jemand mit Sicherheit sein Antlitz erblickt und seine Filme, für die er bis in die 70er Jahre hinein sogar die wichtigsten Auszeichnungen (unter anderem einen, von seiner nicht minder enigmatischen Assistentin angenommenen Oscar) bekommen hat, werden seit über 20 Jahren nur noch an geheimen Treffpunkten in verlassenen Katakomben unter Großstädten aufgeführt – denn sie sollen so schrecklich sein, dass Menschen sich nur schwer von ihnen erholen können.

Ausgeschmückt wird die Suche nach Cordova zeitgemäß mit abgedruckten, (schön gefälschten) Auszügen aus der New York Times, Internet-Artikeln wie eine LIFE-Magazine Bilderserie, dem bildlich dokumentierten Besuch auf einer im Darkweb lokalisierten Website von fanatischen Cordova-Anhängern, sowie weiterem Dokumentationsmaterial wie Krankenhausakte, Polizeiberichte usw. Dies hilft einerseits natürlich dem Aufbau einer fiktionalen Welt, in dem der Regisseur Cordova tatsächlich existiert, andererseits setzt hier auch der erste Kritikpunkt zahlreicher Rezensenten ein: Wer braucht dieses Material? Wohl nur jemand, der nicht in der Lage ist, es auch sprachlich darzustellen. Der zweite Kritikpunkt richtet sich gegen die oft einfältig, fast schon amateurhaft wirkende Sprache. Unzählig alleine die Anzahl an Amazon-User-Rezensionen, die Pessls in der Tat exzessiven Gebrauch an Kursivierungen zur Unterstreichung des eben Berichteten monieren. Der dritte große Kritikpunkt ist das extrem künstlich wirkende Plotting, der dem Journalisten und Ich-Erzähler zwei New Yorker Kids an die Seite stellt, die den Mittvierziger mit knackigen Ideen und dem nötigen Comic Relief versorgen. Oder ist, wie so vieles an diesem Buch, alles doch ganz anders?

Stanislav Cordova gilt als Meister des subtilen Grauens; die Plots seiner Filme werden in wahrer Roberto Bolaño-Ästhetik manchmal minutiös nacherzählt, doch fassen kann das wahre Grauen, dass den Zuschauer beim Anschauen dieser Filme packt, naturgemäß niemand, der diese Filme nicht auch gesehen hat. Ein fanatischer Filmwissenschaftler hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, das zu ändern, doch auch er scheitert an der versuchten Akademisierung jener unbeschreibbaren Angst, die den Filmen innewohnt. Und doch: Ohne zu viel verraten zu wollen, erzielt Pessl in ihrem Roman genau jenen Cordova-Effekt, ohne dass der in der ersten Hälfte des Buches von Kursivierungen, klischeehaften Figuren und Buddy-Plot genervte Leser es zunächst so richtig merkt. Plötzlich aber ist er unversehens Teil dieser Welt, die eine fiktive ist, und die doch die Angst, sie könnte real sein, stets impliziert. Im letzten Drittel des Buches bricht eines der über hundert recht kurzen Kapitel vollends aus seiner Form aus: In dem Moment, in dem sich der Held ins Herz der Finsternis, dem mysteriösen Anwesen Cordovas, begibt muss der Leser (was zunächst unmotiviert scheint) eine schwarze Seite umblättern und, wie der Held, in jener Finsternis verharren, in diesem einen, nicht enden wollenden Kapitel gefangen sein, bis eine weitere schwarze Seite ihn erlöst. Irgendwann fragt sich der Ich-Erzähler, ob er nicht vielleicht doch in einem Cordova-Film gelandet ist, ohne es zu merken. Diese Frage muss sich auch der Leser stellen, der sich vom Plauderton und den verdächtig auffällig exponierten narrativen Schwächen des Romans (auch Cordovas Filme spielen verstärkt mit B-Movie Elementen) hat über mehrere hundert Seiten einlullen lassen. Wer spielt hier mit wem?

Ein zynischer Leser könnte Pessls Roman als spannenden, jedoch wenig anspruchsvollen Trash abtun. Damit beginge er den gleichen Fehler wie die zahlreichen ahnungslosen Kritiker Cordovas. Lässt man sich nämlich auf den Text ein, werden die Alpträume folgen, garantiert. Denn die zunächst gewollt unspektakuläre Auflösung des Falls zwingt den Leser regelrecht, die scheinbar lose herumliegenden narrativen Fäden aufzugreifen und zusammenzusetzen. Einige werden sich später wünschen, es nicht getan zu haben.

PS: Am Ende des Romans folgt der dezente Hinweis zum Download einer App, die in Kombination mit den im Roman abgedruckten Fotografien Zugang zu geheimen Informationen verschafft, die zur Auflösung des Plots führen könnten.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Marisha Pessl: Die amerikanische Nacht. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Tobias Schnettler.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
790 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783100608048

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