Klio dichtet auch in Brasilien

In der Tragikomödie „Narradores de Javé“ („Geschichten aus Javé“, 2003) will sich ein brasilianisches Dorf mit Hilfe von Geschichte und Geschichten vor dem Untergang retten

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Was bleibt, wenn alles verschwindet? Wenn mit dem geplanten Staudamm die große Flut kommen wird und ein ganzes Tal samt Dorf unter Wasser setzt? Dieses Schicksal droht Javé, einer ländlichen Siedlung irgendwo im brasilianischen Hinterland. Doch die Bewohner wollen es nicht kampflos akzeptieren, planen vielmehr eine höchst ungewöhnliche Rettungsaktion. Es heißt, unter Denkmalschutz gestellte ‚Kulturgüter‘ würden vor der Überschwemmung bewahrt. Also gilt es nun, die historische Bedeutung der eigenen Heimat zu beweisen. Am besten mit einer Niederschrift all jener Geschichten, die aus einem kargen, unbekannten Flecken in Südamerika einen Ort namens Javé geschaffen haben. Dass die Mythen für andere außer ihnen selbst belanglos sein könnten, fällt den lebensfrohen Dörflern erst gar nicht ein.

Die Idee scheint also gut, nur die Umsetzung erweist sich angesichts des vorherrschenden Analphabetentums als problematisch. Ein Schreiber muss her. Es trifft den Gelegenheitsautor Antonio Biá (José Dumont), der sich einst bei sämtlichen Dorfmitgliedern unbeliebt gemacht hat und seither das Dasein eines Außenseiters führt. Ein zufriedenes wohlgemerkt, bis er von den Mitbürgern genötigt wird, eine Chronik schriftlich zu fixieren. Jetzt überrennen sie ihn förmlich, denn alle wollen später einmal in dem Buch ihres Dorfes verewigt sein. Nur Vergessen bedeutet den Tod. Biá muss sich mit unzähligen, mündlich überlieferten Geschichten herumschlagen, alle verschieden, alle individuell und natürlich alle wahr. Behaupten zumindest ihre fidelen Erzähler, denen auch der Originalfilmtitel „Narradores de Javé“ gewidmet ist.

Thalia schmunzelt

Was ist die Wahrheit, wenn sie nur in Varianten existiert? Das Schöne an Geschichten ist ihre Wandelbarkeit. Doch für die Historiografie zählen nur Fakten. Deshalb verlangen die Dorfbewohner eine ‚wissenschaftliche‘ Herangehensweise von Biá, bieten freilich mit ihren höchst abenteuerlichen Fabeln voller fragwürdiger Details hierfür keine Basis. Schon beim Gründungsmythos ihrer Siedlung teilen sich die Meinungen, jeder kennt eine andere Version. Regisseurin Eliane Caffé setzt diese Subjektivität der einzelnen Darstellungen als visuelles Spiel um, untermalt von folkloristischen Klängen. Im Gegensatz zum sinnlich-sonnendurchfluteten, arkadisch leuchtenden Javé der Gegenwart sind die mit einer ironischen Nuance inszenierten Sagen mal in grellen, mal in entsättigten Farben bebildert, die ihnen etwas nostalgisch Verklärtes verleihen. Bevölkert werden sie unter anderem vom jeweiligen Erzähler selbst in einer der historischen Rollen. Er ist buchstäblich in seiner eigenen Story angekommen.

Kurioserweise können sich Javés temperamentvolle Einwohner weder über ihre kollektiven noch privaten Überlieferungen einigen. Der spontane Eindruck ist ihnen mindestens so viel wert wie objektive Faktizität. Überhaupt: Wer kann schon beweisen, dass Imaginiertes nicht ebenso wahr ist wie Empirisches? In einer herrlich burlesken Sequenz streiten zwei uralte Zwillingsbrüder über ihre familiären Verhältnisse, ihre möglichen (Zwillings-)Väter und das vom Geburtsrecht abhängende Erbe. Zuschauer aus dem Dorf sind ihnen gewiss, denn das ist ebenfalls ein Merkmal von Geschichte(n): Man will sie nicht nur hören, sondern schätzt auch eine gute Show bei ihrer Präsentation. Das deutet bereits der filmische Vorspann an, ein bezauberndes Trickspiel mit tanzenden Buchstaben, renitenten Satzzeichen und wildgewordenen Emblemen.

Insofern passt es perfekt, dass Eliane Caffé, die auch das unterhaltsam-hintergründige Drehbuch verfasst hat, vorzugsweise naive, recht eindimensionale Typen mit karikaturesken Zügen entworfen hat. Allein der großspurige Biá mit seiner Vorliebe für bildhafte Sentenzen ist ein unvergessliches Original. Einerseits wird so ein komödiantischer Akzent gesetzt, andererseits der narrative Charakter des Gesamtplots betont. Denn die Story um Javé ist wiederum in eine an europäische Novellen erinnernde Rahmenhandlung eingebettet. Ein paar Leute, die des Nachts zusammensitzen und warten, erzählen sich zum Zeitvertreib Geschichten. Zaqueu (Nelson Xavier) berichtet von dem längst versunkenen Dorf Javé, wo er aufgewachsen ist.

Klio fantasiert

Was ist Geschichte, wenn sie wie eine Erzählung vermittelt wird? Der Literaturwissenschaftler und Historiker Hayden White hat seine postmoderne Geschichtstheorie in einen tollen Slogan gepackt: „Auch Klio dichtet.“ Geschichtsschreibung ist also nicht nur häufig fehlerhaft wie die eigene Erinnerung und verklärt wie persönlich Erlebtes. Zudem weist sie narrative Strukturen auf, die sie in die Nähe von fiktionaler Literatur rücken. Fakt und Fiktion, vereint durch Poetologie. Ohne sich dessen tatsächlich bewusst zu sein, leben Javés Bewohner diese These von Geschichte als Produkt konstruktiver Einbildungskraft gewissermaßen vor. Speziell Biá fühlt sich in seiner neuen Rolle als Chronist des Dorfes zu höheren literarischen Weihen berufen. Einfach nur aufzuschreiben, was die Leute ihm sagen, will seine ‚Berufsehre als Künstler‘ nicht zulassen: „Was geschah ist eines, was man schreibt, was anderes. Die Fakten werden verbessert, damit sie glaubhaft werden.“ Wie er einmal beredt darlegt, bringt ein richtiger Schriftsteller seine eigene Vorstellungswelt ein, macht etwa einen Schielenden zum Einäugigen und einen Hinkenden zum Einbeinigen.

Empört lehnen die Einwohner diese offensichtliche Methode ab, ignorieren indes, dass pure Objektivität ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit ist. Stattdessen konkurrieren sie weiter um die Definitionsmacht über ihre örtliche Historie, bedeutet Geschichte für sie doch auch Selbstbestimmung und -erkenntnis. Vergangenheit definiert die Gegenwart im Angesicht der Zukunft, das Gestern macht aus dem Heute ein Morgen. In ihren skurril anmutenden Diskussionen können sich die engagierten Dörfler allerdings nicht einmal über die Identität des Gründervaters einigen. Eigentlich sollte das Indalécio sein, ein Held aus der Konquistadorenzeit. Möglicherweise könnte diese Ehre aber alternativ seiner Frau Mariadina zustehen oder gar dem schwarzen Indaleu. Je nach Rasse und Geschlecht variieren hier die Meinungen.

Nur eines ist gewiß: Es gibt Geschichte(n), und jeder hat in einer traditionell mündlichen Kultur das Recht, vielleicht sogar die Pflicht, sie zu erzählen. Deshalb muss der widerwillige Biá sogar weit über die Grenzen des Dorfes hinausreiten, um noch die dubioseste Legende aufzustöbern. In einer wunderbar exzentrischen Sequenz wagt er sich samt Dolmetscher zu einem afrikanischstämmigen Bewohner, der sich übrigens immer noch auf dem falschen Kontinent wähnt, und muss sich mit dessen endlosen Gesängen, verrätseltem Gerede sowie einer spontanen dreitägigen Schweigefrist auseinandersetzen. Der Wahrheit bringt das Biá nicht näher, höchstens einem Nervenzusammenbruch. Schon bald liegt er, der sich durch seine Schreibertätigkeit nicht zuletzt Vorteile bei den Dorfbewohnern versprach, hinter den eigenen Ansprüchen zurück. Das widersprüchliche und im Laufe der Jahrhunderte stetig modifizierte Erzählmaterial verweigert sich notwendigen Strukturierungsmaßnahmen, um zu einer richtigen Chronik oder wenigstens einer charmanten Sage zusammenzuwachsen. Geschichte zerfasert sich in Geschichten, Geschichten verschmelzen zur Geschichte.

Kalliope versöhnt

Was schafft Gemeinschaft und stiftet Identität, damit Individuen zueinanderfinden? Javé liegt im Nordosten Brasiliens, einer ‚sertão‘ genannten, halbwüstenartigen Landschaft, die im brasilianischen „Cinema Novo“ der 1950/60er Jahre eine große Rolle spielte. Dort siedelte ihr innovativster Vertreter, Regisseur Glauber Rocha, sein visuell und politisch radikales Kino an, das die ‚Ästhetik des Hungers‘ proklamieren sollte. Von dieser Avantgarde ist „Narradores de Javé“ mit seinem schlichten erzählerischen Aufbau weit entfernt, hat gleichwohl deren gesellschaftskritischen Impetus. Der Konflikt zwischen dem armen, idyllisch anmutenden ‚Dritte Welt‘-Dorf Javé und der ebenso gesichts- wie rücksichtslosen Baugesellschaft, die für den Fortschritt steht, spiegelt die neokapitalistische Problematik in all ihrer sozialen Ungerechtigkeit und Ausbeutungsmethodik wider. Individuelles muss sich der Globalisierung beugen, Nationales dem Inter- beziehungsweise Multinationalem, Geschichte dem Kommerz.

Auf subtile Weise verdichtet Eliane Caffé jenen Zustand, indem sie den Bleistift gegen die Videokamera ausspielt, also gewissermaßen die analoge gegen die digitale Kommunikation. Sitzen die multi-ethnischen Bewohner beim Diktieren der Dorfchronik zusammen, entwickeln sie zwar eine lustige Streitkultur, erleben während dieser Treffen aber gleichzeitig Verbundenheit. Vor der Kamera der Ingenieure stehen sie hingegen allein, klagen über den drohenden persönlichen Verlust und ihre privaten Sorgen. Für den Moment sind sie durch Technik von anderen separiert.

So wie ihre einzelnen Legenden sind sie nur Fragment. Erst durch ihr kollektives Gedächtnis, mag es auch perspektivisch aufgefächert sein, avancieren sie zur Dorfgemeinschaft. Deren Verlust wäre schlimmer als jede Flut. Und die kommt, denn Geschichten können die Geschichte nicht aufhalten. Aber sie können eigenes wie gesellschaftliches Sein vergegenwärtigen, können Menschen selbst in einer zerfallenden Welt positionieren und ihnen Authentizität verleihen. Das lernt auch Javés Bevölkerung, die als politisch Ohnmächtige ihr Dorf zwar untergehen lassen muss, aber nicht ihre Identität. Die hat sie längst durch ihre gesammelten epischen Erzählungen heraufbeschworen und manifestiert. Dank der kulturerhaltenden, magischen Kraft der Worte.

„Dies ist die Geschichte von Javé, wie sie erzählt wird. Aber man kann sie auch lesen und lesen in den endlosen Hügeln und Schluchten. Das Buch geht um die Welt und wird nie vergessen. Mehr gibts nicht zu sagen. Wer möchte, kann es anders schreiben.“

„Narradores de Javé“ („Geschichten aus Javé“, Brasilien 2003)
Regie: Eliane Caffé‘
Darsteller: José Dumont, Nelson Xavier, Rui Rezende, Gero Camilo, Luci Pereira
102 min; DVD
Kairos Filmverleih

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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