Sieben Filme

Einzelkritiken zu Beiträgen des „Festivals des deutschen Films“

Von Rebecca NicklausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rebecca Nicklaus

„Lore“ (Cate Shortland, 2012)

Kurz nach dem Krieg begibt sich die 15-jährige Lore (Saskia Rosendahl) mit ihren vier jüngeren Geschwistern auf den Weg nach Norddeutschland zu ihrer Großmutter, da ihre Eltern als Kriegsverbrecher verhaftet wurden. Auf ihrer Odyssee quer durch das zerbombte Land, das von Armut, Hunger und Gewalt gezeichnet ist, schließt sich ihnen der „Jude“ Thomas (Kai Malina) an, mit dessen Hilfe sie zahlreiche Hürden überwinden können. Dieser Film besticht nicht durch die manchmal etwas überdeutliche Geschichte, sondern ausdrücklich durch seine besondere Kameraarbeit – für mich die auffälligste der Filme, die ich auf dem Festival besuchte. Hier verdeutlicht das ständige Spiel mit Schärfe die Unsicherheit der Situation und die Zerrissenheit der Protagonistin. Oft ist es eine Handkamera, die sich erst mühsam ihr Bild sucht, nicht zu wissen scheint, was wichtig ist, nicht zu unterscheiden weiß, welche Details eine Rolle spielen. Das große Ganze wird selten eingefangen, oft zeigt die Kamera vielmehr Detailaufnahmen der Gesichter, ein halbes Profil, die Wimpern gegen das Licht, ein paar Haarsträhnen, neben denen der Hintergrund verschwimmt. Dass bei Lore alle Weltbilder einstürzen und die Welt somit im höchsten Maße Kopf steht, zeigen einmal mehr die verschiedenen personal zugewiesenen und damit subjektiven Kameraeinstellungen. Trotz der Szenen, in denen Vergewaltigungsakte und Leichen ohne Scheu gezeigt werden, ist der Film hochästhetisiert, die Aufnahmen sind künstlich eingefärbt, so dass das Blut noch roter, die Dämmerung noch blauer wirken. Auf eine stilisierte Art betont er das Körperliche als Symbol, bleibt dabei aber nicht immer originell. Natürlich gibt es viele Waschszenen, natürlich ist es eine hübsche Spielerei, wenn die Kinder in geschwärzte Wäsche fassen und danach die dunkle Farbe nicht mehr von den kleinen Händen abbekommen. Hier lässt Lady Macbeth grüßen. Der Film birst vor Spiegeln und glatten Wasseroberflächen, deren Reflexionen zerschlagen werden. Das ist alles ein bisschen viel, zumal auch der Film auf der narrativen Ebene seinen Andeutungen zu wenig vertraut.

Eine Szene, die besonders in Erinnerung bleibt: Die Geschwister tunken hungrig ihr Brot in gequirltes Ei, während das Baby fortwährend schreit. Sie haben es ein paar Meter weiter auf den blanken Boden gelegt, um in Ruhe essen zu können. Neben Szenen, die sehr wenig Empathie der Kinder bebildern, und den Szenen, die im Verhältnis dazu wenig überzeugend wirken, zeigt das die reine Überforderung – ohne viel Aufhebens.

„Ende der Schonzeit“ (Franziska Schlotterer, 2012)

Wieder befinden wir uns im Zweiten Weltkrieg, diesmal im Jahre 1942. Aus einem Zufall wird eine logische Konsequenz: Dem Bauern Fritz (Hans-Jochen Wagner) läuft der jüdische Flüchtling Albert (Christian Friedel) vor die Flinte. Er bringt ihn mit nach Hause zu seiner Ehefrau Emma (Brigitte Hobmeier), mit der er schon seit fast zehn Jahren erfolglos versucht, einen Stammhalter zu zeugen. Da eine Hand bekanntlich die andere wäscht, gehen die beiden Männer sprichwörtlich einen Kuhhandel ein: Albert darf sich weiterhin auf dem Hof verstecken, wenn er für den nötigen Nachwuchs sorgt. Auf einem echten Bauernhof sollte das keine Verstimmungen erzeugen, schließlich sieht man alles rein biologisch: „Wenn die Kuh kalben soll, dann bring ich sie zum Stier.“

So einfach ist das… natürlich nicht. An diesem Film kann man die geheimnisvolle Festivaldynamik sehen, die ab und zu um sich zu greifen scheint und einfach unerklärbar bleibt: Warum bloß lacht man über den frauenfeindlichen Bauern, der seinem Hund mehr Zärtlichkeit zeigt als seiner Frau, die er wie eine Kuh feilbietet, als sei das ein charmantes Kavaliersdelikt? Ist das ein derber Humor, der sich mir einfach nicht erschließt, oder einfach eine Übersprungshandlung, die das persönliche Unwohlsein durch ein Lachen zu verdrängen vermag? Und warum werden doppeldeutige Sätze wie „Du bist mit deinen Händen sehr geschickt“ zu begeisternden Kalauern, obwohl sie einfach plump und wirklich nicht mehr neu sind? Was gefällt, sind die bäuerliche Kulisse und die Inszenierung des Lichts, die zusammen die Stimmung eines Rembrandt-Bildes erzeugen. Was nicht gefällt, ist das stellenweise viel zu wenig subtile Drehbuch. Leid tut mir das vor allem für die SchauspielerInnen, die ihr Bestes versuchen, aus stellenweise hampeligen Dialogen das Beste zu machen. Am Ende ist es im Grunde auch egal, wer wen verriet und warum.

Was in Erinnerung bleibt, sind vor allem die zaghaften Regungen wahrer Lust, die das ansonsten kalte Beieinander zu einem Miteinander zweier verlorener Seelen macht – wenn auch nicht lange.

„Drei Stunden“ (Boris Kunz, 2012)

Wo kommen sie plötzlich alle her, diese überambitionierten, überindividualisierten Mädchen mit verwuschelten Haaren und liebenswerten Macken? Sie geben ihren Pflanzen Namen, sie reden zu viel und sie sehen immer bezaubernd aus, obwohl sie sich doch so gar nicht um Äußerlichkeiten scheren. Ist das die moderne Venus der alternativen Indie-Öko-Bewegung? Das männliche Äquivalent erliegt natürlich mit Haut und Haaren: Den Rest des Films ziehen sich die beiden eifrig wie zwei Magneten an und stoßen sich natürlich im richtigen Moment immer wieder gegenseitig ab – damit es auch schön spannend bleibt. „Drei Stunden“ reiht sich in die lange Liste von gut gemeinten, ganz niedlichen Romantikkomödien ein; er verspricht im Trailer einen skurril-lebendigen Genuss á la Wes Anderson, aber hält dieses Versprechen einfach nicht: Knapp 100 Minuten wird eifrig hintereinander hergerannt und, o Wunder, es gibt die volle Dröhnung an Kitsch inkl. unrealistischem und konventionellem Happy End. Wahrlich kein Höhepunkt für mich, denn was witzig sein soll, bleibt meist lahm, was einfallsreich sein soll, wirkt häufig zu bemüht.

Das Einzige, was mich weiterhin beschäftigt, ist das Theaterstück im Film. Das würde ich wirklich zu gerne sehen.

„Schwestern“  (Anne Wild, 2012)

Ein Film, auf den ich mich als Schwester besonders freute, und ich wurde nicht enttäuscht: „Schwestern“ ist eine locker-luftige Familiengeschichte in der Tradition französischer Komödien wie Julie Delpys „Le Skylab“, in denen wenig getan, ein bisschen gestritten, aber vor allem viel und schnell geredet wird. Jeder, der eine große Familie besitzt, die er gleichsam hasst und liebt, kann in diesem Film schmunzeln, nicken, erkennen. Maria Schrader berührt als verlassene Schwester Saskia, die völlig ausflippt, weil ihr die Schwester vermeintlich genommen wird, und erst als sie eine Erklärung für ihr gottgelenktes Leben bekommt (dies dauert fast bis zum Ende des Films), findet sie zur inneren Ruhe zurück. Der Film ist so erfrischend und leicht wie eine Sommerbrise und dabei doch nie banal.

Die effektvollste Szene, in der das kleine Mädchen in Zeitlupe vom Baum fällt, erinnerte mich an Lars von Triers „Antichrist“ und sticht damit aus der restlichen Stilistik des Films heraus. Für mich fügt sie sich aber dennoch auf komische Art und Weise in die Harmonie des Ganzen ein, da sie nach der erlösenden Begegnung der beiden Schwestern stattfindet und damit sowohl ein Wunder als auch die Vernetzung der Lebewesen versinnbildlicht. Und es gab noch eine weitere, interessante Einstellung: eine Totale in Vogelperspektive auf das hohe, gotische Fenster des Kreuzgangs im Kloster, durch das Saskia in den Regen hinausschaut. Erst nach einigen Sekunden, als sich ihre Schwester Kati von ihr löst, merkt der Zuschauer, dass die zwei kurzzeitig zu einer einzigen Silhouette verschmolzen sind.

„Der Verdingbub“ (Markus Imboden, 2011)

So federleicht der letzte Film, so schwer erscheint mir dieser. Er beginnt mit einem düsteren Dachboden, einem Leichentuch und zwei Herren, die einen Sarg auf dem Karren hinunter ins Tal schieben. Im Laufe des Films werden sie noch ein weiteres Mal an den Hof kommen müssen… Doch zuerst nimmt die Geschichte ihren Lauf: Man schickt den Waisenjungen Max (Max Hubacher) als Ersatz für den früheren Verdingbub zu den Bösigers, bald darauf zieht auch noch die junge Berteli (Lisa Brand) als Unterstützung für die Hofherrin (Katja Riemann) ein. Beiden widerfährt an diesem Ort mehr als Unrecht, beide verlieren dort auf die ein oder andere Weise ihre kindliche Unschuld. Hier wird kein Heidi-Panorama gezeichnet, nicht im duftenden Heu geschlafen, nicht in die Sterne geblickt und mit springenden Lämmern gespielt. Hier bedeutet das Leben auf einem Bergbauernhof schwere Arbeit und Entbehrung, die weder Erlaubnis noch Entschuldigung für die Härte sind, mit der die Bösigers ihre Verdingkinder behandeln, aber doch für ein differenziertes Bild sorgen. Es hallt nach, aber angesichts der absoluten Grausamkeit, der diese Kinder ins Gesicht blicken müssen, schalte ich bald innerlich auf Distanz um und der Film geht mir nur noch an wenigen Stellen richtig unter die Haut.

Eine davon: Max begleitet Berteli auf dem Akkordeon – ein Akt der gemeinsamen Hoffnung, der Innigkeit, und gleichzeitig trostloser denn je, denn beide scheinen zu wissen, dass diese Geschichte nicht gut enden wird.

„Festung“ (Kirsi Liimatainen, 2012)

Kirsi Liimatainen kommt aus Finnland. Für ihren Film „Festung“ durchforstete sie ganz Deutschland nach einem geeigneten Drehort. Irgendwann führte sie ihre Reise nach Heppenheim, wunderschön zwischen Weinbergen nahe Ludwigshafen gelegen. Dort sah sie einen Mann, der seinen Rasen liebevoll mit einer Schere stutzte und wusste sofort – der ideale Platz für ihre Geschichte. Diese kleine Anekdote sagt mehr über den Film aus als alles andere, denn sie führt vor Augen, worum es Liimatainen geht: eine kleinbürgerliche Fassade aufzubauen, hinter der mehr oder weniger ungestört brutale Geheimnisse gären. Oder von innen betrachtet: sich eine Festung zu schaffen, in die niemand von außen eindringen kann, auch wenn das die erlösende Hilfe bedeutete. Dieser Film funktioniert auf mehreren Ebenen, oft wiederholen sich die Szenen, jedoch immer in anderen Konstellationen. Mal greift die mittlere Schwester zum Telefon und wird von der Mutter gehindert, mal hindert sie selbst ihre kleine Schwester daran. Die Angst ist zu groß. Die Gewalt des Vaters schwappt in die nächste Generation hinüber. Ohne Gefühlsduselei oder übertriebenem Gestus zeigt der Film die aufkeimenden Aggressionen der Mädchen, ausgelöst durch ihr familiäres Umfeld. Sensibel werden Ursprünge und Konsequenzen der Gewalt verflochten. Die Flucht ins Kinderzimmer, in dem die Mädchen die Taten des Vaters nur akustisch mitbekommen, stehen einer Szene gegenüber, in der die Kleine mit dem Rücken zum Fernseher sitzt, in dem ein Erwachsenenfilm läuft. Paradoxerweise soll sie das schützen, doch wieder sind es Geräusche, denen sie ausgesetzt ist, die auf einmal umso heftiger erscheinen. Es sind die leisen Zwischentöne, die hier überzeugen, die die Not und Verwirrung der Frauen greifbar machen. Für mich persönlich ist dieser Film das Überraschungsei des Festivalbesuchs. Ich halte ihn für den besten der gesehenen. Am meisten geht mir die Szene nahe, in der die älteste der Schwestern (gespielt von einer grandiosen Karoline Herfurth) sich mit ihrer Vergangenheit konfrontieren möchte, aber im Augenblick der Gegenüberstellung mit ihrem Vater versagt und sich nicht anders zu helfen weiß, als dessen Auto zu rammen. Danach steigt sie zitternd aus und zwischen Wut und Angst vor der eigenen Courage kommentiert sie: „Ich bin in Therapie. Aber ich brauch wohl noch ein paar Stunden.“

„Die mit dem Bauch tanzen“ (Carolin Genreith, 2013)

Ein volles Zelt, davon geschätzt 90 Prozent Frauen, wahrscheinlich alles Frauen über 50. Das Zelt klatscht, tobt, kreischt vor Lachen. Was ist passiert? Die Menschen sehen einen Dokumentarfilm von einer Frau für Frauen über Frauen. Und nur auf einem Festival kann das richtig Spaß machen, denn erst hier kocht die Stimmung der Masse hoch, hier weiß man nicht mehr, ob man so herzhaft über den Inhalt des Films oder über die Begeisterung der Sitznachbarinnen lachen muss. „Die mit dem Bauch tanzen“ ist so niedlich und harmlos wie seine zierliche Regisseurin Carolin Genreith, die vor der Vorstellung meinte, sie sei aufgeregt und man dürfe ruhig kritisieren, aber nicht zu viel, denn das halte sie nicht aus. Vor allem aber ist diese Doku eines: charmant. Alle haben sich lieb und sind wertvolle Menschen auf dem Weg zur Weisheit und zur Lebensfreude. Und falls da innerhalb der tiefen Familienbande und langjährigen Beziehungen doch irgendetwas auf seinen Ausbruch wartet, dann war die Regisseurin so nett, sich damit nicht auseinanderzusetzen. Best of: eine Dame über 90, die es sich trotz Faltenreichtum nicht nehmen lässt, den jungen Kameramann anzuzwinkern. So lässt es sich dem Alter in Würde und mit Humor entgegensehen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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