Blick zurück auf Liebe und Leere

„In ihren Augen“ („El secreto de sus ojos“, 2009) – Juan José Campanella veredelt Eduardo Sacheris Roman zu einem filmischen Meisterwerk zwischen Politthriller und Melodram

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Drei Männer: Einer begeht ein abscheuliches Verbrechen, einer verübt unfassbare Rache, einer trauert einer ungelebten Liebe hinterher. Ihr Schicksal ist derart ineinander verwoben, dass kaum ausgemacht werden kann, wo Schmerz endet und Schuld beginnt. Und ob Leidenschaft die beste oder schlimmste aller Motivationen ist.

Argentinien im Jahre 1974: Benjamín Esposito (Ricardo Darín), Gerichtsbeamter in Buenos Aires, muss die brutale Vergewaltigung und Ermordung einer jungen Frau untersuchen. Ihr Gatte Ricardo Morales (Pablo Rago) ist verzweifelt. Nachdem zunächst zwei Unschuldige verhaftet wurden, gerät Esposito auf die Spur eines Jugendfreundes der Toten, der sich als wahrer Täter entpuppt. Jener Isidoro Gómez (Javier Godino) gesteht, wandert ins Gefängnis, wird jedoch im Zuge der beginnenden Militärdiktatur als Spitzel rekrutiert und wieder freigelassen. Esposito versucht zu intervenieren. Doch als ein Anschlag auf ihn nur per Zufall misslingt, muss er in die Provinz flüchten. Richterin Irene Menéndez Hastings (Soledad Villamil), die Frau, die er heimlich liebt, bleibt zurück. 25 Jahre später ist Esposito pensioniert und beginnt, die alte Geschichte aufzuschreiben. Er findet heraus, dass sie anders verlaufen ist als geahnt.

Blick auf den Schmerz

Wie der zugrundeliegende Roman „La pregunta de sus ojos“ (2005) des argentinischen Schriftstellers Eduardo Sacheri (geboren 1967) ist auch dessen faszinierende Verfilmung als Retrospektive gestaltet. Benjamín Esposito rekapituliert den wichtigsten Fall seiner Karriere und setzt sich gleichzeitig mit dem wichtigsten Gefühl seines Lebens auseinander, der nie ausgesprochenen Liebe zu Irene. Kunstvoll sind politkriminalistischer und melodramatischer Erzählstrang, die beide weder Beginn noch Ende haben, miteinander verknüpft. Die Wahrnehmung des einen wird durch die Betrachtung des anderen bedingt, endgültig verklammert sind sie durch die Politik. Historischer Hintergrund ist die Zeit knapp vor der argentinischen Diktatur von 1976 bis 1983, als das Land von einer Militärjunta mit offenem Staatsterror regiert wurde.

Deren Heraufdämmern legt sich wie ein dunkler Schatten auf die Ereignisse, subtil beschworen von Félix Montis fesselnder Kamera. Bevor die Falschen an die Macht gekommen sind, kauert sie im Gericht bereits neben dem Schreibtisch, filmt Aktenstapel aus der vergrößernden Untersicht und drückt die umstehenden Menschen an den Rand. Genau das wird später auch die staatliche Willkürherrschaft auszeichnen, nämlich eine gewissenlose, inhumane Verwaltungsmentalität, die jeglichen Spielraum für Individualität nimmt.

Fließt vorerst noch warmes Licht durch die Räume und dominieren gold-erdene Farben, schwächt sich diese Pracht ab, bis Esposito ganz zuletzt das abgelegene Haus von Morales aufsucht. Hier, wo die Luft plötzlich staubig-grau zu werden scheint, offenbart sich, dass wirkliches Leid niemals endet. Eine politische Diktatur mag ein Verfallsdatum haben, ihre traumatischen Folgen für das Individuum besitzen nicht einmal eine Halbwertszeit: „Schmerz ist unsichtbar. Man kann ihn nicht sehen, nie. Zu sehen sind nur seine äußeren Zeichen“. So betrachtet ist Morales’ Tat, mit der er auf das ihm zugefügte Unrecht – die Amnestie für den Mörder seiner Frau – reagiert, ein nahezu symbolischer Akt. Dieser verweist auf das grausame Schicksal der ,Desaparecidos‘, der während eines Unrechtsregimes aus politischen Gründen ,Verschwundenen‘, und definiert es gleichzeitig völlig neu. Mit allen Konsequenzen für das Leben des Täters wie des Opfers.

Blick in die Leere

Autor Eduardo Sacheri hat zusammen mit Regisseur Juan José Campanella seinen durchdachten Roman in ein spannendes, tiefgründiges Drehbuch umgewandelt. Es ist ein Beispiel für virtuose Adaption in klassisch rhythmisierter Erzählform: An den richtigen Stellen dramaturgisch verstärkt, narrativ verdichtet und visuell akzentuiert. Die differenzierte Charakterzeichnung macht selbst aus Nebenfiguren wie Pablo Sandoval (Guillermo Francella), Espositos Mitarbeiter, eine konturierte Persönlichkeit, die mit ihrer Geschichte bewegt. Er ist ein Trinker, und doch steckt in ihm ein Held, der Treue bis zum Tod gewährt. Sein Mut zur Lüge im Angesicht der Gefahr macht aus ihm einen wahren Freund.

Sind es im Buch noch einzelne Kapitel, die Vergangenes von Gegenwärtigem trennen, findet im Film durch sich überschneidende Töne und Dialoge ein fließender Wechsel zwischen den Zeitebenen statt. Ohnehin zeichnet sich die präzise, stille Inszenierung durch zurückhaltend-gleitende Eleganz aus und hebt so ein Hauptmotiv von „In ihren Augen“ heraus: Das kontinuierliche Sich-Durchdringen von moralischen wie emotionalen Ebenen. Liebende werden zu Leidenden, Politisches wird zu Privatem, Schuld zu Sühne, Strafe zu Selbstjustiz, Rache zu Recht. Oder umgekehrt. Wer vermag das zu sagen? Selbst die Konsequenzen des eigenen Handelns bleiben unüberschaubar: „Niemand kann im Bodensatz der Gegenwart die Zeichen für künftige Tragödien lesen.“

Und die furchtbarste aller Tragödien ist die Leere, also die Verhinderung von Leben. Leere an Hoffnung und Güte, an Gerechtigkeit und Freiheit, an Zuneigung und Mitgefühl. Ein langes Dasein von unendlicher Leere wünscht sich Morales deshalb für Gómez. Mit der Vollstreckung dieses Urteils hat er freilich auch das eigene Leben begraben. Esposito wiederum, der als integrer, intelligenter Mann Selbstbestimmung einfordert, wird von den äußeren Ereignissen überrollt. Ein Kollege, den er einst zu Recht des Amtsmissbrauchs bezichtigte, schlägt später, als die politischen Umbrüche ihm Macht verschaffen, gnadenlos zurück. So muss Esposito ebenfalls viele leere Jahre fern der von ihm verehrten Frau durchstehen. Aber die Liebe zu ihr lodert im Stillen weiter.

Blick aus Liebe

Wie es der Filmtitel bereits andeutet, kommt dem Blick eine konkrete erzählerische Funktion zu. Verräterische Blicke auf das Objekt seiner Begierde entlarven den Mörder; im Verlauf der Jagd nach ihm komprimiert sich der (Handkamera-)Blick zu einer Plansequenz. Tatsächlich wirkt Gómez’ Flucht durch die Katakomben eines Fußballstadions wie ein kinetischer Kontrapunkt zu den bislang ruhigen Ereignissen. Hier saugt sich das (Kamera-)Auge an der Verfolgungssituation fest, während ansonsten die Augen respektive Gesichter der Menschen durch viele Naheinstellungen fokussiert werden.

Auf diese Weise wird auch die nur verbal nicht kommunizierte Liebe zwischen Benjamín und Irene visualisiert. Sie steckt in jedem ihrer Blicke, selbst als sie sich erst nach langer Zeit wiedersehen. Im Buch wird das Gefühl mit knappen, direkten Worten beschrieben, die nur im Kopf von Esposito zu schreien beginnen: „[…] seit drei Jahrzehnten liebe ich dich wie verrückt, mal mehr, mal weniger, aber konstant.“ Der Film hingegen setzt auf die sinnlich intensive Schauspielkraft von Ricardo Darín und Soledad Villamil, die keinerlei Berührung brauchen, um gegenseitige Nähe zu suggerieren. Moduliert wird ihre distanzierte Tuchfühlung durch die schönste und hintergründigste ,Türen-Dramaturgie‘ seit Ernst Lubitschs göttlichen Komödien. Ob eine Tür während des Gesprächs offen oder geschlossen bleibt, sagt schon alles über dessen Bedeutung.

„In ihren Augen“ ist kein indifferentes Vexierspiel, vielmehr eine filmische, hochkomplexe Anamorphose. Wahrheit und Gerechtigkeit sind stets eine Frage der Perspektive. Die politisch repressiven Verhältnisse und das persönliche Fatum haben aus den Protagonisten vorsichtige Menschen gemacht, die Wichtiges nicht erst aussprechen müssen, um es gültig werden zu lassen. Sie können nur indirekt ihre Ziele verfolgen, gefangen in der Hoffnung und gleichzeitig Furcht, dass „der Kosmos immer nach einem Gleichgewicht strebt, nach einer natürlichen Ordnung“. So melancholisch wie die Klavierklänge sind, die sich unendlich zart an die Bilder schmiegen, so behutsam muss der Weg von ,temo‘ (ich fürchte) zu ,te amo‘ (ich liebe dich) beschritten werden. Erst als die letzte Tür ins Schloss gefallen ist, öffnet sich die Zukunft.

In ihren Augen (Argentinien, Spanien 2009).

Regie: Juan José Campanella.

Darsteller: Ricardo Darín, Soledad Villamil, Pablo Rago, Javier Godino

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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