Die Flucht der alten Dame

Theresia Klugsberger und Ruth Pleyer haben den Bericht der von den Nazis nach Algier vertriebenen Saloniere Berta Zuckerkandls in einer hervorragenden Edition herausgegeben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Berta Zuckerkandl bewegte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur ganz selbstverständlich unter den kulturellen Größen Österreichs, sondern förderte manche bis dahin unbekannte Künstler, von denen später einige – auch dank ihr – zu Ruhm und Ehren gelangten wie etwa der Maler Gustav Klimt. Auch war die heute weithin vergessene Kunstliebhaberin zu ihrer Zeit selbst keine ganz unbekannte. Denn sie unterhielt nicht nur einen Salon in Wien, in dem einige der schon damals weit über die Landesgrenzen hinaus berühmte LiteratInnen und Kunstschaffende regelmäßig verkehrten. Sie selbst war mit einigen Büchern und zahlreichen journalistischen Publikationen hervorgetreten. Nachdem sich Österreich Ende der 1930er-Jahre dem nationalsozialistischen Deutschland angeschlossen hatte, sah sich die nun mehr schon betagte Frau allerdings gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und zunächst nach Frankreich zu fliehen, wo sie fürs Erste in Bourges strandete. Während der Besetzung der Stadt durch die Deutsche Wehrmacht floh sie weiter nach Moulins, einem kleinen Ort an der Grenze zwischen der besetzten und der nicht besetzten Zone des Landes. Über diese Flucht von Bourges nach Moulins und dem Aufenthalt in dem Städtchen an der innerfranzösischen Demarkationslinie berichtete sie ihrem geliebten Enkel, dem später als Evolutions- und Meeresbiologe zu einigem Weltruhm gelangten Wissenschaftler Emile Zuckerkandl, in mehrseitigen handgeschriebenen Aufzeichnungen, die sie nach ihrer Ankunft in Algier verfasste. Denn dorthin hatte sie ihre Flucht letztendlich geführt. Ein halbes Jahr nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands verließ sie die algerische Hauptstadt und ging, bereits schwererkrankt, nach Paris, wo sie bald darauf starb.

Der damals noch jugendliche Emile Zuckerkandl hatte die Aufzeichnungen seiner Großmutter zusammen mit einige ihrer Briefe in sein „Marokko-Tagebuch“ eingeklebt, das seinen Namen nach seinem Zufluchtsort erhalten hatte. Heute lebt Emile Zuckerkandl in Stanford.

Theresia Klugsberger und Ruth Pleyer haben die in dem Tagebuch enthaltenen Briefe und Aufzeichnungen Berta Zuckerkandls nun veröffentlicht. Wenn die Herausgeberinnen Berta Zuckerkandls Bericht als „einzigartiges Zeugnis der Stadien und Strapazen einer Flucht und eines Lebensabschnittes von Berta Zuckerkandl, von dem wir so gut wie nichts wissen“, charakterisieren, so ist das ist sicher nicht übertrieben. Dass es zugleich das Schicksal Abertausender widerspiegelt, macht das Dokument nur noch umso wertvoller.

Klugsberger und Pleyer haben den Dokumenten je einen eigenen Text beigefügt. Pleyer informiert konzis über die Persönlichkeit und den Werdegang Berta Zuckerkandls, während Klugsberger einen sehr genauen Blick auf die Dokumente wirft und sie kenntnisreich in den Kontext ihres Entstehens stellt. Zuckerkandls Bericht, konstatiert sie, „ist weniger die Chronologie einer Flucht als deren Auflösung in Szenen“, denen die alte Dame „eine konzentrierte Präsenz und atmosphärische Dichte“ zu verleihen verstand.

Die Edition der dokumentierten Texte könnte kaum sorgfältiger sein. Neben den Transkriptionen und der Übersetzung der teils in französischer Sprache verfassten Aufzeichnungen bietet der Anhang nicht zuletzt Faksimiles der Briefe Zuckerkandls und ihres Berichts. Mit ihnen und der großzügigen Bebilderung ist ein Buch entstanden, dessen ansprechendes Äußeres nicht etwa das Grauen seines Inhalts relativiert, sondern Berta Zuckerkandl ehrt.

Titelbild

Berta Zuckerkandl: Flucht. Von Bourges nach Algier im Sommer 1940.
Hrsg. von Theresia Klugsberger, Ruth Pleyer.
Czernin Verlag, Wien 2013.
225 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783707604566

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