Die ewige Wiederkehr

David Bowie gibt uns mit „The Next Day“ Rätsel auf, aber lohnt es sich, diese zu entschlüsseln?

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Der letzte Song auf David Bowies letztem Album „Reality“ trug den kryptischen Titel „Bring Me The Disco King“ und erzählte zu leisen, atonal wirkenden Jazz-Klängen eine Geschichte aus der Vergangenheit, was bei diesem Künstler, der zuvor fast nie zurückgeblickt hat, aufhorchen ließ. Bowie sang von Erinnerungen, die wie Fledermäuse aus der Hölle flattern und von einem Leben, das nicht das zerknüllte Papier wert war, auf dem es aufgeschrieben wurde. Er sprach davon, wie er in den 70er Jahren die Zeit totschlug, durch die feuchten Winde nach Liebe riechend. In den eindringlichsten Zeilen hieß es: „Don’t let me know when you’re opening the door / stab me in the dark, let me disappear / Soon there’ll be nothing left of me / nothing left to release“. Und im Refrain tönte immer wieder: „Bring me the disco king!“ Für viele Fans war die Deutung der Zeilen naheliegend: Das lyrische Ich führt ein Gespräch mit dem Tod, und dieser fordert das Leben des sündigen Sängers. Bowie, der Disco-König, sieht dem Tod ins Auge und gibt auf. Passenderweise hatte der echte David Bowie kaum ein Jahr später einen schweren Herzinfarkt, musste notoperiert werden, und an diesem Punkt begann sein langsames Verschwinden.

Doch man kann die vorangegangenen Zeilen auch anders deuten, nämlich als Anekdote Bowies zur vielleicht größten Zäsur seiner Karriere: Der von seinem Status als drogensüchtige Kunstfigur der 1970er-Jahre müde Musiker verlangt nach einem Ausbruch aus der ihn zerfressenden Rockstar-Scheinwelt. Dafür ruft er nach dem Disco-König, und dieser ist der Produzent Nile Rogers, der diesen Spitznamen wirklich trug, und der David Bowie 1983 mit dem Album „Let’s Dance“ zum cleanen und globalen Mainstream-Superstar machte. Zugegeben, angesichts der Ereignisse nach seinem Herzinfarkt war die Interpretation, dass das allerletzte Lied auf der allerletzten Bowie-Platte ein Gespräch mit dem Tod zum Thema hatte, die weitaus reizvollere. Und doch gab es im Januar 2013 dieses unerwartete Comeback eines verschollenen Künstlers, der zuvor nie mehr als zweieinhalb Jahre zwischen zwei Alben vergehen ließ und um den es seit Langem böse Gerüchte gab: Bowie sei nur noch alt, krank, vielleicht sogar schon tot, wer wusste das schon so genau. Als am 8. Januar plötzlich ein neuer Song in Form eines Videoclips im Netz auftauchte, waren die Gerüchte beileibe nicht entkräftet: David Bowie sah wirklich alt und müde aus, seine Stimme war brüchig, das Lied eine ruhige Ballade und der Text beschrieb in nur wenigen, verklärenden Worten seine legendäre Zeit in Berlin Ende der 1970er-Jahre. Für Anfang März wurde ein neues Album angekündigt, und wenn der notorisch redselige Produzent Tony Visconti nicht recht bald aller Welt erzählt hätte, die Platte werde „richtig rocken“ und der Musiker sei „topfit“, hätte Bowie das Spiel mit der angeblichen Todesnähe sicherlich noch ein wenig ausgereizt.

Wie immer bei David Bowie kann man sich nicht sicher sein, ob es sich bei „The Next Day“ um ein Kunstwerk handelt oder um den Versuch, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln ein Kunstwerk zu konstruieren. Über die genial inszenierte Medienkampagne wurde bereits genug geschrieben, doch alleine ein Blick auf das Cover macht nachdenklich. Viele Rockkritiker fanden das Motiv schlampig oder gar unverschämt. Man sieht das ikonografische Cover der 78er-Platte „‚Heroes‘“, der Titel wurde jedoch durchgestrichen und ein riesiges weißes Viereck, das drei Viertel des Raumes einnimmt und in dem die Worte „The Next Day“ stehen, darüber gedruckt. Warum aber hat kaum jemand die Anspielung auf Kasimir Malewitschs „Schwarzes Quadrat“ erkannt, die da über die ursprüngliche Anspielung auf Erich Heckels „Roquairol“, die „‚Heroes‘“ zierte, gelegt wurde?

Nun gehört es zum popmusikalischen Allgemeingut, dass David Bowie mehr Performer als Musiker oder gar Lyriker ist: Seine Stärke lag schon immer in der Adaption von verschiedenen künstlerischen Konzepten, die er nach Belieben miteinander vermengte und damit etwas im jeweiligen Kontext als ‚neu‘ geltendes schuf, was aber letztlich immer eine – wenn auch durchaus kreative – Rekonstruktion bestehender Ideen war. So verwundert es nicht, dass er Mitte der 1990er-Jahre seine Texte von einem Computerprogramm neu zusammensetzen ließ: Er verfasste nur Fragmente, der Rechner ordnete diese nach dem Zufallsprinzip an. Das ist auch nichts anderes als das Weiterdenken von Burroughs cut-up und fold-in, aber immerhin das: ein Weiterdenken. Ebenso wenig verwundert, dass der autobiografisch anmutende Exkurs in „Where Are We Now?“ ein Strohfeuer war, denn auf „The Next Day“ geht der Künstler wieder seiner liebsten Beschäftigung nach: dem Rollenspiel.

Wenn es im ersten Song – dem Titeltrack – also im Refrain laut herausgeschrien heißt: „Here I am / Not quite dying“, dann denkt der unbedarfte Hörer natürlich an das Comeback nach den ganzen unwahren Gerüchten. Lauscht man etwas genauer, vernimmt man allerdings auch die folgenden Worte: „My body left to rot in a hollow tree / Its branches throwing shadows / On the gallows for me / And the next day / And the next“. Der Song handelt mitnichten von Bowie selbst, sondern erzählt eine mysteriöse Geschichte: Entfaltet wird ein mittelalterliches Szenario, es geht um Ketzerei, Hinrichtungen, ein „purple-headed priest“, der offensichtlich für ebendiese zuständig ist. Ein Lied über die Spanische Inquisition? Vielleicht.

Noch mysteriöser ist der letzte, und vielleicht beste Song der Platte, „Heat“. Dieser beginnt mit den in Scott Walker-Manier gesungenen Zeilen: „Then we saw Mishima’s dog / Trapped between the rocks / Blocking the waterfall / The song of dust / The world would end“, mündet immer wieder in dem Mantra „My father ran the prison / My father ran the prison“ und endet – vielleicht bezeichnend – mit den Worten „I am a liar“. Hier liegt der Schlüssel zu Bowies Lyrik, ja, vielleicht zu seinem ästhetischen Gesamtkonstrukt: Er ist ein Lügner, der uns Dinge vorgaukelt, auf die wir immer wieder hereinfallen. Es könnte sein, dass die hermetischen Texte auf „The Next Day“ viel bedeuten, dass man sich Kontexte (wenn es nach den meisten Kritikern geht vor allem biografischer Natur) erarbeiten müsste, um sie zu analysieren. Es kann aber auch sein, dass Bowie mal wieder besagtes Computerprogramm aus den 90ern aus dem Keller geholt hat. Und so ist das auch mit der Musik: Einhellig wurde das Album als gelungen bis genial bezeichnet, doch die Kritiken verfuhren immer nach demselben Schema, indem sie das Gesamtwerk nach Referenzen durchsuchten: Hier ein Bezug auf „Lodger“, hier hören wir was von „‚Heroes‘“ und da geht es sogar zurück bis „Aladdin Sane“. Doch schon damals waren die Platten und Songs nur ein Arbeiten mit vorhandenen Strukturen, ein musikalisch-textlich-performatives Rollenspiel, und natürlich liegt genau darin der Reiz. Denn Bowie wiederholt nicht, er schafft neue Kontexte, in denen Kunst sich entsprechend neu entfalten kann, er reorganisiert Vorhandenes und schafft damit eine neue Ästhetik. Immer wieder, und am nächsten Tag, und am nächsten.

David Bowie

„The Next Day“

Sony 2012

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz