Niemand singt den Blues wie Blind Willie McTell

Jetzt auch auf Deutsch: Sean Wilentz’ Buch über „Bob Dylan und Amerika“

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bob Dylans Kunst ist tief verwurzelt in der amerikanischen Kultur der letzten hundert, ach was, zweihundert Jahre. Das ist nun wirklich nichts Neues. Dass sein Stammbaum nicht bei Woody Guthrie endet, sondern bis in die Zeit vor dem Bürgerkrieg zurückreicht, weiß man spätestens seit Büchern wie „Invisible Republic“, Greil Marcus’ faszinierendem Essay über „The Basement Tapes“, und Dylans eigener Autobiografie, genauer gesagt, deren ersten und bisher einzigen Band „Chronicles Volume One“. Für den aufmerksamen Hörer mindestens der letzten zwanzig Jahre ist es ohnehin offensichtlich; aber schon der junge Androgyn der Jahre 1965/66 trat häufig mit einem überdimensionalen Sternenbanner im Hintergrund auf. Ein Buch „Bob Dylan und Amerika“ zu nennen, ist darum auf den ersten Blick einfallslos, weil es zum einen das Offensichtliche betont, zum anderen einen so breiten Rahmen aufspannt, als wollte man es „Gott und die Welt“ oder „Düt und Dat“ nennen.

„Bob Dylan in America“, der originale Titel des Buches, trifft es schon eher. Die unscheinbare Präposition lässt, anders als die Konjunktion „und“, die beiden Größen nicht nebeneinander stehen, sondern setzt sie Beziehung zueinander, als würde Dylan seine Kunst nicht immer schon in seinem Geburtsland treiben, etwa im Sinne einer Entdeckungsreise. Auf den zweiten Blick ist „Bob Dylan und Amerika“ aber ebenfalls angemessen, denn Sean Wilentz’ Buch ist unter anderem ein Doppelporträt, das stets den einen seiner Gegenstände vornimmt, um den anderen besser beleuchten zu können. Dabei ist es ein Glücksfall, dass Wilentz, sonst Professor für amerikanische Geschichte an der Princeton University, Historiker und Fan zugleich ist. Denn dies ist keine linear erzählte Biografie und taugt nur bedingt für Leser, die sich dem Thema Dylan zum ersten Mal nähern wollen. Stattdessen bietet das Buch Studien zu Schlüsselmomenten und -songs in Dylans Karriere. Dabei konzentriert sich Wilentz nicht nur auf die frühen Jahre von 1962 bis zum Motorradunfall von 1966, in denen der Sänger vor Kreativität überschäumte und die gesamte Popkultur veränderte, sondern verfolgt seine Geschichte weiter bis ins Jahr 2009, zur inzwischen wieder eingestellten Radiosendung „Bob Dylan’s Theme Time Radio Hour“, zu den Alben „Together Through Life“ und „Christmas in the Heart“. Wilentz rekonstruiert die Aufnahmesessions für „Blonde on Blonde“, das letzte Rockalbum vor dem Unfall und dem nachfolgenden Rückzug. Er beschreibt die Rolling Thunder Revue der Jahre 1975/76, in der Dylan mit Elementen des Vaudeville-Theaters experimentierte und sich für den – wie er meinte – schuldlos wegen Mordes verurteilten Boxers Rubin „Hurricane“ Carter engagierte. Er untersucht die Quellen, auf die sich die Alben „As Good As I Been To You“ (1992) und „World Gone Wrong“ (1993) beziehen, die ganz aus gecoverten Folk- und Blues-Songs aus dem 19. und frühen bis mittleren 20. Jahrhundert bestehen, und mit denen der Sänger nach einer langen, größtenteils uninspirierten Durststrecke wieder zu einem kreativen Hoch zurückfindet, das – mit vergleichsweise geringen Qualitätsschwankungen – bis heute anhält.

In manchen Kapiteln ist es nicht einmal Dylan selbst oder doch nicht er allein, der im Mittelpunkt steht. Etwa, wenn Wilentz den linken Komponisten Aron Copland vorstellt, der für ihn mindestens einen ebenso wichtigen Einfluss auf den Künstler ausgeübt hat wie Guthrie, oder wenn er die produktive Freundschaft zwischen Dylan und dem Beat-Lyriker Allen Ginsberg genauer untersucht. Natürlich ist „Bob Dylan und Amerika“ das Buch eines Fans. Aber sein professioneller Blick verleiht den Ausführungen die notwendige Tiefe, die sie um eine kulturgeschichtliche Dimension anreichert. Die Verwurzelung des Sängers in der amerikanischen Geschichte wird hier nicht nur behauptet. Sie ist keine Mystifikation, sondern wird von Wilentz mit beeindruckender Kenntnis belegt; gerade wo die Argumentation sich seitenweise von ihrem biografischen Gegenstand fortbewegt, zeigt sie die Vielschichtigkeit der Songs. Am stärksten ist das Buch dann, wenn Fan und Historiker in eine Balance kommen, etwa wenn Wilentz’ sein erstes Dylan-Konzert beschreibt, 1964 in der New Yorker Philharmonic Hall – da hat der Sänger gerade begonnen, sich vom reinen Protestsong zu lösen. Oder in einem langen, beeindruckenden Kapitel zu „Blind Willie McTell“, einem leisen, eindringlichen Song, den er 1983 aufnahm und zum Ärger von Produzent und Plattenfirma erst Jahre später als Demo-Aufnahme herausbrachte. „No one can sing the blues like Blind Willie McTell“ – schon recht, aber wer war das eigentlich? Keine Kunstfigur, sondern ein ganz realer Bluessänger der 1920er- bis 50er-Jahre, der an Diabetes und Alkoholsucht starb, bevor das Bluesrevival der 60er-Jahre ihn wiederentdecken konnte. Unfreiwillig komisch wird es, wenn der Folk-Historiker Alan Lomax, als er McTell aufnehmen will, von ihm stereotype Songs über das Leid der Schwarzen einfordert, die dieser aber gar nicht spielen will. Selten ist in wenigen Sätzen so viel gesagt worden über eine weiße Sehnsucht nach der „Authentizität“ und „Ursprünglichkeit“ des Blues und dem Bedürfnis des Sängers nach einer Eigenständigkeit, die nicht auf wohlmeinende Herablassung und Zuschreibungen anderer angewiesen sein will.

Noch einmal: die Kapitel in Wilentz’ Buch erzählen keine zusammenhängende Geschichte. Vielmehr sind sie detailgesättigte Meditationen zu disparaten Themen, von denen aus sich trotzdem ein guter Teil von Dylans Œuvre erschließen lässt. Bernhard Schmids Übersetzung dieses lesenswerten Buches ist untadelig bis sehr gelungen, auch wenn sie auf vorherbare Schwierigkeiten stößt, etwa wenn es um das Übersetzen von Slang-Ausdrücken und Wortspielen geht. Regelrechte Patzer sind selten: „Field Recording“ wird zur „Feld-Aufnahmesession“, die den nicht vorgebildeten Leser an ein Tonbandgerät auf dem Acker denken lässt – aber wie soll man das angemessen ins Deutsche übertragen? „Dokumentaraufnahme“? „Erhebung empirisch-musikalischer Daten“? Auf jeden Fall ist der Reclam Verlag zu loben für dieses Buch, das vor allem unter den regelrechten Fans seine Leser finden wird und soll. Und wer will, kann ja das Original lesen, das 2010 bei Doubleday in New York erschienen ist.

Titelbild

Sean Wilentz: Bob Dylan und die Musik Amerikas.
Übersetzt aus dem Amerikanischen Englisch von Bernhard Schmid.
Reclam Verlag, Stuttgart 2012.
475 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783150108697

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