Von Nietzsche, der auszog, Wagner zu denken

Kerstin Decker bringt uns zwei Freund-Feinde näher

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit „Nietzsche und Wagner“ ist Kerstin Decker ein sonderbares Buch gelungen. Es ist gewagt, weil es romanhaft scheint, ohne ein Roman zu sein, und es scheint romanhaft, weil es sich tief in die beiden Hauptpersonen hineindenkt, von denen eine jedoch noch etwas hauptpersoniger ist als die andere. Denn im Grunde, das wird sehr schnell deutlich, geht es in dieser „Geschichte einer Hassliebe“ darum, wie Friedrich Nietzsche sich mit und an Richard Wagner abarbeitet. Man merkt das schon an Äußerlichkeiten: Nietzsche-Zitate erscheinen kursiv, alle übrigen, die Wagner’schen eingeschlossen, in Anführungszeichen.

Zugleich, auch das wird deutlich, lässt sich der Einfluss Wagners auf Nietzsche nicht ohne umfangreiche Darstellung des Musikdramatikers nachvollziehen. Und beiden kann man – zumindest sieht die Autorin das so – nur dann gerecht werden, wenn man sich ihnen von innen her nähert. Darum das Romanhafte, für das die Journalistin und Heine-, Andreas-Salomé- und Modersohn-Becker-Biografin Decker in Vor- und Nachwort entschuldigende Worte findet. Aber der Reihe nach.

Bei „Nietzsche und Wagner“ handelt es sich, laut Vorwort, um eine biografische „Studie“. Damit verbindet sich eigentlich der Anspruch einer distanziert-seriösen Schilderung historischer Fakten, die zu einem schlüssigen Ganzen zusammengezogen werden. Decker schlägt einen anderen Weg ein: „Die Verfasserin bekennt sich zu dem Wagnis, immer wieder vorsätzlich aus der Perspektive der hier Porträtierten gesprochen zu haben. Sie hat dafür auch eine Entschuldigung: die Wirklichkeit.“ Und diese Wirklichkeit lasse sich eben nicht mit bloßen Fakten und Daten schildern.

Stattdessen also ein nicht-fiktiver Blick ins Innenleben. Das klingt dann etwa so: „Mein Gott, er, Richard Wagner, komponiert Opern. Die besitzen nun mal einen Hang zum Monumentalen. Jede Tragödie von Anbeginn ist so organisiert – wer weiß das besser als dieser unmögliche Autor? Und braucht nicht auch das Kleine, das Mikroskopische erst den Kontrastgrund, vor dem es sich abheben kann?“ Passagen wie diese glücken der Autorin manchmal, manchmal nicht – dann klingen sie zu gewollt leger. Die stärksten Momente dieser „Studie“ sind aber ohnehin die Interpretationen der Werke Nietzsches. Zum Beispiel die Deutung des „Zarathustra“, dessen Schlüssel Decker in der Person Wagners findet: „Wer den ,Zarathustra‘ liest, als ob er für Richard Wagner geschrieben sei, für, nein gegen ihn, gegen den Schöpfer des ,Parsifal‘, versteht ihn augenblicklich.“

Spitzen (und Komplimente) gegen die Erlösungsidee, gegen das Publikum, gegen den Komponisten: Nietzsches Werk ist voll davon, es baut, seit der „Geburt der Tragödie“, darauf auf. Am Ende von Deckers Buch ist man um die Erkenntnis – oder eher: das Gefühl – reicher, dass sich Nietzsches Denken ohne Wagner vielleicht nie derart entwickelt hätte. Und dass Wagner ohne Nietzsche vielleicht etwas wehleidiger gewesen wäre, aber trotzdem seine Opern geschrieben hätte.

Auf jeden Fall erlebt man beide wie unter einem Brennglas. Neben ihnen treten nur Cosima Wagner und Ludwig II. gelegentlich hervor, alle anderen bleiben Nebenfiguren, deren Auf- und Abtritt mitunter einfach unterschlagen wird. Das könnte man Deckers Buch vorwerfen: Der Gang der Erzählung rauscht an vielen Punkten vorbei, die interessant und lohnenswert gewesen wären, an einer Interpretation der Wagner’schen Schriften zum Beispiel. Oder an Nietzsches Verhältnis zu Lou Salomé, das nur andeutungsweise gestreift, aber als wichtig für sein Werk eingestuft wird. Ein Werk, das dann aber doch nur an Wagner ausgerichtet ist. Einseitigkeit, aber interessante Einseitigkeit.

Der Versuch, die Wirklichkeit der „Hassliebe“ (ein Wort, das viel zu kurz greift) von Friedrich Nietzsche und Richard Wagner aus einer konstruierten, „romanhaften“ Innerlichkeit heraus zu erfassen, führt zwangsläufig zu einer innerlichen Erkenntnis beim Leser. Schlägt man dieses einerseits sehr lesenswerte, andererseits recht kurzsichtige Buch am Ende zu, ahnt man eher Neues über Nietzsche und Wagner, als dass man es weiß. Das ist schön, weil es beide näherbringt (und sollte eine Biografie nicht auch gerade das leisten?), und schade, weil es sie in der Form näherbringt, in der sie der Autorin erscheinen, ohne dem Leser Raum für ein eigenes Urteil zu lassen. Wirklicher, könnte man sagen, wird hier schlussendlich niemand, nur vertrauter.

Titelbild

Kerstin Decker: Nietzsche und Wagner. Geschichte einer Hassliebe.
Propyläen Verlag, Berlin 2012.
412 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783549074244

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