Nibelungenrezeption um 1900

Ein Reprint der Jugendstil-Ausgabe von Joseph Sattler mit einer Einführung von Joachim Heinzle

Von Florian SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Schmid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei dieser Ausgabe des „Nibelungenlieds“ handelt es sich um einen verkleinerten und auszugsweisen Reprint einer Jugendstil-Prachtausgabe (Berlin 1898-1904), die von dem Maler und Graphiker Josef (Joseph) Kaspar Sattler (1867-1931) gestaltet wurde. Sie bietet Wiederabdrucke derjenigen Seiten, auf denen die einzelnen Aventiuren des „Nibelungenliedes“ beginnen, sowie 14 vollseitige Illustrationen. Hinzu kommen Übertragungen des mittelhochdeutschen Textes in das Neuhochdeutsche, Nacherzählungen der einzelnen Aventiuren sowie ein Nachwort von Joachim Heinzle.

Die Ausgabe ist klar gegliedert, wobei jeweils zwei Doppelseiten eine Einheit bilden: Die erste Doppelseite bietet jeweils rechtsseitig den Abdruck des Aventiurebeginns und linksseitig die neuhochdeutsche Übertragung. Der pergamentfarbene Hintergrund kennzeichnet die Ebene der Prachtausgabe bzw. die des Primärtextes. Die folgende Doppelseite beinhaltet eine Nacherzählung der jeweils ganzen Aventiure bzw. rechtsseitig die Nacherzählung und linksseitig ein Vollbild, sofern auch die Prachtausgabe in dieser Aventiure eine derartige Illustration aufwies. Die Nacherzählungen wie auch das Nachwort sind farblich durch einen blauen Hintergrund und eine kleinere Schriftgröße abgesetzt. Auch haptisch unterscheiden sich beide Doppelseiten: griffig ist das „Pergament“, glatt die Nacherzählung und das Nachwort. In materialer Hinsicht ist die Ausgabe ansprechend gestaltet. Die Größe (22 x 29 cm) ist zugleich handlich als auch repräsentativ und lässt die Monumentalität der Prachtausgabe erahnen.

Die Bedeutung der Ausgabe erschließt sich wegen der Ausschnitthaftigkeit erst durch das Nachwort: Zum einen werden durch diese Ausgabe die wesentlichen Gestaltungselemente der Prachtausgabe für eine breite Öffentlichkeit verfügbar. Zum anderen schlüsselt sie die Facetten von Sattlers Zeichenwelt auf.

Nach der Monumentalausgabe (1840/41) der Leipziger Verleger Otto und Georg Wiegand beauftragte die Reichsdruckerei im Jahr 1898 Sattler mit der Gestaltung einer neuen Prachtausgabe, mittels derer die Leistungsfähigkeit der deutschen Buchkunst unter Beweis gestellt werden sollte. Auf der Pariser Weltausstellung im Jahr 1900 wurden zunächst Probeseiten, auf der Weltausstellung in St. Louis (1904) wurde schließlich die vollständige Ausgabe der Öffentlichkeit präsentiert. Diese Ausgabe war monumental angelegt (38 x 54,5 cm), mit neu entworfenen Wasserzeichen versehen, in eigens entwickelter Schrifttype räumlich großzügig gedruckt, beinhaltete ein Vorsatzblatt und weitere 14 farbige Vollbilder, die die Handlung illustrieren, einen reichen und vielgestaltigen Buchschmuck mit „über 90 Schmuckelemente[n] – Titelleisten, Vignetten, Zierstücke aller Art – und 600 Initialen mit teils ornamentaler, teils figürlicher Ausgestaltung“ und auf 194 Exemplare limitiert (davon wurden vier auf Pergament, 30 auf Japanpapier und die übrigen auf handgeschöpftem Büttenpapier gedruckt).

Die Leistung des Nachwortes ist es, auf relativ knappem Raum und mit ausgewiesener Expertise in alle zentralen Aspekte der Prachtausgabe und ihrem historischen Kontext einzuführen und dadurch ihre Relevanz zu vergegenwärtigen.

Heinzle verortet und historisiert die Forschungsdiskussion um 1900, die durch Lachmanns Liedertheorie zur Entstehung des „Nibelungenliedes“ geprägt war, und stellt die Besonderheiten der Prachtausgabe in einem Vergleich mit der Einrichtung der Lachmannschen Edition (5. Aufl., 1878) der Handschrift A (Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 34) und mit anderen, pseudo-historischen Illustrations-Traditionen (Kupferstiche von Peter Cornelius (1817/21) mit Vorbildern im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit respektive Kostümzeichnungen von Carl Emil Doepler zu Wageners Zyklus „Der Ring der Nibelungen“ mit Vorbildern aus der Germanenzeit) heraus. Des Weiteren führt er in die Zeichenwelt Sattlers ein und schlüsselt an einzelnen Beispielen Text-Bild-Relationen auf, indem er etwa auf die grafische Umsetzung von Vorausdeutungen hinweist, die eines der auffälligsten Stilmittel des „Nibelungenlieds“ sind. Auf diese Weise stellt Heinzle die Eigenheiten der Gestaltung heraus, die nicht historisierend, sondern ornamental wirken möchte: „Fläche statt Tiefe, dekorative Ornamentik, Kult des kostbar Erlesenen“. Mit diesen typischen Elementen der Kunst der Jahrhundertwende um 1900 erkennt er auch für die Prachtausgabe Sattlers das Hauptanliegen der Grafik des Jugendstils, die Grenze zwischen Bild und Ornament zu überspielen.

Diese Überlegungen sind eingebettet in allgemeine Informationen zum „Nibelungenlied“ (Entstehungszeit, Inhalt, Auftraggeber, Stoff, Verbreitung, Überlieferung, Wiederentdeckung in der Mitte des 18. Jahrhunderts, Mythosbildung), zu Anstößen für die Entstehung der Prachtausgabe (das „Nibelungenlied“ als vermeintliches „Nationalepos“; lokalpatriotische Ambitionen des Förderers Cornelius Wilhelm Freiherr von Heyl (1843-1923) für die Wormser Region) sowie zur zeitgenössischen Rezeption der Sattler’schen Ausgabe. Diese gilt zwar als einschneidender Meilenstein, konnte aber keine neue Nibelungen-Ikonografie begründen.

Das Nachwort ist insofern umfassend, als es alle wichtigen Aspekte herausstellt. Es führt präzise und klug auswählend ein und ist mit 47 Anmerkungen und einem Literaturverzeichnis mit 24 Titeln zur Handschrift A und Rezeption des „Nibelungenliedes“ sowie zu Sattlers Illustrationen übersichtlich gehalten. Die Lektüre des Nachwortes regt zu einer vertieften Auseinandersetzung mit den Auszügen der Prachtausgabe an. Gleichwohl ist die Ausgabe mit der Konzentration auf das Wesentliche nicht immer befriedigend: So lenkt sie die eigene Rezeption relativ stark, und man wünscht sich, die gesamte Prachtausgabe vor Augen zu haben, um etwa Sattlers Zeichenwelt hinsichtlich der Gesamteinrichtung der Ausgabe wahrnehmen und beurteilen zu können. Dafür, dass die Illustrationen im Vordergrund stehen sollen, nehmen auch die Zusammenfassungen der Aventiuren relativ viel Raum ein. Gleichwohl dokumentiert diese Ausgabe ein herausragendes Werk der Buchillustration und macht ein bibliophiles Kleinod des Jugendstils einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Darüber hinaus ordnet sie die Prachtausgabe überzeugend in die Rezeptionsforschung zum „Nibelungenlied“ und -stoff ein.

Titelbild

Joachim Heinzle (Hg.): Die Nibelunge. Nach der Originalausgabe Berlin, 1898–1904.
Illustriert von Joseph Sattler. Herausgegeben, in Teilen neu übersetzt und kommentiert von Joachim Heinzle.
Primus Verlag, Darmstadt 2012.
176 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783826230363

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